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Arbeitsplätze, Kindergärten und Elchjagden. Damit lockt Schweden deutsche Akademiker ins Land. Von den zwiespältigen Erfahrungen der Auswanderer berichtet bernd parusel

Sundborn ist ein malerisches Örtchen, Schweden wie im Bilderbuch. Es hat rot gestrichene Holzhäuser mit weißen Fensterrahmen, ein Flüsschen, das mitten durchs Dorf fließt, einen kleinen Laden mit Postschalter und eine Tankstelle, an der man auch sein Auto reparieren lassen kann. In einem Haus am See hat einst der Maler Carl Larsson gewohnt, der über Schweden hinaus für seine Kinder- und Familienbilder mit Sund­borner Motiven bekannt ist. Wären da nicht ein tiefgrauer Himmel und die frühe Dunkelheit der Wintermonate – die Sache wäre perfekt.

Syster und Matthias Hofmeier haben sich hier ein neues Leben aufgebaut. Vor rund vier Jahren zog das Medizinerpaar von Berlin nach Mittelschweden. Heute haben sie feste Jobs, ein Eigenheim mit großem Garten, zwei kleine Kinder und zwei Autos. Direkt hinter dem Haus gibt es im Winter eine Langlaufloipe, und im Sommer ist ein Badesee nur ein paar Minuten entfernt.

Die beiden bereuen es nicht, dass sie ausgewandert sind. An einem Winterabend sitzen sie in ihrem Wohnzimmer auf der Couch, auf dem Boden ist Kinderspielzeug verteilt, und draußen ist es seit Stunden stockdunkel. Die beiden sind müde, weil die Kinder gerade kränklich sind und in der vorigen Nacht wenig geschlafen haben. Im Alltag vergesse man das manchmal, aber »unsere Erwartungen an Schweden haben sich erfüllt«, sagt Matthias. Syster hat 2002 in Berlin ihr drittes Staatsexamen in Medizin gemacht. Danach wollte sie aus Deutschland weg. »Ich wollte was anderes sehen und vor allem nicht in einem deutschen Krankenhaus arbeiten«, berichtet sie. Sie hoffte auf einen angenehmeren Arbeitsplatz, auf kollegiale Zusammenarbeit. Von Schweden hatte sie viel Gutes gehört, und sie kannte das Land ein bisschen, weil ihre Familie ein Ferienhaus in der Region Värmland hat.

Sie bewarb sich auf ein Stellenangebot der Regionalverwaltung Dalarna und bekam umgehend ein Angebot. Zunächst zog sie in die Industriestadt Borlänge und lernte dort auf Kosten ihres künftigen Arbeitgebers Schwedisch. Danach arbeitete sie ein halbes Jahr im Krankenhaus von Ludvika, einer etwas düsteren, von dichtem Nadelwald umgebenen Kleinstadt mit 25 000 Einwohnern.

Ein knappes Jahr später kam Matthias nach, und nachdem auch er einen Intensiv-Sprachkurs absolviert hatte, zog das Paar nach Mora, einem noch kleineren Städtchen, noch tiefer im Wald, ebenfalls in der Provinz Dalarna. Auch Matthias hatte dort inzwischen eine Stelle bekommen, und die beiden nahmen sich eine gemeinsame Wohnung. Im Januar 2004 kam das erste Kind: Josefine, die mitt­lerweile schwedische Kinderlieder singt und sowohl »danke« als auch »tack«, »tschüß« oder auch »hejdå« sagt. Weil ihnen Mora auf die Dauer zu klein war, zog die Familie nochmal um, dieses Mal nach Sundborn. Hier, ein paar Minuten von Dalarnas »Hauptstadt« Falun entfernt, wollen Syster und Matthias nun »fünf bis sechs Jahre« bleiben.

Ohne Ärzte wie sie, die aus anderen europäischen Ländern einwandern, wäre das schwedische Gesundheitswesen längst kollabiert. Schweden hat einen chronischen Ärztemangel, doch obwohl das schon lange bekannt ist, gibt es für schwedische Gymnasiasten, die gerne Mediziner werden wollen, noch immer nicht genug Studienplätze. Einen immer größeren Anteil ihres Personals rekrutieren die Krankenhäuser zwischen Lund oder Malmö im Süden bis hinauf nach Luleå oder Kiruna im äußersten Norden deshalb aus Polen und Deutschland, Holland, Griechenland oder Spanien. Deutsche gelten vielen Schweden zwar als unfreundlich, ordnungswütig und arrogant, stehen bei Personalchefs aber ganz oben auf der Wunschliste.

»Denen, die bisher gekommen sind, ist es leicht gefallen, unsere Sprache zu lernen und sich anzupassen«, sagte ein Personalbeauftragter der Gesundheitsverwaltung der Region Dalarna, bei der auch auch Syster und Mat­thias Hofmeier angestellt sind, kürzlich der Lokalzeitung Dala Demokraten. Weil Deutschland ein EU-Land ist, brauchen deutsche Ärzte keine Arbeitserlaubnis, und während viele Migranten aus Nicht-EU-Ländern, vor allem Flüchtlinge und Asylbewerber, große Probleme haben, Bildungsabschlüsse und berufliche Qualifikationen anerkannt zu bekommen, ist ein medizinisches Staatsexamen aus der Bundesrepublik schwedischen Studienabschlüssen gleichgestellt, die offizielle Anerkennung eine bloße Formsache.

Die Stockholmer Migrationspolitik unterscheidet heute klar zwischen erwünschten und unerwünschten, nützlichen und unnützen Migranten. Schweden gehörte in den frühen neunziger Jahren zu den Ländern in Europa, die gemessen an ihrer Einwohnerzahl die meis­ten Asylsuchenden und Flüchtlinge aufnahmen. Heute sind die Grenzen weitgehend dicht, die Aufnahme- und Anerkennungsquoten sinken, und viele Städte und Gemeinden weigern sich, Flüchtlingen Sozialwohnungen zur Verfügung zu stellen und Sprachkurse anzubieten.

Gegenüber Deutschen und anderen EU-Bürgern, insbesondere wenn sie die gewünschte Qualifikation vorzuweisen haben, zeigt man sich jedoch als offene Einwanderungsgesellschaft. Zum einen lassen die EU-Verträge keine Begrenzungen zu, zum anderen gibt es zu ausländischen Ärzten und Krankenschwestern keine Alternative. Die Regionalverwaltung Dalarna, die rund 275 000 Einwohner medizinisch versorgen muss, hat gegenwärtig 40 bis 50 freie Stellen allein für Allgemeinmediziner zu besetzen. Sie sollen in den lokalen Gesundheitszentren arbeiten, öffentlich-rechtlichen Gemeinschaftspraxen, die über die dünn besiedelte Region verteilt sind.

In einem solchen Gesundheitszentrum in Falun, auf Schwedisch »Vårdcentral« genannt, arbeitet Matthias. Zudem macht er manchmal Wochenenddienste im Krankenhaus. Syster ist unterdessen dabei, Fachärztin für Pathologie zu werden. Als »Dauerauswanderer« betrachten sich die beiden zwar nicht, denn sie haben immer noch vor, irgend­wann nach Deutsch­land zurückzukehren.

Inzwischen ist aus dem Auslands­auf­enthalt jedoch eine Art permanentes Provisorium geworden. Diesen Sommer bekamen sie ihr zweites Kind, und Syster und Matthias finden es »toll«, dass der Nachwuchs in Schweden groß wird, nahe an der Natur. Die nordische Familienpolitik und die vielen Kindergärten und Krippen haben die Familiengründung erleichtert. Syster hat derzeit Elternurlaub und bekommt währenddessen 80 Prozent ihres Gehalts.

Auch die Hoffnung auf bessere Arbeitsbedingungen hat sich erfüllt. »Es gibt weniger Hierarchien im Krankenhaus und keinen Chef, vor dem alle zittern«, sagt Matthias. Sein Verdienst sei zwar nicht besser als in Deutschland, dafür sei aber die Arbeitsbelastung geringer, man könne immer Kollegen um Rat fragen, und die Ausbildung zum Facharzt in Allgemeinmedizin sei auch gut.

Syster findet es vor allem praktisch, dass sie nach dem Mutterschaftsurlaub die Möglichkeit hat, in Teilzeit zu arbeiten. »Wenn ich sage, ich will nur 20 Prozent arbeiten, dann ist das okay. Ich kann auch 30 sagen, oder 50. Das spielt keine Rolle.« Dalarna braucht jeden Arzt, und einer, der 20 Prozent arbeitet, ist besser als gar keiner. Qualifizierte Frauen werden in Schweden auch dann ganz selbstverständlich eingestellt, wenn sie offen sagen, dass sie Kinder bekommen wollen. Das gilt nicht nur im Gesundheitswesen.

Trotz solcher Vorteile fällt es den Schweden aber nicht immer leicht, Personal aus Deutschland anzulocken und längerfristig zu halten. Südschwedische Krankenhäuser sind zwar relativ attraktiv, weil sie für Deutsche nahe an der Heimat liegen. Anders ist es aber mit Mittel- und Nordschweden. Sundborn ist drei Autostunden vom nächsten internationalen Flughafen, Stockholm-Arlanda, entfernt. Will man mit dem Auto nach Deutschland, fährt man mindestens fünf Stunden nach Göteborg und nimmt dort die Nachtfähre nach Kiel, oder acht bis zehn Stunden nach Trelleborg, wo man sich nach Rostock oder Sassnitz einschiffen kann. In Dalarna zu arbeiten, um am Wochenende zur Familie in die Bundesrepublik zu fahren, ist nicht drin.

Als junge Mediziner in der Bundesrepublik im vergangenen Jahr für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße gingen, wedelten einige von ihnen mit schwedischen, norwegischen oder britischen Fahnen. Sie wollten damit demonstrieren, dass sie das Land verlassen könnten, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt würden.

Das machte einerseits Eindruck. »Andererseits ist es aber so, dass sich nur ganz wenige trauen, den Schritt ins Ausland tatsächlich zu gehen«, meint Matthias. Als seine frühere Arbeitsstelle, das Krankenhaus in Mora, im vorigen Frühjahr deutsche Ärzte suchte, kamen zwar 100 Bewerbungen. Nur zehn Deutsche kamen dann jedoch, um sich die Stadt und das Krankenhaus anzusehen. Geblieben ist schließlich nur ein einziger.

Nur zum Teil erfolgreich war auch die große Rekrutierungsrunde der Regionalverwaltung im Jahr 2002. Damals schaffte es Dalarna, 14 Ärzte und Krankenschwestern nach Falun, Mora, Ludvika und Borlänge zu locken. Nur rund die Hälfte von ihnen ist indes heute noch da, der Rest ist wieder in Deutschland. Schweden ist nicht jedermanns Geschmack. Vor allem die sind wieder weggezogen, die allein gekommen waren. Vielen fiel es schwer, über die Arbeit hinaus soziale Kontakte herzustellen und Freunde zu finden. »Auch nach vier Jahren haben wir noch keine schwedischen Freunde«, geben Syster und Matthias zu.

Auch für Silvia Saba, eine Lehrerin aus Norditalien, war es nicht leicht, in Falun Freundschaften zu schließen. »Mit Schweden, die selber mal im Ausland waren, funktioniert es«, erzählt Silvia, die an einem Faluner Privatgymnasium unterrichtet. »Die anderen sind aber oft wenig aufgeschlossen. Man weiß nicht, worüber man reden soll.« Silvia kam vor fünf Jahren als Studentin nach Falun. Als sie von ihrer Universität die Möglichkeit bekam, ein Jahr an einer ausländischen Partneruniversität zu studieren, wollte sie eigentlich nach Berlin. Dort waren aber schon alle Plätze vergeben. Stattdessen kam sie nach Falun, wo es eine kleine Hochschule gibt, in der vor allem Pädagogik, Sprachen und Gesundheitsberufe gelehrt werden.

»Es war kalt hier, aber Falun ist eine nette kleine Stadt«, sagt sie. Als sie merkte, dass das Studium in Schweden leichter und weniger verschult war als in Italien, entschied sie sich zu bleiben. Noch bevor sie ihr Examen hatte, bekam sie dann eine Stelle als Gymnasiallehrerin für Italienisch und Spanisch. Inzwischen verdient sie mehr, als es in Italien der Fall wäre. Außerdem sei Schwe­den ein »stabiles Land« mit wenig Kriminalität, die Gleichstellung zwischen Mann und Frau sei besser als in Italien, und man fühle sich behütet. Manchmal erscheint ihr das neue Land mit seinem sozialen Sicherheitsnetz und seinem großen staatlichen Sektor »wie Italien in den achtziger Jahren«.

Der Kapitalismus habe noch nicht so durchgeschlagen wie anderswo. Während Gleichaltrige in Italien oft noch bei den Eltern wohnen, steht Silvia in Schweden auf eigenen Beinen. Noch überzeugter wäre sie von ihrer neuen Heimat, wäre da nicht der lange und kalte Winter und die Schwierigkeit, mit den Falunern warm zu werden. Im Gegensatz zur Lebendigkeit, die sie aus ihrer Heimat kennt, erscheinen ihr viele Schweden wie »Roboter, mit denen man keinen Spaß haben kann«. Silvia trifft sich deshalb viel mit anderen Ausländern. Immerhin hat sie aber einen festen Freund, und der ist Schwede.

Syster Hofmeier hat sich kürzlich einem Kirchenchor angeschlossen. »Vielleicht muss man sich ein Hobby suchen und darüber soziale Kontakte aufbauen«, hofft sie. Die schwedische Mentalität macht ihr dabei manchmal zu schaffen. »Man muss immer vorsichtig herangehen, nicht zu forsch«, hat sie bemerkt. Aber für sie, die sich als »extrovertiert« sieht, sei es anstrengend, nicht aufzufallen. Auch wenn sie sich Mühe gebe, werde sie in Sundborn immer noch als »Kuriosum« wahrgenommen. »Ich fühle mich, als käme ich von einem anderen Kontinent.« Manchen schwedischen Gepflogenheiten, etwa den Rasen im Sommer zweimal wöchentlich zu mähen, will sie sich nicht fügen.

Kyra und Roman Stelmach, einem jungen Ärztepaar aus Hamburg, ist dagegen keine Zeit geblieben, schwedische Freundschaften wirklich zu erproben. Beide gehörten zu der Gruppe von 14 deutschen Medizinern und Krankenschwestern, die 2002 angeworben wurde und im Januar 2003 nach Dalarna kam. Kyra und Roman leben heute wieder in Hamburg. Wie Roman am Telefon erzählt, war es aber nicht ein Mangel an Kontakten, der den Ausschlag gab, sondern Unzufriedenheit mit der Arbeit im Krankenhaus.

Als er mit Kyra nach Schweden ging, hatte er weniger Stress und bessere Stimmung erwartet. Was das Ärztepaar dann erlebte, war jedoch zu viel des Guten. Kyra klagte über Langeweile im Krankenhaus und fühlte sich unterfordert. Roman bemerkte, dass die Arbeitsweise anders war als in Deutschland, und er befürchtete, dass er Schwierigkeiten bekommen würde, wenn er sich an das schwedische System gewöhne, irgendwann aber wieder nach Hamburg zurückkehren würde. Also brachen sie das Experiment ab.

Heute, sagt Roman, bereuen sie manch­mal den Rückzug. Inzwischen haben auch sie Kinder, und sie überlegen, wie es wäre, sie in Schweden großzuziehen, in einem Häuschen im Grünen, anstatt in einer Hamburger Mietwohnung. Anderen Deutschen würden sie empfehlen, Schweden auszuprobieren. »Das war schon eine Super­erfah­rung«, sagt Roman. »Wir haben eine neue Sprache gelernt und unseren Horizont erweitert. Vielleicht hatten wir aber auch ein bisschen Heimweh.«

Zeit für Grübeleien hat man in Mittelschweden ausreichend. Wer nicht gerne Ski oder Schlittschuh fährt, weiß vor allem im Winter nicht recht, womit er seine freie Zeit verbringen soll. Ein Kino gibt es in Falun, ein Theater und ein paar Cafés und Restaurants, die jedoch früh schließen, weil unter der Woche sowieso kaum jemand kommt. In Mora oder Ludvika ist noch weniger los. Man sitzt stattdessen viel zu Hause, sieht fern oder leiht sich DVDs, oder man liest.

Der einsame Lebensstil ist jedoch nicht jedermanns Sache. Ein Arzt aus Griechenland, der voriges Jahr nach Falun kam, erklärt, seine einzigen Freizeitvergnügen nach Feierabend seien der Fernseher und eine Flasche Wein. Nach wenigen Monaten kündigte er und zog in eine andere Stadt, weiter südlich. Silvia Saba versteht das. Schweden sei ein gutes Land zum Arbeiten, meint sie. »Wenn man aber Gefühle, Lebensfreude und Humor sucht, sollte man nicht ausgerechnet hierher kommen.«

Immer wieder gibt es aber ein paar Deutsche, denen das nichts auszumachen scheint. Sie fasziniert der Wechsel der Jahreszeiten, die Natur und die Einsamkeit. Nicht umsonst warb die Radiologieabteilung des Faluner Krankenhauses auf einer Jobmesse für Mediziner im November in Hamburg mit den niedrigen Grundstückspreisen in Dalarna, mit der Möglichkeit, sich ein Pferd oder gleich einen ganzen Reiterhof anzuschaffen, Pilze und Beeren zu sammeln oder auf Elchjagd zu gehen. Dalarna hofft auf Deutsche, die der Großstadt entfliehen, ihren Lebensstil ändern und »zurück zur Natur« wollen.

Wer das gern versuchen möchte, wird wohl noch eine Weile die Chance dazu haben. Die Ausbildung eines Arztes kostet den schwedischen Staat durchschnittlich rund 160 000 Euro. Lediglich zehn Prozent dieser Summe muss für den Import eines Arztes aufgewendet werden. Die Anzeigen im Ärzteblatt und die Jobmessen dürften so schnell nicht verschwinden.