Heilig Blut

Ein Auszug aus dem gleichnamigen, in Deutschland bisher unveröffentlichten Roman von Gisela Elsner

Schon während der Fahrt nach Heilig Blut hatten drei Hubschrauber, die dicht über dem Wald in Richtung Zwiesel geflogen waren, die Herren darauf hingewiesen, dass in der Gegend offensichtlich irgendetwas vorgefallen war. Als sie den Marktplatz von Heilig Blut erreicht hatten, hatten sie festgestellt, dass sich dort eine erregte Menschenmenge versammelt hatte. Außer zahlreichen Bauern und Landpolizisten sowie einem Trupp kräftiger, junger Männer, die die Uniformen des Grenzschutzes trugen, hatten sich zwei Fernsehteams, mehrere Pressefotografen und ein Dutzend Rundfunk- und Fernsehreporter eingefunden.

Einer der Reporter hatte den Herren berichtet, dass aus einem Freigehege in der Nähe von Zwiesel, das wissenschaftlichen Zwecken diente, dank der Nachlässigkeit eines Verhaltensforschers, der das Gattertor offengelassen hatte, in den frühen Morgenstunden zwölf Wölfe ausgebrochen waren. Am späten Vormittag war einer der Wölfe auf der Hauptstraße von Heilig Blut aufgetaucht und hatte einen zehnjährigen Bauernjungen, der gerade aus der Schule gekommen war, angesprungen und zu Boden geworfen. Er hätte ihn vermutlich auch zerfleischt, wenn ihn nicht der Drogist des Orts, ein gewisser Erwin Krenz, mit einem Besenstiel verscheucht hätte.

Jetzt wurde der letztere, ein rothaariger, kleiner Mann, der so schmächtig war, dass man ihm eine dermaßen beherzte Tat gar nicht zugetraut hätte, von dem einen Fernsehteam gefilmt und interviewt. Er hatte sich eigens einen dunklen Anzug angezogen, der in keiner Weise zu dem Strohbesen in seinen Händen passte, mit dem er vor der Kamera demonstrierte, wie er auf den Wolf losgegangen war. Das zweite Fernsehteam filmte und interviewte währenddessen den Bauernjungen, der einen dicken Verband um den Kopf trug, weil er sich beim Sturz auf die Straße eine Platzwunde zugezogen hatte. Er schien noch unter der Wirkung des Schocks zu stehen, in den ihn das Auftauchen des Wolfs versetzt hatte. Denn er starrte, offensichtlich außerstande, die simplen Fragen des Fernsehreporters zu beantworten, mit angstgeweiteten Augen in die Kamera und lief schließlich weinend zu seinen Eltern, die das Treiben der Fernsehleute mit überaus argwöhnischen Blicken verfolgten.

Dumm wie Bohnenstroh, meinte Hächler, ehe er mit Lüßl und dem jungen Gösch auf einen der Landpolizisten zuging und sich bei ihm erkundigte, ob man schon etwas unternommen habe, um die Wölfe aufzuspüren.

Zwei Einheiten des Grenzschutzes sind bereits dabei, die umliegenden Wälder systematisch zu durchkämmen, meinte der Polizist.

Die Wälder sind doch viel zu ausgedehnt, als dass sie zwei Einheiten des Grenzschutzes systematisch durchkämmen könnten, erwiderte Hächler.

Mehr Leute sind nun einmal nicht verfügbar gewesen, antwortete der Polizist mit einem Achselzucken.

Hat man schon herausgefunden, in welche Richtung die Wölfe gelaufen sind, fragte Lüßl.

Sechs Wölfe haben sich in südwestlicher Richtung auf den Deuschelberg, die Pfranzgruber Höhe und den Hohen Zant zu bewegt, entgegnete der Polizist. Fünf Wölfe haben sich in südöstlicher Richtung auf den Beselberg, den Knogelberg und den Zitzelberg zu bewegt.

Nur von dem Wolf, der in Heilig Blut aufgetaucht ist, hat man merkwürdigerweise jede Spur verloren, fügte er hinzu und er hob den Kopf und schaute stirnrunzelnd zum dichtbewölkten Himmel, von dem in diesem Augenblick dicke Regentropfen herabfielen.

Der Regen wird die Spuren der Wölfe verwischen, meinte Lüßl, indem er sich die Kapuze seines gefütterten, ockerfarbenen Anoraks über den Kopf zog.

Der Polizist nickte.

Das Wetter macht uns tatsächlich heute einen Strich durch die Rechnung, meinte er, und er war schon im Begriff, den Herren den Rücken zuzukehren, als ihn Hächler am Arm festhielt.

Sind Sie sich darüber im Klaren, dass sowohl die Bewohner von Hatzhofen und Hundshaupten als auch die Bewohner von Deuerling, Göging und Undorf unmittelbar gefährdet sind, wenn die Wölfe ihre Richtung beibehalten, erkundigte er sich.

Sie sind mittlerweile alarmiert worden, erwiderte der Polizist.

In der ganzen Gegend finden Bittgottesdienste statt, fügte er hinzu, ehe er eilig auf seine Kollegen zuging, die sich gerade auf ihre Motorräder schwangen.

Mit Bittgottesdiensten wird man den Wölfen nicht beikommen können, rief Hächler hinter ihm her, ohne die feindseligen Blicke zu beachten, die ihm die Bauern ringsum zuwarfen.

Aber der Polizist drehte nicht einmal den Kopf in seine Richtung.

Bittgottesdienste, wiederholte Hächler mit einem kurzen, kehligen Auflachen, während er sich mit Lüßl und dem jungen Gösch auf den Weg zum Glaser machte.

Sie fanden ihn in seinem Devotionalienladen umgeben von gerahmten Bibelsprüchen, Lachreiz erregend kitschigen Heiligenbildern, bunt bemalten Madonnenstatuen aus Gips, Kruzifixen aus Plastik sowie Rosenkränzen, Weihwasserbecken und Seidentüchern, auf die das schmerzverzerrte, blutbesudelte Gesicht des Gekreuzigten mit der Dornenkrone gedruckt war. Trotz der Bigotterie der Dorfbewohner schien er mit dem Schund, den er feilbot, keine guten Geschäfte zu machen. Denn er geriet geradezu aus dem Häuschen, als ihm die Herren den Auftrag erteilten, in ihrer Jagdhütte zwei Fensterscheiben einzusetzen. Unverzüglich schloss er den Devotionalienladen und schnitt darauf in seiner Werkstatt nach den Maßen, die ihm Lüßl angegeben hatte, zwei Glasscheiben zu, ehe er sie in seinem kleinen Lieferwagen verstaute und zur Jagdhütte fuhr.

Offensichtlich hat er nichts zum Nagen und zum Beißen, meinte Hächler, nachdem er wieder ins Freie getreten war.

Wenn wir mit ihm gefeilscht hätten, hätte er zweifellos den Preis ganz gehörig gesenkt, um den Auftrag zu bekommen, erwiderte Lüßl.

Meines Wissens muss er eine kranke Frau und fünf Kinder ernähren, sagte Hächler.

Trotzdem hätten wir mit ihm feilschen sollen, entgegnete Lüßl, von dem der alte Gösch dem jungen Gösch gegenüber behauptet hatte, der Vierteljude in ihm hindere ihn daran, den Sinn der christlichen Nächstenliebe zu begreifen, und er warf einen verächtlichen Blick auf das kümmerlich kleine Schaufenster des Devotionalienladens, ehe er mit Hächler und dem jungen Gösch erneut den Marktplatz überquerte, auf dem noch immer die Bauern, die beiden Fernsehteams, die Pressefotografen und die Rundfunk- und Zeitungsreporter standen, die jetzt den beherzten Drogisten umringten, dessen dunkler Anzug mittlerweile so durchnässt war, dass er an seinem schmächtigen Körper klebte. Nur die Landpolizisten waren inzwischen auf ihren Motorrädern weggefahren.

Auch der verstörte Bauernjunge, den der Wolf angesprungen und umgeworfen hatte, war verschwunden. Die kräftigen jungen Männer vom Grenzschutz, die inzwischen eine Zweierreihe gebildet hatten, trafen Anstalten, das Zentrum von Heilig Blut zu verlassen, dessen Trostlosigkeit die Kameramänner der beiden Fernsehteams nicht davon abhielt, es aus allen erdenklichen Blickwinkeln mit den finster dreinblickenden Bauern und Bäuerinnen zu filmen, die aus ihrer Feindseligkeit kein Hehl machten.

*

Lüßl und Hächler, die offensichtlich gänzlich vergessen hatten, dass sie dem jungen Gösch die Madonnenstatue zeigen wollten, deren Kopf einer Legende zufolge, nachdem er durch den Axthieb eines Hussiten gespalten worden war, geblutet haben sollte, waren gerade dabei, in den Kombiwagen zu steigen, den sie vor der renovierten Dorfkirche geparkt hatten, als der Pfarrer des Ortes, ein untersetzter, überaus beleibter Mann, dessen Körper quadratische Umrisse anzunehmen drohte, aus der Kirche trat. Ohne sich im Geringsten über ihren Anblick überrascht zu zeigen, tat er ein paar Schritte auf sie zu und begrüßte sie mit einer krächzenden Stimme, die auf ein Kehlkopfleiden hinwies.

Was sagen Sie dazu, dass zwölf Wölfe diese Gegend unsicher machen, erkundigte er sich, hauptsächlich Hächler zugewendet, der nicht recht zu wissen schien, in welcher Form er dem Hass und der Verachtung, die er gegen Priester hegte, am wirkungsvollsten Ausdruck verleihen sollte. Er musterte Pfarrer Mögeldorfer, der in seinem eleganten, grauen Flanellanzug nicht etwa wie ein den irdischen Gütern abholder Gottesmann, sondern wie ein mit allen Wassern gewaschener Geschäftsmann wirkte, so durchdringend, dass der Geistliche vor Verlegenheit fast zu schielen begann und dann die Lider senkte, ehe er ihn erneut fragte, was er dazu sage, dass zwölf Wölfe die Gegend unsicher machten.

Ein dicker Hund, meinte Hächler, und er schüttelte ein paar mal heftig den Kopf, damit das Regenwasser aus seinen provozierend kurz geschnittenen, gescheitelten, grauen Haaren tropfte.

Werden Sie heute noch abreisen, fragte der Geistliche.

Wir sind doch erst gestern abend angekommen, erwiderte Lüßl.

Heißt das, dass Sie ihren Urlaub trotz der Wölfe hier verbringen wollen, erkundigte sich Pfarrer Mögeldorfer, ohne seine Bestürzung zu verhehlen.

Wenn Sie glauben, wir ließen uns von ein paar Wölfen vertreiben, kennen Sie uns schlecht, meinte Hächler mit einem kurzen, kehligen Auflachen.

Es sind blutrünstige Bestien, entgegnete der Geistliche. Ich habe einmal bei ihrer Fütterung zugesehen.

Vergessen Sie nicht, dass wir vier Jagdgewehre in der Hütte haben, meinte Lüßl.

Ich kann aber nicht schießen, stieß der junge Gösch, der sich zum Ärger seines Vaters nach seiner Reifeprüfung geweigert hatte, Wehrdienst zu leisten, in einem jammernden Tonfall hervor.

Nur keine Bange, das bringe ich Ihnen schon bei, erwiderte Hächler und er klopfte dem jungen Gösch väterlich auf die Schulter.

Der letztere hatte keineswegs den Eindruck, dass es die beiden Herren bedauerten, dass die Wölfe ausgebrochen waren. Vielmehr fand er, dass sie in Anbetracht dieses Ereignisses, das ohne weiteres zu einer regelrechten Katastrophe ausarten konnte, richtiggehend auflebten. Er stellte fest, dass sich Hächlers zumeist aschfahles Gesicht gerötet hatte. Er stellte fest, dass Lüßls ein wenig klein geratene, blassgrüne Augen glitzerten.

Mit einemmal war er überzeugt davon, dass sie beide nicht davor zurückschrecken würden, sich in Lebensgefahr zu begeben, um ihre Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Obwohl sein Vater behauptet hatte, dass sie es sich allesamt aufgrund gravierender Vorfälle, über die keiner von ihnen ein Wort verlor, vor ein paar Jahren geschworen hatten, nicht mehr gemeinsam auf die Jagd zu gehen, hatte er den Verdacht, dass Lüßl und Hächler mit dem Gedanken liebäugelten, die Wölfe aufzuspüren und zu erlegen. Plötzlich fürchtete er, dass er durch sie in Situationen geraten könnte, denen er nicht gewachsen war. Er fragte sich, was er unternehmen sollte, um mit heiler Haut davonzukommen. Er sagte sich, dass es für ihn das Beste sei, noch an diesem Tage abzureisen.

Für einen Augenblick war er dicht daran, die Herren zu bitten, dass sie ihn unverzüglich mit dem Kombiwagen zur Bahnstation in Zwiesel brachten. Dann hielt ihn jedoch die Furcht, dass er seinen cholerischen Vater mit einer solchen Handlungsweise in eine Wut versetzen könnte, die womöglich dessen Tod zur Folge hatte, davon ab, diese Bitte auszusprechen. Mit einer wachsenden Hoffnungslosigkeit wendete er sich Pfarrer Mögeldorfer zu, der sich noch immer mühte, Lüßl und Hächler umzustimmen. Sie hörten ihm mit sichtlich gelangweilten Mienen zu und verabschiedeten sich schließlich so abrupt, dass der Geistliche kurzfristig wie vor den Kopf gestoßen wirkte.

Ich werde für Sie beten, stieß er mit seiner krächzenden Stimme hervor, ehe er händeringend auf seinen atemberaubend modernen Bungalow zuging, dem man es selbst von außen ansah, dass er sehr viel mehr Geld gekostet haben musste, als es sich ein simpler Dorfpfarrer ersparen kann.

*

Während der Fahrt zur Jagdhütte hatten Lüßl und Hächler kaum ein Wort miteinander gewechselt. Hächler, der am Steuer des Kombiwagens gesessen hatte, hatte Lieder wie: Heimat deine Sterne, oder: Wovon soll der Landser denn schon träumen, vor sich hin gesummt. Lüßl hatte ohne Unterlass in die dichten Nadelwälder beiderseits der Fahrbahn gestarrt und nach den entlaufenden Wölfen Ausschau gehalten. Der junge Gösch hatte mit einem Kribbeln in der Magengrube auf dem Rücksitz gehockt und sich bemüht, gegen die Panik anzukämpfen, die ihn in dem Augenblick übermannt hatte, da der Kombiwagen die letzten Gehöfte von Heilig Blut hinter sich gelassen hatte. Er hatte das Gefühl gehabt, dass er von nun an der Willkür der Herren ausgeliefert war.

Einmal war er heftig zusammengezuckt, weil er gemeint hatte, die Wölfe heulen zu hören. Nachdem er jedoch minutenlang angestrengt gelauscht hatte, hatte er festgestellt, dass das Geräusch, das er zunächst für das Heulen hungriger Wölfe gehalten hatte, von dem zwar milden, aber überaus böigen Westwind herrührte, der die Wipfel der Tannen, Fichten, Föhren und Kiefern rechterhand und linkerhand der Fahrbahn zur Seite bog und die Regenschauer mit einer ungewöhnlichen Vehemenz gegen die Karosserie des Kombiwagens prasseln ließ. In seiner Hysterie hatte er seinen Irrtum so komisch gefunden, dass er zur Verwunderung der beiden Herren plötzlich angefangen hatte, haltlos vor sich hin zu kichern.

Was gibt es denn da zu lachen, erkundigte sich Hächler jetzt in einem barschen Tonfall, während er in den Waldweg einbog, der zur Jagdhütte führte.

Ich habe gerade das Heulen des Windes für das Heulen der Wölfe gehalten, erwiderte der junge Gösch.

Darüber wollen Sie gelacht haben, fragte Hächler.

Ich habe gewiss einen Sinn für Humor. Aber ich kann daran beim besten Willen nichts komisch finden, meinte Lüßl, und er wendete sich stirnrunzelnd dem jungen Gösch zu, der sich jetzt die Tränen aus den Augen wischte.

Im Grunde ist es auch nicht komisch, sagte er.

Vermutlich haben Sie über etwas ganz anderes gelacht, meinte Hächler.

Wollen Sie uns nicht sagen, was Sie dermaßen erheitert hat, erkundigte sich Lüßl.

Ich habe wirklich nur gelacht, weil ich das Heulen des Windes und das Heulen der Wölfe verwechselt habe, erwiderte der junge Gösch.

Aber die beiden Herren schenkten ihm keinen Glauben.

Versuchen Sie doch nicht, uns für dumm zu verkaufen, rief Hächler dermaßen ärgerlich, dass ihm Lüßl beschwichtigend am Oberarm tätschelte.

Merken Sie denn nicht, dass er sich nur interessant machen will, meinte er.

Mit seiner Unaufrichtigkeit vergiftet er die ganze Atmosphäre, entgegnete Hächler, während er den Kombiwagen ruckartig vor der Jagdhütte anhielt, vor der Glaub­recht, der offensichtlich bereits von dem Glaser vor den Wölfen gewarnt worden war, mit einem Jagdgewehr über der Schulter auf und ab ging. Jetzt blieb er stehen und begrüßte die Herren, die mit verkniffenen Mienen aus dem Fahrzeug stiegen, mit einem Heben der rechten Hand.

Hat es Stunk gegeben, erkundigte er sich hauptsächlich Hächler zugewendet.

Dieser Herr hält mit irgend etwas hinterm Berg, erwiderte der und er wies mit einer aufspießenden Bewegung auf den jungen Gösch, ehe er heftig hinkend in die Hütte trat.

Der letztere wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Unschlüssig blieb er stehen und betrachtete die beiden Fensterscheiben, die der Glaser, der gerade im Begriff war, wieder wegzufahren, eingesetzt hatte. Er wollte gerade ebenfalls in die Hütte gehen, als Hächler mit einem Jagdgewehr und einem großen leeren Pappkarton in deren Eingang auftauchte. Er trug den Pappkarton zum Rand der kleinen Lichtung, auf der die Jagdhütte stand, und setzte ihn zwischen zwei Tannen auf dem mit einer mittlerweile matschigen Schneeschicht bedeckten Erdboden ab.

Nun zeigen Sie einmal, ob Sie noch etwas anderes können, als Lügenmärchen erzählen, meinte er, während er auf den jungen Gösch zuging und ihm das Jagdgewehr aushändigte.

Mit zusammengebissenen Zähnen zielte der junge Gösch, dem Schusswaffen Angst einflößten, auf den Pappkarton und presste dann den Zeigefinger auf den Abzugshebel. Zur Erheiterung der drei Herren, die dicht hinter ihm standen, zuckte er nicht allein beim Knall des Schusses heftig zusammen. Er schoss auch meterweit am Pappkarton vorbei.

Das kommt davon, wenn man sich vor dem Wehrdienst gedrückt hat, sagte Hächler und er sah ein paar aufgescheuchten, fetten Krähen nach, die kreischend über den Wipfeln der Bäume davonflogen, ehe er neben den jungen Gösch trat und ihm zeigte, wie er die Waffe halten musste.

Der letztere zielte erneut auf den Pappkarton. Wiederum schoss er zur Erheiterung der drei Herren meterweit daran vorbei. Auch die nächsten Kugeln, die er abfeuerte, verfehlten ihr Ziel. Aufseufzend ließ er die Waffe sinken und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, um die Regentropfen abzuwischen, die ihm in die Augen rannen.

Sie wären längst ein toter Mann, wenn es jetzt hart auf hart gegangen wäre, meinte Hächler, der mittlerweile eine Schachtel Munition geholt hatte, und er nahm dem jungen Gösch das Jagdgewehr ab und führte ihm vor, wie er es laden musste. Darauf zog er sich mit Lüßl und Glaubrecht, die sich allmählich zu langweilen begannen, in die Hütte zurück.

*

Obwohl es nicht allein regnete, sondern obendrein zu dämmern anfing, mühte sich der junge Gösch, den mit einemmal der Ehrgeiz gepackt hatte, den Pappkarton zu treffen. Doch trotz der Verbissenheit, die er jetzt an den Tag legte, schlugen die Kugeln, die er abfeuerte, entweder in Baumstämme oder in den Erdboden ein. Einmal streifte eine Kugel den Rand des Pappkartons, ehe sie zu seinem Ärger darüber hinwegflog. Um sich Luft zu machen, hob er den Lauf der Waffe und schoss ein paar Mal himmelwärts. Auch zielte er auf ein Wiesel, das mit großen Sätzen über die Lichtung lief, und auf einen hoch über der Lichtung kreisenden, großen Vogel, den er für einen Habicht hielt.

Schließlich richtete er jedoch die Waffe wiederum auf den Pappkarton. Er schoss das Magazin leer, füllte es mit Kugeln und schoss es abermals leer. Nachdem er es erneut mit Kugeln gefüllt und leer geschossen hatte, ohne den Pappkarton auch nur ein einziges Mal zu treffen, gab er seine Schießversuche endgültig auf und ging mit hängenden Schultern und schlürfenden Schritten in die Hütte. Er stellte fest, dass die drei Herren vor dem Kamin im Aufenthaltsraum saßen und Steinhäger tranken. Offensichtlich hatten sie gerade über ihn geredet. Denn sie verstummten bei seinem Auftauchen abrupt und musterten ihn mit unverhohlen höhnischen Mienen, während er sich zu ihnen setzte.

Haben Sie den Pappkarton getroffen, erkundigte sich Lüßl und er schenkte ihm ein Glas Steinhäger ein.

Der junge Gösch schüttelte den Kopf.

Ich habe nur seinen Rand gestreift, erwiderte er.

Was kann man von einem Wehrdienstverweigerer schon anderes erwarten, meinte Hächler.

Warum haben Sie sich eigentlich vor dem Wehrdienst gedrückt, fragte Glaubrecht und er legte seinen Zeigefinger in die Einschussnarbe neben seinem rechten Mundwinkel, zu der er, wie gesagt, anlässlich des Russlandfeldzugs gekommen war.

Ich habe den Wehrdienst verweigert, weil ich dazu beitragen wollte, dass ein dritter Weltkrieg verhindert wird, erwiderte der junge Gösch.

Zu seinem Ärger stießen die Herren das ihnen eigene, kurze, kehlige, eher zornig klingende Gelächter aus.

Mit dieser Ausrede wollen Sie doch nur vertuschen, dass Sie ihre Pflichten als Staats­bürger auf eine sträfliche Weise vernachlässigt haben, meinte Hächler.

Schließlich habe ich Ersatzdienst geleistet, entgegnete der junge Gösch.

Warum geben Sie eigentlich nicht zu, dass Sie es sich so leicht wie möglich machen wollten, erkundigte sich Lüßl.

Es war weiß Gott kein Vergnügen, tag­ein, tagaus Bettschüsseln zu leeren und Greisen die kotverschmierten Gesäße säubern zu müssen, antwortete der junge Gösch.

Das ist Weibersache, meinte Hächler, und nicht Sache eines gesunden jungen Mannes.

Ich habe auch stinkenden Müll in Plastiksäcke gefüllt, erwiderte der junge Gösch.

Dazu sind die Türken, Griechen, Jugoslawen, Marokkaner und Tunesier da, meinte Lüßl.

Die gesunden jungen deutschen Männer, die lieber Bettschüsseln leeren, Greisen die kotverschmierten Gesäße säubern und stinkenden Müll in Plastiksäcke füllen, statt zu den Waffen zu greifen, öffnen dem Kommunismus Tür und Tor, sagte Glaubrecht und er legte seinen Zeigefinger auf die Stelle, an der seinerzeit eine russische Kugel sein Gesicht durchgebohrt und ihm sämtliche Zähne ausgeschlagen hatte.

Sie haben ganz Recht, erwiderte Lüßl. Wenn sich der Pazifismus, der in den westlichen Ländern ohnehin schon wie eine Seuche grassiert, tatsächlich noch weiter verbreiten sollte, werden sich die Russen die Chance, einen leichten Sieg zu erringen, ohne Zweifel nicht entgehen lassen. Die Friedfertigkeit unserer Jugend, die nur die Kehrseite von Feigheit, Bequemlichkeit und einem selbstmörderischen Illusionismus ist, wird den Iwan aus seiner Reserve locken, sagte Glaubrecht. Er wird bei Nacht und Nebel über unsere Grenze marschieren und einen dritten Weltkrieg riskieren.

Wollen Sie damit sagen, dass der Ausbruch eines dritten Weltkriegs vorrangig auf die Friedfertigkeit des Großteils der Bürger in den westlichen Ländern zurückzuführen sein wird, erkundigte sich der junge Gösch, ohne seine Verblüffung zu verhehlen.

Genau das wollte ich zum Ausdruck bringen, entgegnete Glaubrecht, während er sich Steinhäger in sein Glas goss.

Wenn Sie sogar in einer weitverbreiteten Friedfertigkeit einen Anlass zu einem dritten Weltkrieg entdecken, dann glauben Sie offensichtlich nicht, dass sich der Frieden dauerhaft erhalten lässt, fragte der junge Gösch.

Den Frieden können wir nur dadurch erhalten, dass wir gemeinsam mit unseren Verbündeten unbeirrbar weiterrüsten, ständig die Kampfkraft unseres Heeres erhöhen und damit fortfahren, die Sowjet­uni­on und ihre Verbündeten mit Atom­spreng­köpfen zu bedrohen, mit denen sich jederzeit eine Massenvernichtung von unvorstellbaren Ausmaßen einleiten lässt, meinte Hächler.

Den Wehrdienstverweigerern haben wir es ganz gewiss nicht zu verdanken, dass wir nun seit nahezu vierzig Jahren in kei­nen einzigen Krieg verwickelt worden sind, entgegnete Lüßl. Vielmehr gefährden sie den Frieden und die Freiheit, in der wir le­ben, weil sie Waffen grundsätzlich als Instrumen­te zum Massenmord und Armeen grund­sätzlich als Vollstrecker millionenfacher Todesurteile hinzustellen trachten, die insofern der Gerechtigkeit spotten, als sie ausnahmslos über Unschuldige ver­hängt zu werden pflegen. Ihre panische Angst vor dem Krieg macht sie so kopfscheu, dass ihnen die Atomsprengköpfe, mit deren Hilfe die westliche Freiheit verteidigt werden soll, genauso gefährlich er­scheinen wie die Atomsprengköpfe, mit deren Hilfe die westliche Freiheit unterdrückt werden soll. Diese Einschätzung zeigt, dass ihnen die westliche Freiheit offensichtlich nicht das Geringste bedeutet, meinte Glaubrecht. Nichts liegt ihnen fer­ner, als für sie zu sterben.

Sie würden sie zweifellos ohne zu zögern aufs Spiel setzen, um ein Blutbad zu verhindern, erwiderte Lüßl.

Während sich heutzutage haufenweise wehrfähige junge Männer von dem Süßholzgeraspel einlullen lassen, mit dem die Machthaber im Kreml die Bevölkerung der Natoländer einzuschläfern suchen, haben wir uns seinerzeit so tapfer mit dem Iwan geschlagen, dass nicht weniger als zwanzig Millionen Russen ins Gras beißen mussten, meinte Hächler, und er strich sich mit der Hand über sein linkes Knie, das, wie gesagt, anlässlich einer gescheiterten Flucht aus dem russischen Kriegsgefangenenlager durch die Kugel eines Wachtpostens zerschmettert worden war.

Nicht weniger als zwanzig Millionen Russen mussten ins Gras beißen, wiederholte er händereibend.

Wir haben dem Iwan einen hübschen Denkzettel verpasst, meinte Glaubrecht.

Deshalb müssen wir vor ihm auch auf der Hut sein, erwiderte Lüßl.

Die jungen Männer, die sich heute weigern, Wehrdienst zu leisten, müsste man mit Knüppeln zu den Gräbern derer treiben, die gestern im Kampf gegen den Bolschewismus ihr Leben gelassen haben, sagte Glaubrecht.

Sie würden ihnen doch nicht noch nachzueifern suchen, entgegnete Lüßl.

Ich halte diese Wehrdienstverweigerer samt und sonders für verkappte Kommunisten, meinte Hächler, und er musterte den jungen Gösch, dem die Argumentationsweise der drei Herren, dank der vielen Gespräche, die er mit seinem Vater über das gleiche Thema geführt hatte, nur allzu vertraut war, voller Argwohn.

Glauben Sie etwa, auch ich sei ein verkappter Kommunist, erkundigte sich der.

Dazu möchte ich mich jetzt nicht äußern, erwiderte Hächler, indem er sich erhob und hinkend den Aufenthaltsraum verließ, um in der Küche den Abendbrottisch zu decken.

*

Durch die polternden Schritte der Herren, die sowohl auf dem Weg zum Abtritt als auch auf dem Rückweg zum Schlafzimmer mit Taschenlampen in den Händen und gefütterten Anoraks über den Pyjamas in ihren plumpen Wanderstiefeln den Aufenthaltsraum durchquert hatten, war der junge Gösch während der Nacht mehrfach aus dem Schlaf geschreckt worden. Jedes Mal, wenn einer von ihnen an ihm vorbeigestampft war, war er hochgefahren und hatte sich voller Begriffsstutzigkeit erkundigt, was denn passiert sei. Aber keiner der Herren hatte es für nötig gehalten, seine Frage zu beantworten. Schweigend waren sie allesamt ins Freie getreten und kurz darauf wiederum im Hütteneingang aufgetaucht.

Ihr Kommen und Gehen hatte zur Folge gehabt, dass der junge Gösch schließlich nicht mehr hatte einschlafen können, obwohl er todmüde gewesen war. Nachdem er bis zum Morgengrauen mit geschlossenen Augen auf der Schlafcouch gelegen hatte, hatte er sich aufgerichtet und eine kurze Bemerkung, nämlich die Bemerkung, dass man Lüßl, Hächler und Glaubrecht nur ertragen könne, wenn man sie als Spottfiguren betrachte, in sein Tagebuch notiert. Danach war er aufgestanden und auf Zehenspitzen zur Küche geschlichen, um einen Schluck Wasser zu trinken. Als er den Aufenthaltsraum, dessen Fußbodendielen trotz seiner Behutsamkeit geknarrt hatten, wiederum betreten hatte, hatte sich Glaubrecht brüllend bei ihm erkundigt, ob er denn keine Rücksicht nehmen könne.

Mit seinem Gebrüll hatte er Lüßl und Häch­ler geweckt. Während ihm Hächler wegen seiner Undiszipliniertheit die ärgsten Vorhaltungen gemacht hatte, war Lüßl am ganzen Leibe bebend vor Wut in seinem provozierend eleganten, schwarzgoldgestreiften Seidenpyjama zum Badezimmer gestürzt, wo er sich fast eine Dreiviertelstunde lang eingeschlossen hatte.

Als er jetzt frisch rasiert, gewaschen und gekämmt und penetrant nach einem herben Gesichtswasser riechend mit zwei blutenden Schnittwunden am Kinn, auf denen winzige Wattepfropfen klebten, in ockerfarbenen Knickerbockers und einer ockerfarbenen Strickjacke, in der er ein lavendelblaues Halstuch mit ockerfarbenen Tupfen trug, in der Küche auftauchte und sich an den Frühstückstisch setzte, den Glaubrecht gedeckt hatte, legte er eine Gelassenheit an den Tag, die der junge Gösch recht irritierend fand.

Unwillkürlich musste er an die Behauptung seines Vaters denken, der ihm gegenüber geäußert hatte, dass die eindrucksvolle Seelenruhe, die Lüßl oft genug in kritischen Augenblicken zur Schau trage, nicht etwa auf seine Selbstbeherrschung, sondern auf ein Sedativ zurückzuführen sei. Er stellte fest, dass sich auch Hächler und Glaub­recht, die mittlerweile ihre Frühstückseier verzehrt hatten, über Lüßls an Stumpfheit grenzende Gleichmütigkeit Gedanken zu machen schienen. Während sich der letztere erst Kaffee und Milch einschenkte und daraufhin mit der Betulichkeit eines Pedanten ein Brot mit Butter bestrich, ließen sie ihn nicht aus den Augen.

Sie haben sich wohl wieder einmal gedopt, erkundigte sich Hächler schließlich.

Das kann Ihnen doch egal sein, erwiderte Lüßl, indem er sein Frühstücksei köpfte.

Es ist mir aber nicht egal, dass ich meinen Urlaub mit einem Menschen verbringen muss, der sich mit Medikamenten voll stopft, die ansonsten nur hysterischen Weibern in den Wechseljahren verordnet werden, rief Hächler, und er sah Lüßl voller Verachtung an.

Aber der war dank des Sedativs, das er offensichtlich eingenommen hatte, dermaßen dickfellig geworden, dass er nur die Achseln zuckte.

Warum reisen Sie denn nicht ab, wenn Ihnen meine Anwesenheit so lästig ist, fragte er.

Falls Sie etwa glauben sollten, Sie könnten mich hier herausekeln, irren Sie sich gehörig, entgegnete Hächler mit einem zornigen Auflachen, ehe er sich zurücklehnte und schweigend aus dem Küchenfenster starrte, gegen dessen Scheiben der böige Westwind seit einer Weile große Schneeflocken trieb.

Auch die übrigen Herren äußerten kein einziges Wort. Lüßl verleibte sich gedankenverloren sein Ei und sein Butterbrot ein. Glaubrecht, der gerade Tee und Rum in vier rote Thermosflaschen gegossen hatte, war damit beschäftigt, mehrere mit dicken Hartwurstscheiben belegte Butterbrote in durchsichtige Plastikbeutel zu stecken. Der junge Gösch, der nicht daran zweifelte, dass der Tee und die Hartwurstbrote den Herren als Wegzehrung dienen sollten, formte voller böser Vorahnungen aus den Krumen auf seinem Teller einen kleinen Klumpen und knetete ihn mit dem Daumen und dem Zeigefinger. Mit dem Gefühl, dass die Geruhsamkeit, die sich momentan in der Küche breitzumachen begann, ein rasches Ende haben würde, hielt er plötzlich inne und erkundigte sich bei den Herren, was sie an diesem Tage unternehmen wollten.

Wir haben gestern beschlossen, dass wir heute den Deuschelberg besteigen, meinte Hächler.

Wussten Sie das denn nicht, fragte Lüßl.

Davon hat mir keiner von Ihnen etwas gesagt, erwiderte der junge Gösch und er mühte sich, gegen die Panik anzukämpfen, die ihn jäh übermannte. Er wäre liebend gern in der Hütte geblieben, wo er vor den Wölfen sicher war. Angestrengt überlegte er, was für eine Ausrede er vorbringen konnte, damit er den Deuschelberg, in dessen Richtung immerhin sechs von den zwölf Wölfen gelaufen waren, nicht besteigen musste. Doch es fiel ihm keine Ausrede ein.

Mit einer wachsenden Ratlosigkeit be­obachtete er die drei Herren, die jetzt Anstalten zum Aufbruch trafen. Er sah, dass sie die Thermosflaschen und die Plastikbeutel mit den Hartwurstbroten in ihre Rucksäcke packten. Er sah, dass sie ihre Jagdgewehre luden. Er sah, dass sie ihre Wanderstiefel zuschnürten. Um ihnen keinen Anlass zu Nörgeleien zu geben, erhob er sich schließlich mit einer Schicksalsergebenheit, die ihm selbst zuwider war, und zog sich ebenfalls an. Obwohl er sich dabei beeilte, mussten die Herren auf ihn warten. Nachdem sie minutenlang voller Ungeduld mit ihren an Lederriemen hängenden Feldstechern und Fotoapparaten auf der Brust, mit ihren Rucksäcken auf den Rücken, ihren Jagdgewehren über den Schultern und ihren Wanderstöcken in den Händen vor dem Eingang der Hütte stehen geblieben waren, setzten sie sich, kaum dass er ins Freie getreten war, wortlos in Bewegung.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Gisela Elsner: Heilig Blut. Verbrecher Verlag, Berlin 2007. Ca. 300 S., 14 Euro.

Das Buch erscheint anlässlich des 70. Geburtstags von Gisela Elsner am 2. Mai 2007.