»Postpunk stellt sich gegen alles, was vorher war«

Punk explodierte im Sommer 1976 und war zwei Jahre später bereits verglüht. Dann kamen Bands wie Public Image Limited, The Slits, Scritti Politti, Gang Of Four, Joy Division, Wire, Talking Heads, The Fall, Robert Wyatt, The Specials, Throbbing Gristle, The Human League, ABC, Art Of Noise und Frankie Goes To Hollywood und erfanden das Rad der Musikgeschichte neu. Eigentlich ereignete sich die wahre Kulturrevolution erst im Postpunk, behauptet der britische Musikjournalist Simon Reynolds

Ihr Buch »Rip It Up and Start Again« ist nun ins Deutsche übersetzt worden. Der Buch­titel bezieht sich auf den gleichnamigen Song der schottischen Band Orange Juice. Was hat Sie veranlasst, diesen Titel auszuwählen?

Die Titelfindung kam mit Hilfe der User meines Blogs zustande, denn mir selbst wollte einfach kein passender Titel einfallen. Meine Titelidee, »Don’t Sell your Dreams« von the Pop Group, brachte zwar jene Jahre zwischen 1978 und 1984 sehr aggressiv auf den Punkt. Dann aber fand ich ihn zu plakativ politisch. Ein irischer User schlug »Rip It Up« vor – und: gebongt. Zunächst ist es ein großartiger hibbe­liger Popsong. Orange Juice waren eine Schlüsselband der Postpunk-Ära. Sie waren Popstars, an die sich zumindest meine britische Leserschaft sicher würde erinnern können. »Rip It Up« enterte in England 1982 die Charts. Der Song hat die zentralen Prinzipien seiner Zeit verinnerlicht, er atmet den Willen zur Erneuerung.

Postpunk stellt sich stilistisch gegen alles, was vorher war. Postpunk reagiert auf Punk­rock, korrigiert ihn, komplettiert ihn, folgt seiner Logik und erfindet sich dabei selbst. In der zweiten Buchhälfte handle ich den New Pop ab, der wiederum ab 1982 den Postpunk ablöste und musikalisch rückwärts aus den Sackgassen rauskatapultierte, in die Postpunk geraten war. Ganz anders als Postpunk betont der New Pop den Spaß, gibt sich verspielt und stellt das mit musikalischer Opulenz offensiv zur Schau, unterstreicht dabei die analytische Freude am Pop mit Ausrufezeichen, trotzdem ist New Pop noch dem Ethos des Postpunk verpflichtet. Der New Pop benutzte bestimmte Werte des Postpunk, stellte sie aber in einen anderen Kontext.

Die Ironie des Schicksals war ja, dass Orange Juice, als sie »Rip It Up« geschrieben haben, als Vorhut des New Pop wahrgenommen wurden, obwohl sie zu dem Zeitpunkt bereits wussten, dass auch New Pop wieder in die künstlerische Sackgasse führen würde. Deshalb sangen sie ja »Rip It Up«, schmeiß alles hin! Genau in dem Moment, als alle anderen »ja zur modernen Welt« postulierten. Das war eine weitere dialektische Wendung. Zu jener Zeit, 1982, posier­te Orange-Juice-Sänger Edwyn Collins sehr bewusst mit einem Sex-Pistols-T-Shirt. Er brachte damit zum Ausdruck, dass New Pop bereits all seine Möglichkeiten ausgereizt hatte, die poppige Farbenprächtigkeit war ihrerseits seicht geworden. Alle ein, zwei Jahre änderten sich damals die musikalischen Vorzeichen komplett, ständig gab es wieder eine musikalische Erschüt­terung, der nächste Wertewandel wartete schon um die Ecke. Themen, die vorher cool und sexy und radikal waren, wurden urplötzlich abgelehnt. Das machte diese Jahre auch politisch so aufregend.

Die Stimmung wurde von den Music-Weeklies noch angeheizt. Sobald »Metalbox« von Public Image und »Closer« von Joy Division als Ruling Sound anerkannt wurden, begannen andere, sich dagegen auszusprechen, und wollten partout nicht das Gleiche nachexerzieren. Der Pop-Sound von Orange Juice war explizit eine Reaktion auf die Apokalypse und Düsternis in der Musik von Public Image und Joy Division. Orange Juice nahmen die Verve von Postpunk auf und verbanden ihn mit optimistischer Hoffnung, mit einer romantischen Auslegung von Pop, den sie spielerisch und schlau zelebrierten.

Sie nennen Punk eine »unvollendete Revolution«. Was hat Punk 1976 bis 1977 denn nicht eingelöst, und wieso schaffte das Postpunk?

An Punk ermüdet vor allem das ewige Gerede über Rebellion und Zerrissenheit. Musikalisch war der Stil schnell zum Klischee geworden. Wenn die Punks über Langeweile sangen, war das anfangs umwerfend neu, als es alle nachmachten, wurde es aber langweilig. Der Kampf von Punk gegen den Mainstream wurde 1977 selbst uniform. Und noch ein Widerspruch: Punk stellte in seinen Texten zwar radikal alles in Frage, blieb musikalisch aber konservativ und in den Ausdrucksmitteln sehr beschränkt. Punk bezog sich auf Fünfziger-Jahre-Rockabilly und auf Sixties-Modsound. Die Sex Pistols fingen als Coverband von The Who und den Monkees an. Sie spielten »Substitute« zwar nicht eins zu eins nach, stellten damit aber einen Connex zum zornigen, hochenergetischen Stumpf­sound her, wie ihn die Stooges Anfang der siebziger Jahre vorgemacht hatten. Was bei Punk ursprüng­lich wichtig war, dass die Stilmittel von Aggression und Simplizität und Schnelligkeit genau dann eingesetzt wurden, als Rockmusik so progressiv ausladend war, konnte einfach nicht bis in alle Ewigkeit als Argument herhalten. Der ur­wüchsige Zorn war für den Moment 1976 rich­tig. Aber 1977 war die alte Prog- und Stadion­rockgarde schon weggepoggt, und dann erst kam die Zeit für den durchgreifenden Wandel. Postpunk hatte so die Möglichkeit, in verschiedene Richtungen weiterzuwachsen.

Was Punk nicht ausgeschöpft hatte, war sein musikalisches Potenzial. Die wahre revolutionäre Kraft im Hinblick auf klangliche und rhyth­mische Innovationen war die Black Music. Von Reggae über Funk bis Disco hat sich Postpunk explizit auf deren Stilmittel bezogen.

Warum konnten sich erst Postpunk und New Wave auf schwarze Musik beziehen?

Punk hat ein lineares Rhythmusgefühl, es fühlt sich monolithisch an, der Beat ist wie ein Keulen­schlag. Punk hat keinen Swing. Um Reggae und Funk spielen zu können, braucht es dagegen ein gewisses Verständnis von subtilen Rhythmen. Außerdem stößt in der Black Musik die Idee des Dilettantismus nicht auf Resonanz. Man muss ein guter Musiker sein, Virtuosität hat in der Black Music einen hohen Stellenwert. Selbst die Punkgeneration musste erst ein bisschen spielen lernen, um überzeugend an den Instrumen­ten rüberzukommen. Zorn und Frust verlangten nach simplen Songstrukturen. Bei Postpunk geht es um komplizierte Gefühlszustände, das verlangt auch nach komplizierter Musik. Fündig wurde man bei Reggae, der Ende der Siebziger sein absolutes Kreativitätshoch hatte. Auch Funkadelic/Parliament schoben den Funk damals in andere Sphären weiter. Disco mag 1976 kein herausragendes Jahr gehabt haben, aber 1977 kamen dann schon Chic. Alle Postpunks wollten den Gitarrensound von Chic haben. Ver­gessen wir nicht den Einsatz elektronischer Instrumente im Discosound. Die Funkseite des New Wave bezog sich auf die schwarzen Wurzeln des Funk, Bass und Schlagzeug, die Wissenschaft des Groove. Aber es gab auch eine Seite der Discomusik, die europäisch und elektronisch geprägt war, das kam alles hoch, als Punk bereits den Rückzug angetreten hatte. Ende 1977 kam »I Feel Love« von Donna Summer und Giorgio Moroder auf den Markt und platzierte sich auf der ganzen Welt in den Hitparaden auf Nummer eins. Das färbte auch auf Postpunk ab.

Die New Yorker Postpunkszene gilt als integrativ. Chic und Kurtis Blow hingen mit Blondie und den Talking Heads ab. In England gab es zum Beispiel A Certain Ratio, eine New-Wave-Band mit schwarzem Drummer. Was hatte sich in der Gesellschaft jener Jahre verändert, dass dies möglich war?

Besonders die New Yorker Szene um den Punkclub CBGB war ausgesprochen weiß. Der ein­zige schwarze Punk war Ivan Julien von Richard Hell & The Voidoids. In England gab es ein paar schwarze Punks. Natürlich Don Letts, auch Barry Adamson von Magazine und etwas später Rankin Roger von der Ska-Band The Beat, der rannte mit orangegefärbten Haaren durch die Gegend. Es gab in der englischen Punkszene einige schwar­ze Künstler-Boheme-Typen, die sich aber offensiv ranschmeißen mussten, um akzeptiert zu werden. In New York soll die Punk­szene sogar etwas rassistisch rübergekommen sein. Nicht so in England. Da herrschte eine gro­ße Bewunderung für alles, was mit Black Music zu tun hatte. Manche Punks waren vorher Soul Boys, es wurde immer zu Soulplatten getanzt. Und der Respekt für alles, was mit Reggae zu tun hatte, war schon 1976 sehr ausgeprägt. Punks waren schließlich Außenseiter, und als solche identifizierten sie sich mit den schwarzen Engländern und mit dem Rastafarianismus. Umgekehrt übte Punkrock auf schwar­ze Engländer aber keine große Anziehungskraft aus. Man konnte schlecht dazu tanzen, und er war auch nicht besonders sexy. Je mehr sich Postpunk musikalisch diversifizierte, desto heterogener wurde seine Klientel. A Certain Ratio hatten zunächst gar keinen Drummer, sie wollten aber mehr funky Elemente. Also rekrutierten sie einen schwarzen Drummer und wurden eine gemeinsame Band. Das passierte alles nach und nach. Die Leute interessierten sich stärker für schwarze Musik und hatten irgendwann auch eine Verbindung zu ihr. In England arbeitete die Frauenband Slits etwa zusammen mit dem schwarzen Dubmixer Dennis Bovel. In New York buchte zum Beispiel Michael Holman 1979 die Rapper aus der Bronx für die Musikclubs von Downtown-Manhattan. Es gab viele solcher Brü­ckenbauer. Am Ende des Tages war Postpunk in der Boheme verwurzelt, und die Boheme ist traditionell offen für schwarze Kultur. Man bewundert sie, möchte von ihr anerkannt werden, möchte ihr gleichen. Das ist eher die Regel als die Ausnahme. Punk war ein Bruch mit dieser Tradition. Es gibt die verbreitete Ansicht, dass Punk erst den Reggae in England hoffähig gemacht hat, dabei war Reggae zu jener Zeit längst in den englischen Charts etabliert. Reggae kam bereits in den frühen Siebzigern in Mode, als Eric Clapton Bob Marley coverte und die Rolling Stones den jamaikanischen Musiker Peter Tosh für ihr Label gewannen. Genau diese von den Punks so bekämpften alten Fürze zelebrierten Reggae schon viel früher als Rebellensound und moderne Form des Blues.

Sie schildern die Do-it-yourself-Kultur der kleinen unabhängigen Labels. Gab es Ende der siebziger Jahre einen ökonomischen oder technologischen Wandel, der den Bands das selbständige Produzieren und Veröffentlichen von Schallplatten erleichterte?

Es ging mehr ums Knowhow. Bei den Popfans in den Siebzigern herrschte einfach eine unglaubliche Unwissenheit, wie das Musikbiz funktioniert. Irgendwie war das verloren gegangen. Ver­wunderlich, denn die Geschichte der unabhängigen Labels fängt nicht erst mit der Rockmusik an. Das geht zurück auf die Anfänge der Schallplattenindustrie. Es gab immer schon Privatpres­sungen, Mäzene, Bands oder Clubs, die eigenhändig Platten herausbrachten, ohne dass die je in den Handel gekommen wären. Es gab eine Menge unabhängiger Labels, auch schon vor Punk, zum Beispiel das englische Freejazzkollektiv Incus. Es gab Folklabels, wie etwa Topic. Erst mit dem Rockboom der Jahre ab 1969 machte sich der Irrglaube breit, Musik sei reine Angelegenheit der Majors. Seltsam, wenn man bedenkt, dass Sun Records, das Label von Elvis, als unabhängiges Label anfing. Durch Punk wurden aber Leute zum Plattenmachen ermutigt, die überhaupt keinen Geschäftssinn besaßen. Die Indies vor 1976 wurden in der Regel von kleinen Geschäftsleuten und gewieften Managern betrieben. Mit Punk hat eine Entwicklung begonnen und bis heute auch nicht aufgehört, dass Menschen ohne genaue Kenntnisse des Musikbusiness Platten veröffentlichen.

Es gab einen Trend zur Dezentralisierung. Überall schossen die unabhängigen Labels wie Pilze aus dem Boden. Die Entwicklung ging weg von den in London ansässigen Majors hin zu regionalen Szenen, zum Beispiel in Bristol und Manchester.

Punk fegte mit hoher Geschwindigkeit durch England, alle Bands wurden sofort unter Vertrag genommen. Und viele Punks waren insgeheim sehr eitel. Einerseits sprachen sie von Anarchie und kultureller Vielfalt und dass sie die langweiligen alten Fürze des Rockmainstream absägen wollten. Gleichzeitig strebten sie selbst in die Sphäre der Popstars. Als sie bei den Plattenmultis unterschrieben, schien es dazu auch keine Alternative zu geben. Alles lag in Händen einiger großer Konglomerate in London. Die Idee von Regionalismus und Dezentralisierung entwickelte sich nach und nach. Das forderte auch die Majors heraus, der Glaube an die egali­täre Machtverteilung, der Glaube an Autonomie und DIY als Lebensstil. Andererseits halfen die bestehenden Strukturen zum Teil auch beim Promoten des Postpunk. Die Musikpresse hatte ihren Sitz in London und wurde landesweit gelesen. Wenn die Magazine dienstags erschienen, wurden sie spätestens am Donnerstag in Glasgow gelesen. BBC Radio 1 war auch sehr wichtig. Es gab Radio-DJs wie John Peel, die allen möglichen seltsamen Kram in ihren Sen­dun­gen spielten. So erfuhr das ganze Land, ja sogar die ganze Welt davon, was in England vor sich ging. Das war ein positiver Aspekt der Zentralisierung. Postpunk war zwar dezentral organisiert, blieb aber nicht in den lokalen Gren­zen. Auch die unabhängigen Postpunks wollten groß rauskommen, und ihre kleinen Labels hatten landesweite Vertriebe, die von London aus operierten.

Wie schätzen Sie das Vermächtnis des kürzlich verstorbenen Factory-Records-Gründers Tony Wilson ein? Wie wichtig war er für New Wave und die Szene in Manchester?

Tony Wilson ist ein gutes Beispiel für einen Impresario, der es vor Punk nie zum eigenen Label geschafft hätte. Er hatte keinerlei Erfahrung im Umgang mit der Musikindustrie und hatte auch keine Ausbildung als Manager durchlaufen. Wilson betrieb Factory auf eine finanziell uneigennützige Art und Weise. Er war sehr idealistisch und widmete sich seiner Sache durchaus mit dem Ethos eines Künstlers. Er schloss keinerlei Verträge mit seinen Bands ab, ihnen allein gehörten die Rechte an der Musik. Und bei Factory ging es nur von Platte zu Platte weiter, damals undenkbar für die Musikindustrie, die nur Verträge mit langer Laufzeit abschloss. Wenn die Bands gehen wollten, ließ Wilson sie ziehen. Nach Deckung der Kosten wurden die Profite zwischen Label und Bands 50 : 50 aufgeteilt. Das machte etwa New Order zu wohlhabenden Musikern. Wobei sie ihr Geld allerdings auch wieder in den legendären, auch von Wilson betriebenen Club »Hacienda« steckten.

Tony Wilson war, typisch Postpunk, ein alles checkender Intellektueller, der ein Label betrieb, ohne auf die Gewinnmargen zu schauen. Man muss sich nur mal sein ästhetisches Programm anschauen: die Schallplattenhülle, seiner Meinung nach ein Werk des Erhabenen. Also ließ er dem Hausdesigner Peter Saville freie Hand bei der Gestaltung der Cover. Das typische Factory-Plattencover war Hochglanz, gleichzeitig aber minimalistisch im Bildinhalt und enigmatisch in der Form. Factory hatte die passenden Visuals für die Klangästhetik des Postpunk: kar­ge Buchstaben und unscharfe Fotografien. Für Wilson musste eine Schallplatte immer ein groß­zügig gestaltetes Fetischobjekt sein. Er begriff, dass die Verpackung einer Schallplatte der Musik weitere Dimensionen verleiht. Auch die Coverart trug so zum hohen Ansehen von Factory bei. Es sollte auch nicht verschwiegen werden, dass Tony Wilson gute Ohren hatte. Es gab zwar auch ein paar Gurken auf Factory, aber Bands wie Section 25, Joy Division, A Certain Ratio, Cris­py Ambulance und später auch die Happy Mondays zeugen von einer eigenwilligen Labelpolitik.

Mir kommt die Klangästhetik von A Certain Ratio als archetypischer Postpunk vor. Der Grabkammergesang, die blecherne Trompete, der dominante Bass und die verschachtelten Beats – der Bezug zum Funk ist offensichtlich, dabei kommt aber etwas ganz anderes heraus.

ACR sind eine typische Band der New-Wave-Ära, weil sie mehr wollten, als sie konnten. Die Einflüsse aus Funk und Disco liegen auf der Hand, aber sie kommen bei ACR schief raus. Ihnen fehlt die Slickness, mit der Black Music damals performt wurde, und so klingen die Songs von ACR wunderbar unbeholfen. Die Postpunk-Version von Funk war aufgekratzt, aber auch distanziert, vielleicht sogar neurotisch.

ACR sind insofern auch typisch für die Zeit, weil es innerhalb der Band unterschiedliche Strömungen gab. Zwei Bandmitglieder hatten gar keinen Musikerhintergrund, brachten aber viele seltsame Ideen ein, was die Klangästhetik anbelangt, so wie ihr Vorbild Brian Eno. Dann spielten bei ACR auch hervorragende Musiker, die noch zu Punkzeiten ihr Talent verborgen hiel­ten. Der schwarze Drummer Donald Johnson war seinen Bandmitgliedern in punkto Können voraus. Der Gitarrist Martin Moscrop versuchte, mit seiner Gitarre den Sound von Chic nachzuahmen. Viele der Gitarrensounds klingen aber eher nach Synthesizer, denn er benutzte seltsame Gitarreneffekte. Und der ACR-Sänger und Trompeter Simon Topping sang derart unterkühlt, dass er niemals ein konventioneller get-down-to-party Funkcrooner werden sollte.

Mit Postpunk geriet der Synthesizer als Instrument in den Vordergrund. Wie erklären Sie sich den massenhaften Einsatz des Synthesizers?

Synthesizer wurden Ende der siebziger Jahre erst­mals in Serie hergestellt, wurden dadurch billiger und handlicher. Zuvor waren sie Aushängeschild von Progrockbands wie Yes und Emerson, Lake & Palmer. In den frühen Siebzigern waren Synthies riesige Kästen, dadurch schwer zu transportieren und durch die komplizierten Aufbauten reparaturanfällig. Nur die Megabands der Siebziger konnten sie sich überhaupt leisten und hatten den Maschinenpark, um sie in den Live-Kontext zu stellen. Punk hatte einen Ethos, der gegen Synthesizer gerichtet war. Wire wurden in der Szene damals heftig kritisiert, weil sie auf ihrem zweiten Album einen Synthie einsetzten. Als die New-Wave-Bands die Synthesizer benutzten, taten sie das mehr so, wie in den Sechzigern Orgeln Bestandteil von Rockbands waren. Es wurde als Rhythmusinstrument eingesetzt. Es gab keine Klangsynthesen, keine Experimente mit elektronisch generierten Klang­erzeugern. Das fing dann erst mit Postpunk an, sich zu verändern. Es gab plötzlich bezahlbare Alternativen wie den Wasp-Synthesizer.

Was den Klang angeht, war die amerikanische Band Pere Ubu sehr einflussreich. Ihr Keyboarder Allan Ravenstine benutzte seinen Syn­thie als abstrakten Klangerzeuger. Er spielte we­der Noten noch Melodien, nur seltsame Klangwellen, Soundschlieren. Suicide aus New York waren auch innovativ, was den Synthesizer als Rhythmusmaschine betrifft. Dann kamen mit der New Wave auch Musiker zum Vorschein, die Fans von Krautrock waren, von Tangerine Dream oder Klaus Schulze. Obwohl durch Punk diese meditative »Head Music« diskreditiert wurde, waren durch Postpunk die Grenzen fließender und offener geworden. Einige dieser Prä­punk-Einflüsse kamen wieder zum Vorschein. Die Industrial-Band Throbbing Gristle stand im Bann von hypnotischem Krautrock. Daniel Miller von Mute Records und sein Hit »Warm Leatherette« kam auch aus dieser Ecke. Human League aus Sheffield waren eher Prog als Punk. Und Roxy Music wurden durch New Wave überhaupt zum Einflussfaktor.

Auf den Seiten von »Rip It Up« taucht eine stattliche Anzahl von Leuten auf, ganz unterschiedliche Figuren wie Trevor Horn, der Produzent von Frankie Goes To Hollywood, oder der Hausbesetzer Green Garthside. Was verbindet eine Metapopfigur wie Garthside mit dem Nobelproduzenten Horn? Und was macht sie zu Postpunk?

Bei allen strukturellen Unterschieden und ­offenen Feindschaften verbindet Trevor Horn und Green Garthside ein Ehrgeiz, etwas Neues, noch nicht Dagewesenes auf die Beine zu stellen. Ich kann nicht sagen, wo Trevor Horn po­litisch steht, er mag wertkonservativ sein, und er konnte Punk beispielsweise überhaupt nicht ausstehen, er ist ein richtiger Mucker, aber er steht für eine Form von Spektakel, genau wie Green Garthside und alle Leute der Postpunk-Ära.

Was Green Garthside und seine Band Scritti Politti so besonders macht, ist die Unentschiedenheit. Garthside schreibt zeitlose Songs, aber er taucht eben in einer Zeit auf, als radikale po­li­tische Ideen zirkulierten. In der Musik von Garth­side ringen klassische Popmelodien und eine intellektuelle Haltung beständig miteinander. Er steht Pop kritisch gegenüber, und er merkt, dass Pop, gegen sich selbst gewendet, reaktionär sein kann. In seiner Figur verbinden sich also Talent und Musikalität mit dem kritischen Diskurs über Popmusik. In den späten Sechzigern wurde mit Pop eine Menge befreiende Ener­gie erzeugt. Schon Mitte der Siebziger war diese rockistische Explosion aber selbst zum Problem geworden.

Das stellt Garthside vor einen Zwiespalt: Einer­seits hat er durch seine Naturbegabung diesen Drang zum Popsong, andererseits saugt er all die Theorien über die Kontrollmechanismen von Popkultur auf und über die Kulturindus­trie als regulierendes Instrument. Rock per se kommt ihm 1978 verdächtig vor, das Authentizitätsgehabe nervt ihn, und an l’art pour l’art glaubt Garthside eh längst nicht mehr. Und weil er all diese Widersprüche in sich vereint, macht er auch diese Metapopmusik. Eine Musik, die sich selbst kritisiert und alle Strukturen offenlegt. Das Faszinierende ist ja, dass die Musik von Scritti Politti voll melodischer und rhythmischer Schönheit ist und in den Texten gleichzeitig alle Grundannahmen der Rockmusik hinterfragt werden. Und es gibt diesen Impuls, Song­struk­turen auseinanderzunehmen. Das macht die Musik zu einem grandiosen Durcheinander (im Original: »mess«; J.W.). »Messthetics« heißt ein früher Scritti-Politti-Song.

Mir kommt Garthside fast schizophren vor. Er reibt sich auch physisch und psychisch an Pop auf, weil er zu viel darüber nachdenkt und weil er glaubt, die Lösung gefunden zu haben: Seine Liebe zu Pop stellt er trotz alledem ungebrochen dar, und er glaubt auch, in Pop utopisches Potenzial zu erkennen. Nach der chaotischen Anfangsphase seiner Band wurde aus Scritti Politti eine chartskompatible Popband. Da ließ sich Garthside in New York von amtlichen R&B-Produzenten im großen Stil inszenie­ren, und in diesen Songs thematisierte er seine Faszination der Black Music. In den Texten setz­te er sich mit dem romantischen Liebeskonzept auseinander und mit dem Begriff Soul. Anfang der achtziger Jahre hatte er die Dekonstruktion und die Theorien von Jacques Derrida für sich entdeckt. Wieder steckt die Musik voller Widersprüche. Sie war glatt und mit mehr Wumms, aber immer noch hin- und hergerissen zwischen ästhetischer Soulfulness und Funk auf der einen Seite und ihrer Dekonstruktion andererseits.

Hat die Politik von Reagan und Thatcher die Leute angetrieben, etwas Neues in der Musik zu schaffen, als Gegengewicht und Statement des Nicht-Einverstandenseins?

Nein, Erschütterung und Verunsicherung fangen bereits bei Punk an. Mit Postpunk geht diese Entwicklung dann aber unvermindert weiter. Aber der Funke zündete in den Jahren 1976 und 1977. Damals waren Thatcher und Reagan aber noch gar nicht im Amt. In Großbritannien regierte eine – aus heutiger Sicht – linke Labour­regierung unter James Callaghan. An der Spitze der USA stand der Demokrat Jimmy Carter. Er war sicher nicht links im europäischen Sinne, aber seine Regierung hatte noch ein Augenmerk auf die Wohlfahrt gerichtet. Carter war wohl eher liberal. Der rechte Backlash war aber bereits im Anzug. Im Winter 1978/79 gab es eine Versorgungskrise in England, ein Streik legte das ganze Land lahm. Als Thatcher im Mai 1979 an die Macht kam und Reagan im November 1980, war eine Polarisierung zu spüren, die Linke driftete weiter nach links. Postpunk ging als Teil der Linken diesen Schritt mit. In den USA ging die liberale Mitte verloren und neigte sich nach rechts zu den Konservativen. Nur so ist es zu erklären, dass Reagan bei gemäßigten Wählern der Demokraten Stimmen einheimste. Was man »Reagan Democrats« nannte, war seine er­folgreiche Strategie, an die tiefsitzenden Ängs­te und Unzufriedenheit der Bürger zu appellieren.

Postpunk war die vielleicht letzte linke Musikkultur. Eine Musikkultur, die auf Inhalt genauso viel Wert legte wie auf die Form.

Postpunk war zumindest in England eine explizit linke Musikkultur. Mir ist gar keine rechte Postpunkband bekannt. Das Spektrum war aber sehr heterogen, da tummelten sich erklärte Partei-Kommunisten, wie zum Beispiel Green Garthside, der im Jugendverband der englischen Kommunisten aktiv war; so haben Scritti Po­litti auch Benefizkonzerte für die KP gegeben. Dann gab es auch noch die Trotzkisten von der Socialist Workers Party. Von ihnen ging etwa die »Rock Against Racism«-Bewegung aus, die in der Auseinandersetzung mit der National Front und den Skinheads wichtig war. Es gab aber auch gemäßigte Linke, Anarchisten und Situationisten, Leute von der Kunsthochschule und aus anderen nicht-organisierten linken Gruppen, zu denen ich mich zählen würde.

Die USA waren anders, denn die amerikanische Postpunkszene war eher Boheme-orientiert als politisch. Es ging um Zurschaustellung eines nonkonformistischen Lebensstils, die Kunst sollte so extrem wie möglich sein, und die Lebenseinstellung war untrennbar damit verbunden. Es ging mehr um Überschreitung als um Revolution. Amerikanischer Postpunk war nihilistisch und dekadent, eine Kultur der Freaks. Wenn es um den Einfluss auf den poli­tischen Mainstream geht, dann steht die Linke in Amerika traditionell auf verlorenem Posten. Rebellion drückt sich dort also immer individuell aus.

Was Stil und Ästhetik angeht, gab es im Postpunk ein großes Interesse an älteren Modellen. Minimalismus und eine Kühle im Ausdruck galten als Nonplusultra. Damit meine ich auch eine Nüchternheit und Disziplin im Erscheinungsbild. Was die Bildsprache und grafische Gestaltung angeht, bediente man sich namentlich bei den russischen Konstruktivisten, wie Majakovsky, aus der kurzen kreativen Periode nach der russischen Oktoberrevolution.

Die frühen Achtziger waren auch eine Zeit, in der die Leute sehr viel Speed nahmen, die Atmosphäre bei Konzerten war zum Teil irrational und gewalttätig aufgeladen, auch um Hippies abzuschrecken.

Ich war damals noch ein Teenager, die Atmos­phäre empfand ich auch als aufgeheizt, aber nicht als bedrohlich. In den Zeitungen wurde dagegen fast ausschließlich über Gewalt berichtet. Speziell die Band Gang of Four hatte tatsächlich Ärger mit der National Front, weil die wusste, dass Gang of Four links waren. Zahlreiche Gesprächspartner aus meinem Buch berichteten mir immer wieder von gewalttätigen Vorfällen. Da sie wie Punks aussahen und Punks in der Gesellschaft zu Hassobjekten erklärt wurden, wurden sie auch angegriffen. In meiner Erinnerung waren speziell Konzerte eher sichere Häfen, weil man da zumindest unter sich blieb.

Meine einzige negative Erfahrung machte ich nach einem Konzert. Killing Joke spielten, und sie führten beim Konzert so eine Art Stammesritus auf. Punks waren an sich nette und freundliche Mitbürger, aber die Energie bei dem Konzert war düster, ja sogar dionysisch, was speziell die Spießer im Publikum verunsicherte. Auf der Bühne ging es rüpelhaft und unzivilisiert zu, aber es war deutlich als performativer Akt zu erkennen. Auf dem Weg nach Hause wurde ich von den Normalos durch die Straßen gejagt. Ich sah aus wie ein schwächlicher Punk und gab ein vermeintlich leichtes Opfer ab. Beim Wegrennen wurde mir klar, dass diese Leute gar keine subkulturellen Bezüge haben, die Normalos konnten sich gar nicht durch die Musik definieren. Ihnen fehlte der Code zum Knacken der semiotischen Gewalt auf der Bühne, deshalb mussten sie durch dieses Missverständnis gewalttätig werden. Punk und Postpunk drückten ihre Entfremdung dagegen durch den Stil aus.

Warum wurde es für Frauen leichter, eine Postpunk-Band zu gründen und ein Instrument zu spielen?

Die Ideologie jener Jahre beschwörte einen Unisex-Spirit, Männer sollten ihre weibliche Seite zeigen und Frauen ihre männliche Seite. Was mit Punk zaghaft anfing, nahm dann bei Postpunk Fahrt auf. Frauen ließen sich nicht mehr in den Hintergrund drängen und wurden auch nicht mehr ausgeschlossen. Es gab eine ganze Anzahl Bands, in der nicht nur eine Sängerin wirkte, sondern auch Schlagzeugerinnen und Bassistinnen. Vorher waren Instrumente wie Bass und Schlagzeug Männern vorbehalten, spe­ziell der Job an der Schießbude galt für Frauen als zu heavy. Der Postpunk brachte faszinierende Musikerinnen hervor. Laura Logic zum Beispiel. Die Schlagzeugerin Palmolive von den Raincoats. Tina Weymouth, die Bassistin von den Talking Heads. Es gab Delta Five, die zwei Bassistinnen hatten, viele Bands hatten eine gemischte Besetzung mit Männern und Frauen, wie die Au Pairs, auch das undenkbar bei Progrock. Und das war ganz selbstverständlich, da wurde nicht groß drüber geredet. In den Weeklies gab es ab und an aber schon Texte, die »Frauen im Rock« thematisierten oder den Sexismus in der Szene. Disco war nicht mehr der Feind, wie noch zu Punkzeiten. Disco und Tanzen und Ausschweifung waren inzwischen cool geworden. Wenn etwas verdächtig war, war das Heavy Metal. Sein Muckertum sah man als protofaschis­tisch und frauenfeindlich an, als Domäne sexistischer Machos. Postpunk definierte sich gegen Heavy Metal. Verpönt war auch der Oi!-Sound, die Musik der englischen Skins. Da gab es auch keine weiblichen Bands.

Warum war die Zeit 2002 reif, »Rip It Up« zu schreiben?

Ursprünglich wollte ich bereits 1993 ein Buch über Punk schreiben und all das abdecken, was danach geschah. Aber ich stehe dem Phänomen Punk inzwischen sehr kritisch gegenüber. Das Buch hätte von Punk über Postpunk zu Industrial und Gothic führen sollen, bis hin zur Gegen­wart des Jahres 1993. Damals war ich aber musikalisch ganz woanders angelangt und schrieb zusammen mit meiner Frau Joy Press »The Sex Revolts«, ein Buch über den Zusammenhang zwischen Gender und Rockkultur. Dann bin ich auch kopfüber in die Rave-Szene abgetaucht. Ich entdeckte etwa bei Jungle eine Menge Gemeinsamkeiten zu Postpunk, da gab es Elemente, die mich angenehm an A Certain Ratio erinnerten oder an Cabaret Voltaire. Postpunk war für mich geschmacksbildend.

Auch für mich persönlich blieb Postpunk wäh­rend der Neunziger ein ständiger Referenzpunkt. Ende der Neunziger entfremdete ich mich wieder von Rave. Elektronische Tanzmusik ging nicht mehr mit der gleichen Geschwindigkeit voran, ich fand, dass die Genres stilistisch ausgeschöpft waren. Dann begann ich nachzudenken und landete wieder beim Postpunk. Ich wurde älter, wunderte mich, was mich zu diesem obsessiven Plattensammler und Musikjournalisten hatte werden lassen.

Am Anfang der Geschichte standen die Sex Pistols und Public Image. Ich war spät dran und entdeckte sie erst 1978, als mein Bruder eine Pistols-Platte angeschleppt hatte. Ich verfolgte dann alles, was kam. Die Auflösung der Pistols und die Gründung von Public Image. Dann die Gang of Four, Talking Heads und Joy Division. Als ich dann über die entscheidenden Jahre mei­nes Lebens nachdachte, fand ich heraus, dass auch andere Leute wieder beim Postpunk angelangt waren. Der englische DJ Andy Weather­all veröffentlichte 2000 eine tolle Compilation namens »Nine O’Clock Drop« mit Songs aus den Genres Postpunk und Industrial. Es gab dann auch eine Anzahl Bands, die immer wieder auf ihre Postpunk-Einflüsse verwiesen. Und ich dachte, niemand hat diese Ära je in einem Buch beschrieben. Es gibt zwar einige Musikerbiografien und »Ranters and Crowd­pleasers«, einer Samm­lung alter Texte des amerikanischen Rockjourna­listen Greil Marcus aus der Postpunk-Zeit. Beim Schreiben von »Rip It Up« fand ich auch viel über mich selbst heraus. Über meine Wertvorstellun­gen, woher mein Interesse an Popmusik und Kul­tur kommt. Postpunk ist eine ideale Ära, um über all sowas zu schreiben.

Sie haben mehr als 100 Interviews geführt, die ausgewählten Zitate bilden einen zentralen Bestandteil des Buches. Was bedeutet für Sie die Methode der Oral History?

Eine wichtige Sache an Postpunk als gelebte Erfahrung ist es, dass alles gleichzeitig geschah. Ich konnte diese lineare Vorwärtsbewegung unmöglich in einer historischen Chronik nacherzählen. Also habe ich es in separate Erzählungen über Städte, Szenen, Labels und Genres auf­gebrochen und bin jedem Aspekt einzeln nachgegangen. Ich hätte auch einen thematischen Ansatz wählen können, dann hätte es ein Kapitel über Gender gegeben. Das erschien mir aber zu akademisch und zu leblos. Was mir ganz wich­tig war: dass die Protagonisten als Individuen erscheinen, die zusammenkamen und gemeinsam etwas auf die Beine gestellt haben.

Ich hoffe, aus meinem Buch geht hervor, dass die Leute dafür etwas auf sich genommen haben. Es verlief manchmal nicht alles nach Plan. Alle hatten Träume, die sie wahr gemacht haben, was auch nicht selbstverständlich war in jener Zeit. Meine Protagonisten sollen daher als Helden erscheinen. Die vielen Nachforschungen geschahen auch in meinem eigenen Interesse. Zahlreiche Fakten waren gar nicht bekannt. Sie tauchten auch nie in der Musikpresse auf. Es gab damals nur wenige Interviews mit den bekannteren Bands. Mir war klar, dass ich Zitate wollte, auch von Randfiguren, weil ich mich als einen Autor begreife, der das Gesagte in einen Kontext stellt. Im Vergleich zu anderen Büchern von mir, ist mein Autoren-Ich in »Rip It Up« weniger dominant. Sonst benutze ich Musik auch als weiße Leinwand, auf die ich jede Menge Theo­rie projiziere. »Rip It Up« verstehe ich als Gemein­schafts­projekt. Die Postpunk-Protagonisten sind reflektiert, oft sind diese Leute auch ihre eigenen schärfsten Kritiker. Die vielen Interviews waren notwendig. Als ich in die British Library ging, um Bücher und Zeitschriften aus jener Zeit zu studieren, ergaben sich immer wieder zeitliche Lücken.

Sie gelten als Experte für Science-Fiction-­Literatur. Retrospektiv muten Punk und Postpunk sehr futuristisch an. Was hat Sci-Fi mit Postpunk gemeinsam?

Science Fiction ist eine spekulative Literatur, sie stützt sich auf wissenschaftliche Theorien und Ideen. Auch Postpunk orientierte sich an Ideen. Ein weiterer gemeinsamer Faktor ist die Entfremdung. Science Fiction stürzt sich auf die Zukunft, um die Gegenwart seltsam erscheinen zu lassen, dieser Effekt kommt auch im Postpunk zum Tragen: Die Welt in den Songtexten ist unheimlich. Wenn es bei Postpunk um ständige Erneuerung geht, dann liegt es bei Science Fiction schon in der Natur der Sache, dass Fortschritt zentrales Thema ist. Und das wiederum geht zurück auf die Annahme, dass die Zukunft wirklich anders sein wird, als wir sie uns vorstellen können. Seltsam, aber das Wort Veränderung ist wichtig sowohl bei Science Fiction als auch beim Postpunk. Und die Erregung über den Grad der Veränderung spielt bei beiden eine zentrale Rolle.

Interview: Julian Weber

Simon Reynolds: Rip It Up and Start Again. Schmeiß alles hin und fang neu an: Postpunk 1978-84. Hannibal-Verlag, Höfen 2007, 575 S. 29,90 Euro