Musik ohne Vollbart

Jenseits von Sozialkundelehrerverträglichkeit und allgemeiner Bewerbungsmappigkeit: Punk und New ­Wave als ­pop­interne ­Jugendrevolte. Eine Rückschau auf eine Zeit, in der das Wort »Nein« noch etwas bedeutete. VON FRANK APUNKT SCHNEIDER

Die Jugend ­entweicht aus dem Labor

Die Geschichte von Punk und New Wave in Deutschland ist eingefasst in sozial-, sub­kul­tur‑, ästhetik- und stilgeschichtliche Entwicklungen innerhalb der populären wie der antipopulären Kultur. Popkultur vollzieht sich als Zusammenspiel von Medien-, Technologie-, Kultur-, Bewusstseins- und Mentalitätsgeschich­te. Computertechnologie wurde im Umfeld des New Wave zum Beispiel schneller und viel­schich­­tiger rezipiert als in der Literatur oder im bürgerlichen Feuilleton, wo sie seinerzeit lediglich als Platzhalterin für bildungsbürgerliche Kontrollverlustängste herhalten ­musste. Durch seine Tuchfühlung mit gesellschaftlichen Entwicklungen trägt Punk durchaus Züge einer kulturellen Avantgarde, zumindest bis zu dem Punkt, an dem er sich so weit mit der vorherrschenden Kultur verbacken hat, dass er mit ihr identisch, also Mainstream und Hochkultur wurde. Über Punk und New Wave in Deutschland zu schreiben, heißt also durchaus Kulturgeschichte zu schreiben.

»Pop« als kulturelle Avantgarde zu betrachten, heißt nicht, dass er in jedem Fall »weit« oder »voraus« sein müsste. Avantgarde-Status erhält er auf einer sozialen Praxis- und Relevanz-Ebene. Um Punk und New Wave im deutschsprachigen Raum zu verstehen, ist es sinnvoll, beide als lokale Adaption eines im Prinzip internationalen Phänomens zu verstehen. In Deutsch­land reagierten Punk und New Wave ebenso auf spezifische nationale und regionale Gegebenheiten und Bedingungen wie auf eine allgemeine politische, kulturelle und popästhetische Lage.

Pop ist Ausdruck einer gewandelten Situation der Jugend nach dem Zweiten Weltkrieg. Georg Seeßlen hat in testcard #4 darauf hingewiesen, dass Kindheit und Jugend wie Geschlecht oder Klasse Erfindungen der bürgerlichen Gesellschaft darstellen: Es sei »nur ein paar hundert Jahre her, da war es den Malern unmöglich, ein Kind anders darzustellen als einen kleinen Erwachsenen; niemand wäre auf die Idee gekommen, Kinder anders zu kleiden oder ihnen einen eigenen Lebensraum zuzuordnen, die Welt der Objekte und Bilder einzuteilen in solche für Erwachsene und Kinder.« (1)

Lebensbiografische Abschnitte – konventionalisierte Markierungen, die das all­gemeine Bewusstsein in der Folge als naturgegeben verinnerlicht hat – werden besetzt mit Vorstellungsinhalten, Ideen, Theorien. Diese entstehen im Spannungsfeld sozialer, ökonomischer, wissenschaftlicher und ideologischer Interessen, die Lebensphasen als Abschnitte im Prozess der intendierten Subjektwerdung zurichten: »Kindheit (ist) der Abschnitt der Unschuld, Jugend der Abschnitt der ungestümen Tat, Erwachsensein der Abschnitt der gesellschaftlich vermittelten Arbeit und das Alter der Abschnitt der Weisheit«. (2) Kapitalistische Ökonomie entdeckt und modelliert die »Jugend« als spezi­fische Zielgruppe aufgrund ihrer steigenden Kaufkraft und zunehmenden Dauer. Ein ­Jugendmarkt entsteht, auf dem das Bild der Jugend und der Jugendlichen in Form einer »massenhaften Mythenproduktion« (3) hergestellt wird. »Jugend« gerät so in eine Zwickmühle: Einerseits ist sie eine eigenwertige Lebensphase, die als Idealzustand verklärt und als das berühmte »popkulturelle Versprechen von ewiger Jugend« ausgegeben wird, um eine entsprechen­de Produktpalette zu verkaufen. Andererseits soll Jugend bloße Durchreiche an die Erwachsenenwelt sein. Sie soll möglichst schnell und vollständig überwunden werden. Nachkriegs-»Jugend« wird ein Selbstwiderspruch. Ihr Genuss in der Form des Verbrauchens von Produkten wird von einem permanenten schlechten Gewissen überschattet. Das Vergären von Verheißungen mit Verboten (Sex, Glück, Selbstbestimmung qua Konsument­scheidung, Freiheit) macht Jugend zu einem ex­plosiven Gemisch. Gerade da, wo dieser Selbstwiderspruch nicht rationalisiert wird, schlägt er in ei­nigen erhabenen Momenten zurück, nicht als Gequen­gel, sondern in der Sprache des Systems selbst: Als ansatzlose Gewalt, die plötzlich und »with­out a cause« aufflammt. Die berüchtigte Saalschlacht­gewalt der Adenauer-Ära stellt wohl am ehesten eine Art öffentliche Tagebucheintragung dar über das Gefühl, betrogen worden zu sein. Sie greift das System von zwei Seiten an, sie ist Aufruhr und sie ist nicht erklärbar. Sie hat ­keinen Grund und kein Ziel. Sie ist eine Verwei­gerung von Transzendenz. Ein organloses Nein. Ein herrschaftsfreier Kommunikationsabbruch. Oder auch: eine wirklich freie Entscheidung.

Das Vorrecht der Jugend besteht darin, die ­Erwachsenen als das zu erkennen, was sie im ­Prozess der Vergesellschaftung auch tatsächlich wurden: als Schweine. Das subversive Potenzial von Pop resultiert daraus, diesen gefühlten Zusammenhang gerade in seiner Warenform zu objektivieren. Jedenfalls in manchen Momenten mancher Biografien. Anfang der siebziger Jahre glaubten die Weathermen, Jugend sei an sich ein politisches Faktum und die ­Jugendlichen seien genau die unterdrückte und ausgebeutete Klasse, auf die sich ein zeitge­mäßes Umsturz-Konzept stützen könnte. Und wiederum fünf Jahre später formulierte Sophie Richmond in einem der Single »God save the Queen« beigelegten Manifest mit dem Titel »Social Revolution«: »Punk is teenage rebellion again«.

In seinem ersten Auftauchen war Punk die neue Jugendbewegung. Punk ging über die Tribalismen von Beatniks, Mods, Teds, Haschrebellen etc. hinaus, schon weil er in den folgenden Jahren mit der gesamten Popkultur in der einen oder anderen Form rückkoppelte.

Die siebziger Jahre: Pop wird ­bürgerliche ­Kultur

Die siebziger Jahre sind das Jahrzehnt, in dem Pop nicht mehr nur der Soundtrack der Pubertät (fünfziger Jahre, frühe sechziger Jahre) oder der Adoleszenz (späte sechziger Jahre) war. Weil die mit ihm Sozialisierten sich von ihm nicht lösen müssen wollten, wurde er eine Kulturform, die sie ein Leben lang begleiten sollte. Und um nicht zur nostalgischen Farce zu erstarren, musste er mit ihnen altern. Pop wurde erwachsen. Am Abend der Bundestagswahl 2005 konnte Ulf Poschardt ihn bzw. sein »Freiheitsversprechen« im »ZDF-Nachtstudio« bei Volker Panzer, der das natürlich interessant fand, sogar partei­politisch »eher bei der FDP« verorten. »Freiheit Durch Pop« – eine pfiffige Variation des C-Buchstaben-Gottesbeweises von CDU und CSU!

In den Siebzigern hatte es kaum mehr bedeutende Musikerinnen und Musiker diesseits der 20 gegeben. Für den 17jährigen Mike Oldfield wurde sofort das der Hochkultur entlehnte Wunderkindformat bemüht. Oldfields frühreifer Millionseller »Tubular Bells« zeigte sich erkenntlich, indem er keineswegs teenage rebellion verkörperte, sondern vielmehr auf­ge­dun­se­nen, gutbürgerlichen Werkcharakter und eine altkluge An­spruchs­fülle, deren Jugendlichkeit sich bestenfalls in allzu schlump­figer melodischer Aufgekratztheit verriet.

Punk handelt vom Skandal des Erwachsenwerdens von Pop, der (unter anderem als »Rock«) »eine feiste Musik für Aufsteiger ­geworden« (4) war. Ein popinhärenter Generationskonflikt hatte sich angebahnt: Die Nachgewachsenen, die ebenfalls ihre Poprebellion absolvieren wollten, konnte die entwicklungspsychologisch ­ältere Musik schon rein physisch nicht mehr repräsentieren (zum Beispiel im gängigen Habitus des ernsthaften Rockmusikers aus den siebziger Jahren, dessen Vorliebe für den Vollbart ihn noch mal älter aussehen ließ, als er real schon war).

Der immer schon inszenierte Popaufstand kehrte immer stärker seinen Inszenie­rungs­charak­ter nach außen und verlieh ihm einen Twist in Richtung bürgerliche Re­prä­sen­tations­kultur. Bombast! Wagner! Teure Eintrittskarten! Überwältigungsästhetik as Überwältigungs­ästhetik can! Je länger und ausgiebiger diese Ästhetik am beeindruckenden Werk und am klassischen Werkbegriff war, umso mehr hinterließ sie den Eindruck, an die Eltern­kultur verraten worden zu sein. Die bildungsbürgerlichen Traditionsspeicher wurden komplett durchgescannt und in den Pop verschleppt. Das gesamte Ausdrucksrepertoire ist hiervon betroffen: Songtexte, Namensgebung, Cover- und Plakatgestaltung, Musik, Garderobe, Haare und ein bestimmter Typus von Rockkünstlerblick. Der radikal traditions- und vor allem geschichtslos auftretende Pop verstrickte sich immer tiefer in Tradition und Geschichte. Und das größtenteils unfrech, ironiefrei und humorlos. Schwere, Ernst, Tiefe, Würde und Autorität der herausgesampleten Bruchstücke führten die Untugenden der gerade erst abgestoßenen Bildungskultur mit sich: Elitaris­mus, Bildungsdünkel, Esoterik, Weltflucht, Realitätsferne, und vor allem Werte, Werte und nochmals Werte, einschließlich der gesamten an diesen Bruchstücken haftenden bürgerlichen Ideo­logie, beispielsweise der vom Künstler als Ausnahmetypus, die ihre Entsprechung im über­fließenden Rockgenie fand. Es herrschte ein Klima der (männlichen) Ausnahmemusiker und der Gitarrengötter. Selbst als Trash gibt diese Musik heute wenig mehr her als das Material für mehr oder weniger interessant merkwürdigen Humor (Alan Jenkins, Bobby Conn etc.), der die historische Distanzierung davon durch Punk letztlich nur bestätigt.

Das Altern des Popmarktes als das Altern seiner Zielgruppe zeigt sich zum Beispiel am Wechsel des Tonträgerformats: von der billigen Single zur teureren Langspielplatte. Die Langspielplatte war Ende der sechziger Jahre zum eigenständigen Ausdrucksformat geworden; ein Faktum, das wegweisend auf den LPs der Beatles seit »Revolver« (1966) ästhetisch verarbeitet wurde. Konsequenzen waren die Langatmigkeit von Psychedelic, die nicht ausschließlich dem Konsum langatmiger Drogen angelastet werden kann, sowie Sinfonieformen von Rock und das Konzeptalbumformat des Prog-Rock. Insofern war die LP eine Passepartoutform für Kunstgewerbe, die den jugendlichen Überschwang der Rock’n’Roll- und Beat-Singles mit ihren materialästhetisch realisierten Antiwerten wie Schnelligkeit, Schnelllebigkeit, Vergänglichkeit und Unbekümmertheit verdrängte. Punk, New Wave und die nachfolgende Independentkultur eigneten sich dann die Single wieder als eigenständige Ausdrucksform anstelle eines ausgekoppelten LP-Teasers an.

Besonders wird der Backlash in die Hochkultur spürbar in der Entfernung von Rezeption und Produktion. Die Formen der Beteiligung am Bombastrock waren die des 19. Jahrhunderts: Staunen – Sprachlosigkeit – Sehnsucht – Verehrergemeinde – Geniekult. Die Aufführungssituation, sprich das Konzert als die wichtigste Schnittstelle der Rockkultur, zerfällt in die theatralische Getrenntheit von Bühnengeschehen (aktiv) und Rezeptionsmasse (passiv). Dazwischen eine Wand aus verschwommener, unüberbrückbarer Distanz, die mit Tro­cken­eisnebel avalonistisch bespielt wird. Die beginnende Burgen-Ritter-Metaphorik des Fantasy-Rock spricht deutlich aus, wie sich Rockmusik selbst vorkam. Tanzen, die wohl basisdemokratischste Publikumsteilhabeform, fällt der sich hochrüstenden Komplexität der Musik zum Opfer oder wird in die andere Hälfte der »Pop«-Öffentlichkeit, in die jetzt boomenden Diskotheken, abgedrängt. Tanzen erlebt im Punk seine Renaissance als Pogo, und das Bespucken der Band und die Gewalt auf Punkkonzerten sind panische Übungen in Distanzlosigkeit.

Zwar gibt es einen anderen Art-Rock- und Fusion-Traditionsstrang, für den Namen wie Recommended Records, Robert Wyatt oder Miles Davis’ Album »Bitches’ Brew« stehen. Ansätze einer Gegenbewegung, die aber im überschaubaren und bescheidenen Rahmen ­ihrer eigenen Reich- und Tragweite verbleibt: in sich zerstritten oder zerfallen, mithin sich selber gänzlich unbekannt, eine Nische inmitten der immer stärker verholzenden Rock-Kultur. Sie findet zu keinem weithin wahrnehmbaren vereinten Auf­treten unter ­einer gemeinsamen Fragestellung, selbst wo sie das versucht (»Rock-in-Opposi­tion«-Bewegung). Die Vielfalt der Szenen und Spielstile schweigt sich eher distinguiert an, und die Vielzahl der Orientierungsmöglichkeiten ließe sich auch sehr gut als umfassende Orientierungslosigkeit erleben.

Rückblickend beschleicht mich der Eindruck, dass der Prog-Rock musikalische Kaltschnäuzig­keit, die Eisigkeit der Konsumformen und den auf die Spitze getriebenen ­Warencharakter weit totaler, kälter und zynischer zum Ausdruck brach­te als das nachfolgende Spiel mit Kältezeichen und meta-zynischen Überhöhungen in Punk und Wave. Das legendäre Pink-Floyd-T-Shirt des Sex-Pistols-Sängers John Lydon (er applizierte mit Filzstift die Worte »I hate« über den Schriftzug »Pink Floyd«), mit dem er in Malcolm McLarens Boutique »Sex« auftauchte, um Johnny Rotten zu werden, war der ins Hasserfüllte gewendete Ausdruck einer ganz privaten Frustration als Hörer und Fan. Als hinzugefügte Werkschicht verdeutlicht die Filz­stift­ergänzung den Resümee-Charakter.

Punk als Aufstand gegen die großen ­Geschwister und Punk als großer Bruder

»I’d rather throw up than grow up«

Stick Men with Ray Guns, ca.1981

Den inhaltlichen Zusammenhalt von Punk stiftete die Dominanz einer Kultur der großen Brüder und Schwestern. Als komplett ausdifferenzierte Rock- und Popkultur. Als deren Angekommensein in der Gesellschaftsmitte. Als normative Besetzung des Phänomens »Poprevolte« mit einem Argument, das ungefähr so ging: »Die wilde Zeit von Pop, also meine, nicht deine Jugend, ist vorbei, aber du kannst gerne mal in meine legendären Platten reinhören, um dir einen Eindruck zu verschaffen.«

Kraft und Herrlichkeit des Punk bestanden da­rin, dass er es schaffte, die ihm unmittelbar vorangegangene Subkulturgeschichte (1968 war ja eben erst vorbei) verdammt alt und verdammt unvorteilhaft aussehen zu lassen. Das, was dann unter der verblassten Bezeichnung »Hippie« gehasst wurde, sah oft ja nur noch wie dessen Trinkhallenausgabe aus. Ohne jenen Glam, den Hippies (zumindest die, die zeitgenössische Fotografien aus Haight Ashbury zeigen) neben Eso-Muff und Eigentlichkeitsjargon ganz unzwei­fel­haft einmal besessen hatten. Ein Mangel, auf den hinzuweisen der Glam Rock kurz zuvor angetreten war.

Lydon-Rottens »I hate Pink Floyd« könnte tatsächlich so etwas wie die zentrale Aussage von Punk gewesen sein. Mit dem Sieg über die ältere Rockgeneration musste sich dann unmittelbar die Sinnfrage stellen. »Die Revolution ist vorbei – wir haben gesiegt!« lautete der Titel eines der ersten Punkberichte von Alfred Hilsberg für das Magazin Sounds (2/1978), in dem bereits Resignation mitschwang. Ab diesem Punkt zerfällt Punk in New ­Wave und dann wiederum in eine komplette Kulturlandschaft. Das Scheitern respektive Veröden der Hippie-Pop-Revolte zu linksliberaler Alternativkultur vor Augen, war sich Punk der eigenen Endlichkeit zunächst durchaus bewusst. Die Flüchtigkeit der eigenen Geschichtssekunde versuchten einige zu kompensieren und zu konservieren, indem ein neuer Gegner erfunden wurde, der sich diesmal durch eine kaum zu irritierende Statik und Existenzweise auszeichnen sollte. Und was lag da näher, als die gesellschaftliche ­Totalität als solche zu erwählen – das »System« mitsamt seinen »Bullenschweinen«. Der unerschütterliche Bestand des »Bestehenden« war die ideale Reibungsfläche, die eine lange – dabei natürlich zwangsläufig auch langweilige – Bestandssicherung garantieren konnte.

Der Tod von Punk war in dem Moment besiegelt, als die ersten »Punk’s-not-dead«-Parolen auftauchten, er also seine eigene Unsterblichkeit als Verwesungsgeruch zu verbreiten begann – darin seinem alten Erzfeind Eric Clapton ähnlich. Punk wurde so zur kulturellen Identität, die kein Durchgangsstadium des Protests mehr sein wollte, sondern der abverlangt wurde, ein ­Leben lang zur Verfügung zu stehen. Eben erwachsen zu werden. Dazu musste Punk ­politisch in einem sozialkundelehrerverträglichen Sinne werden, woran er dann auch zügig verstorben ist, freilich mit Zombiebildungen bis heute. Dass die Band Chelsea ein »Right to Work« einforderte – damit konnte dann sogar Der Spiegel etwas anfangen. Es wäre aber wahrscheinlich niemand entsetzter gewesen als die Punks selbst, wäre die Anarchie plötzlich eingetreten, von der die Schriftzüge ihrer Lederjacken und LP-Beilagen und die Wände autonomer Jugendzentren schwafelten. Dies hätte ja im Sinne Hegels und Adornos das Ende von Punk bedeutet und seine spezifische Form von Asozialismus schnell unterbunden.

Warum der Punk jetzt doch nicht in den USA ­erfunden wurde

Erst als Binnen-Generationskonflikt im Pop trat Punk über die Ufer, und seine einzelnen und rinnsalartigen Vorlaufsformen schwollen zu einem breiten Strom an. Was erst im klaustrophoben, kleinen Großbritannien stattfinden konnte und eben nicht in den kulturgeografisch weitläufigen USA. Punk war ursprünglich eine britische Jugendbewegung, die US-amerikanische Proto-Punk-Impulse aufnahm, bündelte, transformierte und zu einer eigenstän­digen Ideologie zusammenfasste. Hier ist der Bruch zu suchen, der Punk trotz anderslautender Beteuerungen fundamental von Rock, Hardrock oder Rock’n’Roll unterscheidet. Zur Kulturrevolution wurde Punk erst da, wo die diversen Proto-Punk-Momente der Popkultur um eine Dicho­tomie herum remodelliert wurden. Erst diese schweißte die gegeneinander abgegrenzten Binnen-Szenen und -Genres nach außen zusammen und stellte den Interpretationsrahmen für eine Situation, auf die sich ­Throb­bing Gristle implizit mit den Sex Pistols und Richard Hell geeinigt hatten.

Punk-ähnliche Konzepte begannen sich spätes­tens seit der Psychedelic-Ära zu regen, unter anderem in den USA (Sixties-Punk). Bei den Mothers of Invention taucht der Begriff wohl zum ersten Mal im Sinne einer gesellschaftlichen Positionsbeschreibung von Pop-Pranksterinnen und Pop-Prankstern auf: »Hey Punk, where are you going with that flower in your hand?« (in dem Stück »Flower Punk« auf dem Album »We’re only in it for the money«). Von Iggy Pop und den Stooges bis zu den frühen Ramones oder den Auftritten der freilich schon in einem Punksinne den existenten Rockmuff per Crossdressing aufmischenden New York Dolls handelt »der frühe US-Punk« von lokal begrenzten, individuellen und noch vom Schlachtruf »Rock’n’Roll!« gedeckten Konzepten mit lokaler und individu­eller Ausstrahlung – Konzepten also, die nicht über eine im Prinzip schon bekannte ­Ästhetisierung der eigenen Kaputtheit und (a)sozialen Differenz hinauskamen, wie sich in »Please kill me« gut nachlesen lässt. Das »CBGB« in New York war eine Ansammlung von Freaks, Junkies, Barflys, Künstlerinnen, Künstlern und sonstigen gegenkulturellen Existenzen. Ein Parnass. Also eine Boheme, das ungeratene Hätschelkind der bürgerlichen Hoch­kultur­ideologie, wo die ganz Freien wildromantisch hausen. Das »CBGB« behielt die alte Bedeutungsweise von Kunst als Schaukasten bei, in lediglich extremistisch-zugespitzter Form. Ein sich in New York in Scherben wälzender Iggy Pop war peinlich nahe dran an den üblichen Hermann-Nitsch-Aktionen, während Throbbing Gristle sich irgendwo in Großbritannien – so will es zumindest die Legende – deutlich radikaler gebärdeten, indem sie blutige Damenbinden ins Pub­likum warfen. Und »Blank Generation« von Richard Hell bleibt lediglich eine Camus/Rimbaud-Coverversion, die in ihrer Theatralik nicht an den semiotischen Amoklauf von »Anarchy in the UK« herankommt.

Der frühe New Yorker Punk steht in einer kaum veränderten Rocktradition und hat ­genau hier seine Grenze (ausgenommen natürlich die Band Suicide sowie die Nicht-New-Yorker Half Japanese, MX-80 Sound, Devo, Residents etc.). Nachzuhören ist das etwa auf einem mit dem (in aufgeblähten Siebziger-Jahre-Lettern gehaltenen) Schriftzug »Punk« versehenen »CBGB«-Live-Sampler, der keinen einzigen Akkord »Punk« enthält.

Selbst wenn der britische Punk der ersten Generation nur so tat, als würde er alles, was vor ihm gewesen ist, und alles, was noch kommen könnte (»No future«), durchstreichen, so fehlte dem halbherzigen US-amerikanischen Proto-Punk doch genau dieser Wille zur Radikalität. Er nahm seine eigene Rocktradition viel zu wichtig, um für sich absolute Voraussetzungs­losigkeit behaupten zu können. Auszunehmen wäre hier die Cleveland-Szene, Gruppen wie The Electric Eels – weniger jedoch die Dead Boys – und Rocket from the Tombs, die dann mit Pere Ubu eine der ersten New-Wave-Gruppen hervorbrachte. Oder auch Devo und die frühen Talking Heads, bevor deren Musik zu Neo-Fusion mutierte. Im »CBGB« jedenfalls fehlten: der radikale Dilettantismus – wahrscheinlich wären sämtliche Gitarristen der Electric Eels oder von Rocket from the Tombs von Iggy Pop schon nach dem ersten Ton gefeuert worden; der Pop-Futurismus, der, statt sich mit Traditionsumformung zu befassen, das Hier und Jetzt zum Unhintergehbaren erhob; der totale Kollaps von allem mit allem, wie er auf den ersten Sing­les von Pere Ubu überdeutlich zu hören war. Die wirklich interessante US-amerikanische Punktradition (The Germs, Flipper, Angry Samoans, Dead Kennedys, Agent Orange …) beginnt demzufolge auch nach dem Urknall in Großbritannien.

Entscheidend für Punk als »Punk« und alles, was daraus folgen sollte, war wie für jeden Aufstand ein Begriff, eine Fahne und ein Katego­rien­system – eine Trias, die vielleicht bedeutender war als der Aufruf aus dem britischen Punk-Fanzine Sniffin’ Glue: »This is a chord. This is another. This is a third. Now form a band.«

Die nachträglich zusammengeklaubten Vorbilder hatten eben nur Vorbildfunktion, nicht aber die Eigenschaften, die Punk in den Stand einer fast weltumspannenden Bewegung erhoben, die zudem ein Zentrum besaß und deshalb ein allgemeines Medieninter­esse generieren konnte, das Punk tatsächlich in die entlegensten Provinzen brachte. Und die wesentliche Botschaft von Punk war eben nicht: Iggy Pop wälzt sich in Scherben, sondern: »Das kannst auch du!« (so der Label-Aufdruck der Singles des Düsseldorfer Labels Rondo).

Erst als Jugendrevolte wird Punk mehr als die individuellen Rockradikalisierungen, die es immer schon gegeben hat. Einwenden ließe sich vieles gegen eine zusammenschauende Behandlung von so unterschiedlich auftretenden Bands wie PVC und Der Plan. Aber über alle Szene­feind­schaften, alle echten und gefühlten Inkompatibilitäten hinweg bezieht Punk sein Kraft- und Energiezentrum aus derselben Erfah­rung eines Anders-Werdens, aus derselben Infragestellung dessen, was davor war – und das selbst da, wo es sich nur um eine kritische Sich­tung des Vorangegangenen mittels einer neu erworbenen Sensibilität handelte. Nicht der individuelle Unterschied oder die jeweils erreichte individuelle Position einer Band oder eines Projekts auf der Inno­vations-Skala zählen, sondern die Zusammengehörigkeit, die gemeinsame Grunderfahrung: »Das Erlebnis einer Stunde Null. Die Geschichte wurde neu unterteilt in ein Vorher und ein Nachher. (…) Diesem Stunde-Null-Erlebnis lag kein festes, historisch datierbares Ereignis zugrunde, es war eine persönliche Erleuchtung. Einer erfuhr sie 1976, der andere erst 1980, der dritte fand 1979 heraus, dass dieses Ereignis irgendwann 1977 stattgefunden haben muss (und wurde Melancholiker).« (5)

Für mich bilden Punk und New Wave in Deutsch­land ein zusammenhängendes ­Ganzes, bis hin zur Instant-NDW aus den letzten Löchern. Und das lässt sich nicht mittels national­ethni­scher Eigentlichkeitskonstruktionen aus dem Internationalismus von Punk und New Wave heraussperren. Hier kam es zu einem kollektiven Urknall, einer ­kulturseismografisch belegbaren »Explosion verschiedenster Konzepte«. (6) Diese Konzepte waren teilweise nicht ganz so neu, sondern nur aufgeneut, veralteten gerne auch zügig. Manchmal waren sie aber auch so neu, dass sie bis heute nicht wieder eingeholt werden konnten. Hier verrutschten Rezeptions- und Wahrnehmungsparameter. Und ebenso diejenigen der Produktion und Distribution von Musik. Dieser energetische Schub war wertvoll, unabhängig davon, wie gut oder schlecht eine Platte, eine Idee, ein Bandname, ein Cover oder eine These waren. »Alter, das ist so geil, wenn Punk nicht gekommen wär’, dann wäre ich gestorben« (7), zitiert Peter Bigeil, Sänger der mangels Aufnahmen so gut wie vergessenen Hamburger Früh-Punk-Gruppe Cocksucker and Prince, einen Konzertbesucher.

Punk ist die erste große popkulturelle Welle von Konzeptualismus. Alles war eine Frage von Konzepten. Diese waren keine freischwebenden Konstruktionen, sondern sie beziehen sich auf andere Konzepte und stoßen sich ab von anderen Konzepten. Punk und New Wave bezogen sich auf ein internationales setting von Bedeutungen, an denen ortsspezifische Besonderheiten nicht vorbeikommen. Die Dialektik der kulturellen Situation und die Verhandlung darüber, was New Wave jetzt sein soll, wird in den Produkten ausgetragen. Jede New-Wave-Platte und jeder Gruppenname kann als Bezugnahme auf eine voran­gegangene Platte oder Gruppe gelesen werden. Nach der Auflösung der Frankfurter Gruppe Wunder der Technik formieren sich zwei neue Gruppen: Kinderfreundlich und BKA – benannt nach der A- und der B-Seite einer Single der Band Materialschlacht. Insider-Witz, Ernst, Kritik oder doch nur Hommage?

Der Erneuerungsanspruch von Punk und New Wave lässt sich daran ablesen, dass große Teile der bekannten Rockmusik wie unter Zwang noch einmal gespielt werden mussten, und zwar anders und upgedatet. So ziemlich alles kam zumindest als Coverversion zwischen Zerstörung, Wiederaufbau und Novelty Gag unter den neu ausgehandelten Prämissen zur Wiedervorlage. Hier zeigt sich am deutlichsten der dialektische Traditions­begriff von Punk und Wave, über alle Stunde-Null-Böllerei hinweg: Die Tradition, in der Punk und Wave stehen, ist eine gekappte. Tradition wird als das begriffen, ohne das sich nicht spielen lässt. Erst infolge dieses reflektierten Traditionsbewusstseins stellt sich jene unbedingte Ansatzlosigkeit ein, mit der Punk, New Wave und alle Folgekonzepte auf der öffentlichen Bühne aufschlugen, eher, um sie zu beschlagnahmen, als um sie zu erobern.

Wie abrupt Punk auftauchte und welche harten Differenzkriterien gebraucht wurden, um dieses Auftauchen zu ratifizieren, zeigt letztlich, welche Hypothek auf Punk lastete, als er losbrach: immerhin gut 25 Jahre Rocktradition! Punk war also auch das Wissen um das, was jetzt nicht mehr möglich war, aber ebenso das Eingeständnis des eigenen Unwissens. Das galt es produktiv zu machen. Anders gesagt: »I don’t know what I want/But I know how to get it.«

Infantilität als Waffe

Die Verweigerung des Punk gegenüber einem ernsthaften, reifen, erwachsenen Diskurs richtete sich nicht unmittelbar gegen das althergebrachte Establishment. Sie richtete sich gegen das alte Dagegensein, das unter der renitenten Oberfläche längst ein ausgesöhntes Reform-Dafürsein geworden war in Form von mündigen Links-Jungbürgerinnen und -Bürgern, die die Anti-AKW- und Friedensbewegung auf der Suche nach gesellschaftlicher Verantwortung durchstreiften. Die bewusste und gezielte Regression von Punk verhält sich gegenüber deren Vernunft und Moral aggressiv indifferent, stellt sich dumm im Wissen darum, dass dieser gesellschaftliche Bewusstseinsrevolutions-Wurmfortsatz seine Kinder an das System verfüttert. Sie ist darin vielleicht der Räuber-und-Gendarm-Regression der RAF verwandt. Es han­delt sich um ein »Kind-Werden« von Ex-Kindern, die alles werden können sollten, nur eben keine Kinder, worin der Preis für die Gesellschaftsteilhabe an den angeblich unbegrenzten Möglichkeiten bestand. Ein »Kind-Werden« im Sinne von Gilles Deleuzes und Félix Guattaris »1 000 Plateaus«, wo einer der erstaunlichsten Programmsätze der neueren Philosophiegeschichte lautete: »Mann werden – Frau werden – Tier werden«. Werden, um dem Terror des So-Seins zu entkommen. Eine große Weigerung, sich ins Verfügte zu verfügen. Ein heute in der ­allgemeinen Bewerbungsmappigkeit kaum noch vorstellbares »Nein« zur spätmodernen Biografik. Ein Nicht-Schwein-Werden. Ein Zurückgehen hinter die Zurichtungsprozesse, von denen bereits Ador­no und Horkheimer in der »Dialektik der Aufklärung« gesprochen hatten. Allerdings hätte selbst deren Hochkulturrevolte einen völligen Systemdurchlauf bedeutet: Frühbegabtenförderung, Universität, Fördermittelvergabe usw. Punk war dagegen nicht zugangsbeschränkt, und als ausgespielter Infantilismus funktionierte er viel unmittelbarer, verdunkelte sich aber ebenso, wie Adorno dies von der urbürgerlichen Kommunikationsfunktion der Kunst wollte, die nur durch Kommunikationsabbruch als äußerste Form von Kommunikation zu retten wäre. Der Kommunikationsabbruch von Punk könnte in einigen Momenten das restaurative Moment daran überwunden haben, indem er auf nichts mehr irgendwie Fassbares hinauswollte. Etwas davon findet sich noch in jeder Kinder-NDW-Single.

Die Rückeroberung bzw. die Befestigung des Raumes der Kindheit hat jedenfalls im Punk wenig Beimengung von Wehmut, wie aus der Songwriting-Ecke bekannt. Es geht hierbei nicht um die Wiedergewinnung von naturstandsgemäßer Kin­derunschuld, eine proto-romantische Erfindung Rousseaus – es geht um Infantilität als Protestform. Bandnamen gefällig: Fähnlein Fieselschweif, Rich Kids on LSD, The Adolescents, Junge Front, Junge Rümpfe, Die kleinen Strolche. Naivität in allen gelungenen und nicht gelungenen Formen wird ästhe­tisches Ausdrucksmittel. Stilistische Anlehnungen an kindlichen Experimentierbetrieb und kinderindustrielle Ästhetik durchziehen die gesamte New Wave (vgl. die Malerei von Moritz Reichelt und die Ästhetik des von ihm mitbegründeten Labels Ata Tak). Der bis in die Independentmusik der späten neunziger Jahre ­hinein beliebte Einbruch des Krakeligen und Perspektivexzentrischen in Coverartwork, Sound und Textschreibverfahren erzählt davon. Dass völlig sinnfreie Bandenkriege aufflammen ­(siehe hierzu Klaus Maecks Hamburg-Szene-Bericht »Bürger-Krieg im Karolinenviertel« in Rock Session #5), gehört ebenso zu diesem Komplex.

Interessanterweise werden Punk und New Wave in Deutschland schnell Gegenstand von offiziellem und inoffiziellem Jugendschutz. Der Film »Das Leben des Sid Vicious« von Die Tödliche Doris, in dem der dreijährige Oskar, Sohn der ersten Schlagzeu­gerin der Gruppe, Dagmar Dimitroff, Sid Vicious spielt, handelte sich fast eine Anzeige wegen Kin­desmisshandlung ein, und die Szene, in der Oskar im Hakenkreuz-T-Shirt Sid Vicious’ legen­dären Gang über die Champs-Elysées nachstellt, ließ Zuschauerinnen und Zuschauer ernsthaft ­befürchten, dass, obwohl es ihm sichtlich Spaß macht, der »Junge sicherlich einen Schaden fürs ganze Leben abbekommen hat«. (8)

Die Öffentlich-Rechtlichen hielten das in ihrem Namen gegebene Drögheitsversprechen und spaßmuffelten die frech-kessen NDW-Texte aus den Hauptsendezeiten. Das ­ermöglichte sogar einer Gaudiburschenschaft wie der Spider Murphy Gang den »Vorschein« (um es mit Ador­no zu sagen) von Subversivität, nur weil es in ihrem Oktoberfest-Smasher »Skandal im Sperrbezirk« um ein Bordell und die bayrisch-bigotte Marginalisierungspraxis ging, ohne dazu deutlicher werden zu müssen als in der Zeile von den Freudenhäusern, die raus müssen.

Auch der offizielle Jugendschutz kümmert sich liebevoll um Punk und New Wave. Im Indizierungsbrief der Stadt Celle zur ersten LP der Gruppe Die Tödliche Doris wird darauf hingewiesen, »dass die betreffende Schallplatte in Schallplattengeschäften unter der Rubrik ›Neue deutsche Welle‹ ausgestellt ist, die hauptsächlich von Jugendlichen in sehr großer Zahl durchgesehen wird«. Woraus sich folgendes Problem ergebe: »Der künstlerische Charakter der Platte bzw. der Plattenhülle erfordert weiterhin erhebliche Vorkenntnisse, um ihn richtig einordnen zu können. Diese Vorkenntnisse kann man bei Kindern und Jugendlichen nicht voraussetzen. Es besteht daher die Gefahr, dass Jugendliche den Text falsch einordnen und dadurch in ihrer sozial­ethischen Entwicklung erheblich behindert werden.« (9)

Von einem Song der Ärzte, »Claudia hat ’nen Schäferhund«, wurde befürchtet, dass »Kinder und Jugendliche auf deviante sexuelle Aktivitäten hingewiesen und diese positiv be­wertet« würden. Was der Devianzbegriff der Bundesprüfstelle bedeutet, sagt der nächste Absatz etwas unverblümter: »Das körperlich attraktive (!) Mädchen übt keinen hetero­sexuellen Geschlechtsverkehr aus, sie befriedigt sich geschlechtlich mit einem Schäferhund. Dieser beschafft ihr Befriedigung, insbesondere wenn unter dem Esstisch sexuell agiert wird. Zwar wird in der letzten Strophe auf die Gefahr des Verharzens (?) hingewiesen, dennoch wird der Gesamteindruck vermittelt, geschlechtliche Kontakte mit einem Schäferhund überträfen bei weitem heterosexuelle Befriedigung (!).« (10) Die Reihe publicityträchtiger Zensurvorfälle ließe sich fortsetzen.

Auch die vielen Hals-über-Kopf-Aktionen, mit der Punk- und New-Wave-Leute ihre Zukunft auszugsweise verschwendeten, gehören in den Umkreis einer Kinderrebellion für ein intensives Jetzt anstelle eines vagen Später. »No Future« hatte ja nicht nur geheißen: »Ich gebe uns noch fünf Jahre«, sondern auch: »Unsere Zukunft wird ohnehin im Verrat liegen.« Woraus ein »Jung kaputt haut Alterversorgung auf den Kopf« gefolgert wurde. Bausparverträge wurden aufgelöst zwecks Gründung von Kamikaze-­Labels, und der Generationenvertrag (mit sich selbst) wurde radikal aufgekündigt. Das Berliner Label Monogam etwa holte sich sein Startkapital, indem Michael Voigt und Elisabeth Recker den »schönsten Tag in ihrem Leben« verschwendeten, um so das vom Berliner Senat seinerzeit ausgelobte Ehestandsdarlehen zu kassieren. Die bürgerlich-zwangsheterosexistische Institution »Ehe« als Geldbeschafferin für den Underground, was im Labelnamen dann verbrämt wurde – auch das eine Form des Aussteigens durch richtiges Einsteigen. Bei Franz und Heike Bielmeiers Label Rondo war es hingegen noch darum gegangen, eine Erbschaft sinnvoll durchzubringen.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Frank Apunkt Schneider: Als die Welt noch unterging. Von Punk zu NDW. Ventil Verlag, Mainz 2007. 385 Seiten, 17,90 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.

Anmerkungen:

(1) Georg Seeßlen: Kino, Jugend & Gewalt. In: Büsser/Kleinhenz/Neumann/Ullmaier (Hg.): »testcard #4«, Mainz 1997, S. 176-185, S.176.

(2) Ebd., S. 177.

(3) Ebd., S. 178.

(4) Georg Seeßlen: Für Kopf und Bauch. New Wave – ein Aufbruch in der Rock-Geschichte. In: »Vorwärts« 19/1981, S. 21f., S. 21.

(5) Detlef Diederichsen: Wie ich mal meine Jugend verschwendete. In: Zurück zum Beton. Die Anfänge von Punk und New Wave in Deutschland, Köln 2002, S. 111-119, S. 111.

(6) Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur, Mainz 2001, S. 86.

(7) O. A.: Punk. In: »Szene Hamburg« 11/1977, S. 18f., S. 18.

(8) Aus einem Artikel des »Schwarz­wälder Boten« vom 20.6.1983. ­Zitiert nach Wolfgang ­Müller/Martin Schmitz: Presse A-Z zum Film »Das Leben des Sid Vicious«. In: Dies. (Hg.): Die Tödliche Doris. Kino, Berlin 2004, S. 30-33, S 31.

(9) O. A.: Indizierungsbrief der Stadt Celle. In: Wolfgang ­Müller/Martin Schmitz (Hg.): Die Tödliche Doris. Kino, Berlin 2004, S. 99 f., S. 99.

(10) http://dieaerzte.at/biographie