Ton, Steine, Hakenkreuze

Der sächsische Ort Mittweida kam im November in die Schlagzeilen überregionaler Zeitungen. Eine junge Frau hatte behauptet, Neonazis hätten ihr ein Hakenkreuz in die Hüfte geritzt. Später tauchten Zweifel an ihrer Geschichte auf, sie aber bleibt bei ihrer Aussage. In Mittweida prägen nach wie vor die Neonazis das Stadtbild. Von Andre Seitz

An der Ortseinfahrt von Mittweida staut sich der Verkehr. Zehn Polizisten haben sich auf einem Parkplatz am Ortseingang postiert und leuchten mit Taschenlampen in jedes Auto. Ein Autofahrer wird zur Kontrolle auf den Parkplatz gewunken. Es ist der Abend des 21. Dezember. Bereits seit mehreren Tagen kursieren Gerüchte, dass Neo­nazis in dem kleinen Ort in Sachsen mal wieder einen Aufmarsch planen. Mindestens eine Hundertschaft der Polizei ist seit mehreren Tagen in der Stadt unterwegs.

Auf dem Parkplatz eines Supermarkts stehen Einsatzfahrzeuge, drei muskelbepackte, glatzköpfige Männer in Bomberjacken werden von Po­lizisten festgehalten. In den Straßen warten einzelne Leute in Neonazi-Outfit. Am Bahnhof sammelt sich eine etwa zehnköpfige Gruppe. Einige von ihnen treten auf Verkehrsschilder und Hauswände ein.

Einige Autos mit den auffälligen Zahlen »88« oder »18« im Kennzeichen drehen auf dem Stadtring ihre Runde. Auf dem Markt steht Micha, einer der Jugendlichen, die seit zwei Jahren versuchen, Platz für ein alternatives Zentrum in Mittweida zu finden. »Alle, die Mittweida hassen, sollen heute Abend hierher kommen, haben die Nazis per E-Mail und SMS gefordert«, erzählt er. »Eben hat uns eine Gruppe von 15 Nazis verfolgt, wir konnten gerade noch abhauen.«

Zusammen mit Micha hat sich ein Grüppchen linker Jugendlicher am Markt eingefunden. Auf dem Markt rangieren fünf Einsatzwagen der Poli­zei hin und her. Von einer Ecke des Marktes schal­len undeutlich Sprüche herüber. »Da sind doch welche dabei, die uns vorhin verfolgt haben«, sagt einer. Die andere Gruppe ist optisch auf den ersten Blick nicht von den Linken zu unterscheiden. Die Leute tragen Basecaps, Zimmermannshosen, Kapuzenpullis und schwarze Wind­brea­ker. Nur aus der Nähe sind auf manchen Win­ter­jacken die kleinen norwegischen Fahnen, Signet der Thor-Steinar-Kollektion, zu erkennen. Die Polizei hält die »Kameraden« fest und filmt jeden einzelnen ab.

Am Wochenende um den 15. Dezember wurden auch größere Gruppen von Neonazis in der Stadt gesichtet. »Es bleibt dabei: Die Presse lügt!« war auf den Flugblättern des »Freien Netzes Chem­nitz« zu lesen, die in vielen Briefkästen in Mittweida steckten. »Nach Sebnitz, Potsdam und Mügeln muss diesmal Mittweida dran glauben. Das Schema ist immer das gleiche. Ein Fall ›rechter‹ Gewalt nach dem anderen wird hochgejubelt, um vorerst verbal und dann mittels staatlicher Repres­sionsmaßnahmen auf die nationale Opposition einprügeln zu können.«

Die Staatsanwaltschaft Chemnitz hatte in der Woche zuvor überraschend erklärt, sie ermittle im Fall der jungen Frau, der nach eigenen Aussagen Anfang November von Neonazis ein Hakenkreuz in den Schenkel geritzt worden sei, »in alle Richtungen«. Die 17jährige hatte ausgesagt, einem kleinen sechsjährigen Mädchen in Mittweida gegen Neonazis zu Hilfe gekommen zu sein. Da­raufhin sei sie von diesen selbst angegriffen wor­den und man habe ihr ein Hakenkreuz in die Hüfte geritzt. Zwei Gutachten sollen nach Poli­zeiangaben schließlich zu dem Schluss gekommen sein, die junge Frau habe sich die Verletzung auch selbst zufügen können.

Trotz zahlreicher öffentlicher Aufrufe haben sich bisher keine Zeugen der Tat gemeldet. Die Ermit­t­ler machten die Sechsjährige ausfindig, die die An­gaben der 17jährigen zunächst bestätig­te. Dann teilte die Staatsanwaltschaft Chemnitz überraschend mit, dass sich die Aussagen des Mäd­chens als falsch erwiesen hätten. »Später hat sich die Mutter des Kindes gemeldet und gesagt, dass die Familie in der Tatzeit verreist war«, sagte Oberstaatsanwalt Bernd Vogel. »Manche Fälle nehmen eben eine eigenartige Wendung.«

Zweifler hatten bereits zuvor das Beispiel einer Schülerin aus Halle in Sachsen-Anhalt angeführt, die sich 1994 selbst Hakenkreuze in die Haut geritzt und sich als Opfer von Neonazis aus­gegeben hatte. Sie hatte damals Anzeige erstattet, weil ihr drei Neonazis ein Hakenkreuz in die Wange geritzt haben sollen. Die Behauptungen der Gymnasiastin erwiesen sich später als falsch.

Nach den Äußerungen der Chemnitzer Staatsanwaltschaft wollten viele auch den Mittweidaer Fall für erledigt erklären. Was in der Aufregung allerdings unterging: Die junge Frau bleibt nach wie vor bei ihrer Darstellung. Und die Neonazi­szene in Mittweida ist keine Schimäre, sondern bittere Realität.

Auch am 8. Dezember gab es in Mittweida einen Aufmarsch von Neonazis. Ein Aufmarsch im über 100 Kilometer entfernten Bautzen war verboten worden, deshalb nutzten die Neonazis die angekündigte »Weihnachtsbergparade« in Mittweida, um medienwirksam vor den Kamerateams des MDR zu demonstrieren. Sie zogen mit Transparenten durch die Stadt, auf denen zu lesen war: »Sie sagen: ›Paragraf 129‹ und meinen damit uns alle!« oder, nach einem Zitat der Gruppe Ton Stei­ne Scherben, »Sie würden uns gern im Knast begraben.«

Solche Aktionen werden im Internet vor allem auf den Seiten der ostsächsischen Neonaziszene, »jugend-offensive« und »demo-lausitz«, und auf dem seit Juni existierenden Webportal »Freies-Netz« angekündigt. Auch an den diesjährigen Auf­rufen zu Demonstrationen in Dresden für den 13. Februar sind das »Freie Netz Chemnitz« und das »Freie Netz Altenburg« beteiligt. »Freies-Netz« gilt als das gemeinsame Projekt von Neonazis aus Delitzsch, Altenburg und Hof. Ihr Ziel soll eine län­der­übergreifende Vernetzung der Neonazi­sze­nen aus Ostthüringen, Westsachsen, Süd-Sachs­en-Anhalt und Nordbayern sein.

Maik Scheffler aus Delitzsch ist Geschäftsführer des »Front-Versands«, der auf den genannten Webportalen verlinkt ist. Er handelt bevorzugt mit T-Shirts und Kapuzenpullis, auf die Zitate der Band Ton Steine Scherben und nationalsozialistische Slogans gedruckt sind. Auf den rot-weißen »Girlie-Shirts« etwa ist zu lesen: »Opa war in Ordnung – Ehre, wem Ehre gebührt« oder »Enjoy the revolution – Fuck America«. Ein Button trägt die Aufschrift: »Unsere Krawatten stehen jedem«. Daneben ist eine Henkerschlinge abgebildet.

Zur Jahreswende gab es in Mittweida und Umgebung erneut Verfolgungsjagden von Neonazis auf Linke. Im Nachbarort Falkenau wurde zu Weihnachten ein kleiner Jugendclub überfallen. Mittweida und seine Umgebung sind zwar aus den Schlagzeilen verschwunden, besser geworden ist die Lage aber nicht.