Neue Studien zum Werk Michel Foucaults

Die Wahrheit ist von dieser Welt

Er war kein Strukturalist, kein Hermeneutiker, kein Nihilist, kein Revolutionär oder Weltverbesserer: neue Studien zum Werk Michel Foucaults.

Trotz zahlreicher in den letzten fünf Jahren erschienener Publikationen zu Michel Foucaults Werk wäre es übertrieben, von einer Foucault-Renaissance zu sprechen. Oder ganz einfach falsch. Für eine Renaissance ist Foucault zu lange en vogue, auch hierzulande. Hinzu kommt: Die Übersetzungen seiner berühmten Vorlesungen über »Die Anormalen« (2003) oder die »Geschichte der Gouvernementalität« (2004), die er einst am Collège de France hielt, sowie die postume Herausgabe der gesammelten »Schriften« (»Dits et Ecrits«) in vier wuchtigen Bänden haben Foucaults Rang eher bestätigt als entscheidend erhöht. So viel Spannendes, Klarheit Schaffendes und – ja, auch dies – neue Unklarheiten Erzeugendes es in seinem Nachlass zu entdecken gab und gibt, die großen Linien seines Denkens waren zuvor schon abgesteckt.
Foucaults ebenso disparates wie umfangrei­ches Werk wirkt also bis heute fort. Nicht so sehr innerhalb der Philosophie, deren etablierte Vertreter den schlanken, eleganten Mann mit der markanten Glatze und dem stechenden Blick nie als einen der ihren betrachten wollten (was er wohl auch nicht war). Umso stärker aber werden seine Ideen innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften rezipiert. Grundbegriffe seines nomadischen, bis zu seinem Tod äußerst beweglichen Denkens wie »Archäologie«, »Genealogie«, »Bio-Politik«, »Diskurs«, »Macht«, »Dispositiv« gehören zum (Standard-)Vokabular unterschiedlichster Disziplinen, etwa zu dem der Politikwissenschaft, Pädagogik, Medien- oder Kunstwissenschaft, von den Literaturwissenschaften, den Cultural und Gen­der Studies und der Soziologie nicht zu schweigen.
Sogar die Wissenschaft vom Sport hält es mit Foucault. Kai Reinhart zeigt in einem Aufsatz des umfangreichen und kundigen, von Clemens Kammler, Rolf Parr und Ulrich Johannes Schneider herausgegebenen Handbuchs »Foucault. Leben–Werk–Wirkung«, dass sich Sportwissenschaftler nicht selten auf die von Foucault beschriebene Machttechnologie der Disziplinierung konzentrieren. Eigentlich kein Wunder: Die meisten von Profis und engagierten Amateuren betriebenen Sportarten scheinen ja regelrecht kolonisiert von dieser auf absolute Kontrolle und sorgsame Abrichtung des Körpers zielenden Machtpraxis mikroskopischen Zuschnitts. »Der Wille des Staates«, schreibt Reinhart, »wird nirgendwo so sichtbar wie in den gestählten Körpern der Medaillengewinner.«
Als durchaus instruktiv, wenngleich in einigen Punkten strittig und argumentativ stellenweise etwas sehr assoziativ geraten, erwies sich Anfang des Jahres Philipp Sarasins Versuch des Nachweises, Foucault sei ein Nachfahre Darwins. In seinem Buch »Darwin und Foucault« beschreibt der Zürcher Historiker seine beiden Protagonisten als radikale Antimetaphysiker und Nominalisten, deren genealogische Vorgehensweise sie zwangsläufig weg von der vermeintlichen Identität der Dinge, fort von der ontologischen Idee einer Wesenhaftigkeit führen musste – zugunsten einer Vielfalt (singulärer) Anfänge und einer Vielzahl von möglichen biologischen und historischen Wegen und Wahrheiten.
Sarasins Vergleich zieht ihren Gewinn unter anderem aus der originellen Perspektive, mit der er Geistes- und Naturwissenschaften nicht auseinander-, sondern gewissermaßen zusammenbringt. Eine Perspektive, die nach Ähnlichkeiten zwischen beiden Ausschau hält und nicht wie üblich mit Foucaultschen Werkzeugen eine machtreflexive Diskursanalyse der naturwissenschaftlichen Wissenspraxis vornimmt, wie sie etwa Hans-Herbert Kögler im Kapitel »Naturwissenschaften« des erwähnten Handbuchs beschreibt.
Geistige Weggefährten und Verehrer hatte der französische Geschichtsphilosoph viele. Einer von ihnen, der mit Foucault befreundete Didier Eribon, veröffentlichte 1989 diejenige Bio­grafie Foucaults, die bis heute, in 16 Sprachen übersetzt, zu Recht als Standardwerk gilt. Ein Studienkollege, Freund und Ratgeber Foucaults, der berühmte Althistoriker Paul Veyne, hat vor einem Jahr nachgelegt und Foucault ein Denkmal in Gestalt eines kleinen, aber umso leidenschaftlicheren Buches gesetzt. Im Original trägt es den schlichten Titel »Foucault. Sa pensée, sa personne«. Der Reclam-Verlag hat es, gar nicht mal unpassend, »Foucault. Der Philosoph als Samurai« genannt.
Veyne erzählt Foucaults Geschichte als Geschichte seines Denkens und bisweilen mit der Rhetorik eines Verteidigers, der einen sträflich Verkannten um jeden Preis in Schutz zu nehmen gedenkt. Andernorts beschreibt er Foucault, als sei der geradewegs einem antiken Heldenmythos entsprungen, nämlich als »unbeirrbaren Mann, der vor nichts und niemandem zurückschreckte und der in seinen intellektuellen Gefechten die Feder wie einen Säbel führte«. In Anbetracht der immensen Akzeptanz, die Foucaults Werk heute erfährt, kommt man nicht umhin zu vermuten, dass Veyne die breite und mehr als wohlwollende Rezeption der Gedanken seines Helden möglicherweise verschlafen hat. Einerseits.
Andererseits hat hier ein Freund und Kollege seine Erinnerungen aufgeschrieben. Und tatsächlich gab es ja Zeiten, in denen Foucault insbesondere Philosophen Angst einzujagen vermochte (das Gros der französischen Historiker ignorierte ihn eher). Eben weil er in Studien wie »Wahnsinn und Gesellschaft« und »Überwachen und Strafen« anhand der genealogischen Untersuchung konkreter institutioneller Praktiken nachweisen konnte, wie sehr Wissen und Macht miteinander verschränkt sind und – schlimmer noch – die Idee einer alles überdauernden Wahrheit nicht nur in Frage stellte, sondern ihr, nach hilfreicher Vorarbeit Nietzsches, auch noch das letzte bisschen Unschuld nahm. Im Band III der »Schriften« schreibt Foucault: »Die Wahrheit ist von dieser Welt. Sie wird in ihr dank vielfältiger Zwänge hervorgebracht. Und sie hat in ihr geregelte Machtwirkungen inne. Jede Gesellschaft hat ihre Wahrheitsordnung, ihre allgemeine Politik der Wahrheit.«
Mag sein, dass »Der Philosoph als Samurai« als eine weitere von zig bereits existierenden Foucault-Einführungen kaum Neues bringt. Man weiß, zumal als fleißiger Foucault-Leser, dass er kein Strukturalist, kein Hermeneutiker, kein Nihilist, kein Revolutionär oder Weltverbesserer war. Eher ein durch und durch skeptischer Denker, der sich mit spontanem Engagement für die eine oder andere Sache politisch handelnd einsetzte und dessen teils in sich widersprüchliches Werk eine nicht unbeträchtliche Nähe zur verstehenden und historisch fundierten Soziologie Max Webers aufweist. Wenn sich Veyne, auch um den Preis der Wiederholung, emsig bemüht, seinen Protagonisten von falschen Etikettierungen zu befreien, kann man sicher sein, dass er nicht der erste ist. Das ist vielleicht ein bisschen tragisch.
Und doch ist es ein mit Einschränkungen empfehlenswertes Buch. Gerade weil es mit viel Leidenschaft und persönlicher Zuneigung des Autors zu seinem Protagonisten geschrieben wurde, ist es anders, beschreibt es möglicherweise umso prägnanter den großartigen Schriftsteller, dessen widerständigen Geist wie auch das enor­me Gewicht seiner philosophischen Einsichten. Foucault, der homosexuell war, starb am 25. Juni 1984 in Paris an Aids. Gern würde man die Vielzahl spannender Bücher gelesen haben, die er mit Sicherheit noch geschrieben hätte.

Paul Veyne: Foucault. Der Philosoph als Samurai. Reclam, Stuttgart 2009, 240 Seiten, 19,90 Euro

Clemens Kammler, Rolf Parr, Ulrich Johannes Schneider (Hrsg.): Foucault- Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. (J. B. Metzler, Stuttgart 2008, 454 Seiten, 49,90 Euro

Philipp Sarasin: Darwin und Foucault. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2009, 455 Seiten, 24,80 Euro