»Das wilde Kind« von T. C. Boyle

Boyle spielt Gott

In »Das wilde Kind« kritisiert T.C. Boyle rousseauistische Naturromantik und erliegt ihr schließlich selbst.

Schon in T.C. Boyles letztem Erzählband »Zähne und Klauen« suchten seine Protagonisten den Kick am Rande des Zivilisatorischen, in der direkten Konfrontation mit der un­gezähmten Natur. Mit gewohnt scharfem Blick und einer gehörigen Portion Sarkasmus dokumentierte Boyle, wie sie im Ringen mit den eigenen Sehnsüchten nach »Urwüchsigkeit« eine denkbar schlechte Figur abgaben.
Das Spannungsverhältnis von Kultur und Natur, die durchlässige Grenze zwischen Mensch und Tier fasziniert den amerikanischen Bestsellerautor. So verwundert es nicht, dass er die Novelle über »Das wilde Kind« aus seinem Roman »Talk talk« auskoppelte – ursprünglich als »Text im Text« gedacht, an dem die taubstumme Lehrerin Dana Halter schrieb – und nun als eigenständige Erzählung veröffentlicht.
Ende des 18. Jahrhunderts durchstreifte der später »Victor« genannte »Wilde von Aveyron« nackt und verwahrlost die Wälder Südfrankreichs, um schließlich im Alter von etwa zehn Jahren aufgegriffen und der »Zivilisation« zugeführt zu werden. Boyle ist nicht der erste, der sich an dieser mythisierten Geschichte abarbeitet. Seit Jahrhunderten inspirieren »Wolfs­kind«-Legenden Wissenschaft und Kunst, sind Thema vieler Bücher, Filme und Abhandlungen geworden. Boyle wollte dem Mythos etwas Neues hinzufügen. Herausgekommen ist eine spannende, präzise erzählte Geschichte, deren kritisches Potential jedoch auf halbem Wege steckenbleibt.
In »Das wilde Kind« hat Boyle die Augen, die »Spiegel der Seele«, zum Symbol für Menschlichkeit erkoren. Immer ist es der Blick des Jungen, der sein Umfeld abstößt oder für sich einnimmt. An ihm scheidet sich Tierisches von Menschlichem, und diese fortwährend neu getroffene Entscheidung bestimmt sein weiteres Schicksal. Bei der ersten Sichtung des Jungen – dabei überrascht, wie er mit bloßen Händen Kartoffeln aus einem Acker gräbt und auf der Stelle verschlingt – spricht aus seinen Augen, »so schwarz wie frisch gebrühter Kaffee«, »der Blick eines Wesens aus dem Spiritus Mundi: fremd, gestört, hassenswert«. Es ist die Undurchsichtigkeit seines Blicks, das Rätsel um des Rätsels willen, das die Verfolger zur Verfolgung antreibt. »Sie jagten ihn, weil er vor ihnen davonrannte.« Dies ist der vielleicht treffendste Satz des ganzen Buches.
Leider verfällt der Autor diesem Jagdinstinkt, den er anfangs kritisiert, immer wieder selbst. Anstatt sich mit ironischer Distanz – seiner herausragenden Fähigkeit – den »Jägern« und übereifrigen Wissenschaftlern zu widmen, erliegt er selbst der Versuchung, das Rätsel des »Wolfsjungen« aufbrechen, die opake Fläche seiner Augen durchstoßen zu wollen. Boyle behilft sich mit mehreren Perspektivwechseln, die seltsam unglücklich eingeschoben wirken. Der erste Wechsel hin zu Victors Sicht beginnt folgendermaßen: »Man stelle sich ihn vor, denn er selbst war dazu nicht imstande.« Das Paradoxe des Versuchs, die Innensicht eines Wesens wiederzugeben, dem jegliche Fähigkeit zur Introspektion abgesprochen wird, ist offensichtlich. Dennoch erlegt Boyle, statt diesen Widerspruch anzuerkennen, dem Jungen immer wieder Empfindungen und rudimentäre Gedanken auf. »Er kannte nur das Unmittelbare«, heißt es, oder: »Er hatte kein Wort für Tod und keine Möglichkeit, ihn begrifflich zu erfassen.« Die für die Beurteilung seines Subjekts essentielle Frage – »Wusste er, dass er ein Mensch war?« – beantwortet er sogleich selbst: »Er muss es gewusst haben.«
Victor wird weitergereicht an Wissenschaftler, Geistliche und andere Ehrgeizige, die an seinem Exempel Rousseaus These vom »edlen Wilden« überprüfen wollen. Nach längerer Irrfahrt durch Frankreich, auf deren Stationen er wie eine Zirkusattraktion begafft wird, landet Victor im Pariser Institut für Taubstumme, geleitet vom Abbé Sicard. Während dieser ihn rasch als »unheilbar schwachsinnig« einstuft, nimmt sich der junge Arzt Jean Itard des Jungen an und beginnt, mit ihm zu arbeiten. Wieder ist es der Blick des Kindes, der die erste Verbindung knüpft. Itard »fand darin eine ganze Welt, vielleicht verschlossen und verborgen, aber dennoch vorhanden. Er sah Intelligenz und Bedürftigkeit.«
Doch worin besteht diese »ganze Welt«? Rasch wird deutlich, dass sie, trotz aller Zeit und Geduld, die Itard in den Jungen investiert, nicht viel mehr als seine eigene Projektion sein kann. In seinem unerschütterlichen Enthusiasmus, der sich an jeden Hoffnungsschimmer klammert, und seiner durch minimale Fortschritte ausgelösten Euphorie erinnert Itard an einen unglücklich Verliebten, über den man lachen und zugleich weinen möchte. Blamiert ihn der Junge, indem er sich in vornehmer Gesellschaft die Kleider vom Leib reißt oder völlig ohne Schamgefühl vor den anderen Heimkindern masturbiert, ist Itard persönlich gekränkt und verhängt harte Strafen, nur um am nächsten Tag seine Anstrengungen zu verdoppeln. Nach jeder Niederlage richtet er sich auf an dem, was er in den Augen des »Wilden« zu erkennen glaubt, den Funken Menschlichkeit darin – umschrieben als »Verstand, Gerechtigkeitssinn, Moralempfinden« –, für den es sich zu kämpfen lohnt. Da der Junge nicht selbst auszudrücken vermag, was in ihm vorgeht, versucht Itard, sich in ihn hineinzuversetzen, vollzieht den Perspektivwechsel auf seine Art. Und kommt ihm doch nicht näher, denn letztlich ist auch für ihn das Wolfskind nicht mehr als eine Tabula rasa, auf die er seine Wünsche projiziert.
Der Autor tappt in eine ähnliche Falle. Wo er zunächst treffsicher die illusorische Sehnsucht der Wissenschaftler anprangert, in Victor etwas »Reines, Urwüchsiges« aufzuspüren, verfällt er gegen Ende selbst mehr und mehr in eine rousseauistische Zurück-zur-Natur-Romantik und behaftet das »Wolfskind« mit eigenen Projektionen.
Je mehr der Junge sich von der zarten, unschuldigen Kreatur zu einem ungebärdigen, triebhaften und ganz offensichtlich nur sehr beschränkt lernfähigen Erwachsenen entwickelt, desto öfter gibt Boyle seinen objektiv-ironischen Beobachterposten auf und versucht das Mitgefühl der Leser anzusprechen. Er führt Victors »eben erst erworbene Vorliebe für Komfort« als Gefahr vor, gegen die »sein ursprünglicher Geist, sein freier Geist, sein wilder Geist rebellierte«. Immer offenkundiger werden seine Ausbruchsversuche zu heroischen Akten der Selbstbefreiung stilisiert. Interpretiert man jedoch die Flucht als Versuch des Jungen, sich dem Verständnis der »Zivilisierten« zu entziehen, ihren Klassifizierungen und Zuschreibungen, so zeigt sich, dass auch Boyle zu denjenigen gehört, die Victor einzuordnen und zu ins­trumentalisieren trachten. Während es ihm in »Zähne und Klauen« brillant gelang, den Wunsch nach einem Leben »in Einklang mit der Natur« als Illusion zu entlarven, an dem seine Protagonisten zwangsläufig scheitern, durchschimmert die Figur des Victor genau dieses Pathos ohne jegliche ironische Brechung.
Schließlich sieht Itard ein, dass er nicht Gott spielen kann und gibt den Kampf auf. Boyle dagegen stößt sich bis zur letzten Seite an der Unmöglichkeit, das Unauslotbare zu erfassen, und versagt, genau wie seine Protagonisten.

T.C. Boyle: Das wilde Kind. Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren. Hanser-Verlag, München 2010. 106 Seiten, 12,90 Euro