Kritisiert den Universalismusbegriff in der Integrationsdebatte

Eine Welt zu gewinnen

Was in der Integrationsdebatte als Universalismus verhandelt wird, ist nichts anderes als eine »kulturstaatliche Ergänzung der bürgerlichen Zwangsgewalt«. Ein wahrer Universalismus dagegen wäre einer, der das Einzelne nicht dem Ganzen ­unter-, sondern den Einzelnen als Ganzes überordnet.

Aufklärung, kritisches Denken und emanzipatorische Praxis begründen sich nicht positiv als Universalien guter oder gut gemeinter Ideale, sondern negativ gegen die Universalität der schlechten Wirklichkeit sozialer Verhältnisse. Die Universalismen, oder besser: die zum Universalismus generalisierten Partikularismen, wie sie etwa in der gegenwärtigen Integrationsdebatte kursieren, operieren nicht einmal mehr im Status der Ideologie, des »notwendig falschen Bewusstseins«. Was in der Integrationsdebatte an Universalismen bemüht wird, zeugt von einer Art zufällig falscher Bewusstlosigkeit, präsentiert sich unumwunden als weltanschaulicher Meinungs-Nonsens, als Quatsch, selbst wenn die wesentliche Funktion der Ideologie beibehalten wird, im fröhlichen Spektakel die Brutalität, den mitunter lebensbedrohlichen Ernst, zu verdrängen oder zu überlagern. Gerade im Rahmen der Integrationsdebatte offenbaren sich die falschen Univer­salismen als »kulturstaatliche Ergänzung der bürgerlichen Zwangsgewalt« (Peter Brückner).
Die Integrationsthematik ist, samt ihrer – wenn man das so sagen will – partikular-universalistischen Verrechtlichung und Verregelung, keineswegs neu: Integration und Desintegration sind Grundmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft, spätestens seitdem selbst der Bürger sich seiner eigenen Gesellschaft gegenüber als isoliert und entfremdet erlebt. Die Gesellschaft wird dabei zum Feind, zur Bedrohung, so wie umgekehrt auch Gruppen von Individuen, »Gemeinschaften«, zur Bedrohung der Gesellschaft erklärt werden. Das waren früher die Proletarier, dann die Jugendlichen, die Studenten, die Feministinnen et cetera. Und heute sind es die Migranten.
Definiert war die Integration immer schon durch die Gleichzeitigkeit ihres Gegenteils: Desintegration. Eingeschlossen werden kann nur, wer einmal ausschlossen wurde und auch prinzipiell ausgeschlossen bleibt. Denn Integration ist weder Initiation noch Assimilation, sondern sozusagen nur die kulturelle Legitimation des Aufenthaltsstatus in der Gesellschaft. In der aktuellen Integrationsdebatte werden dafür pseudo- universalistische Werte verhandelt, ein irgendwie zusammengeklebter Kanon aus kulturnationalistischer Hegemonie, Christentum, Halbbildung und Ressentiments. Mit dem faktischen Universalismus, der den sozialen Verhältnissen als ubiquitäre ökonomische Struktur zugrunde liegt, teilen solche Wert-partikularen Universalisierungen das Moment von unbedingter Herrschaft, den allgemeinen Zwang.
Integration vollzieht sich, auch wenn man sich etwa auf die Universalität der Freiheit des Individuums kapriziert, nicht als freie Vergesellschaftung autonomer Subjekte; vielmehr ist sie Adjustment, wie es die Soziologie einmal begrifflich gefasst hat. Und das läuft auf eine gewissermaßen politische Konfirmation des Menschen hinaus: Der Staatsbürger wird in seinem Dasein als Staatsbürger bestätigt (zumeist nur in Hinblick auf staatsbürgerliche Pflichten), und wer noch kein Staatsbürger ist, bekommt eventuell das Angebot, nach gründlicher Prüfung, der er sich zu unterziehen hat, vielleicht auch Staatsbürger zu werden. Das verhandelt die gegenwärtige Inte­grationsdebatte: eine Debatte, bei der sich die demokratischen Variationen von Multikultur wie Leitkultur einig darin sind, dass das Problem der Integration a) überhaupt besteht, b) sich als Problem sogenannter ethnischer oder nationaler Identität bzw. Herkunft darstellt, c) als Problem nationaler Identität durch die – sei’s gelegentlich faktische, sei’s meistens imaginierte – Religionszugehörigkeit kulturalisiert wird. Zum Streitpunkt wird damit in letzter Instanz, was universalisierend in erster Instanz immer schon eingefordert ist: das konservative Bekenntnis zur Tradition.

Denn bei aller säkularen Sachlichkeit, mit der das vermeintliche Integrationsproblem verwaltet wird, verweist die ins Feld geführte Tradition, auf die die Menschen verpflichtet werden, auf alles andere denn auf Aktualität: Das ist die Kirche, der Glaube, letztlich eine »invented tradition« (Hobsbawm), bei der es gar nicht darum geht, ob sie evident ist oder nicht, sondern lediglich um das – und sei es noch so idiotische – Bekenntnis zu ihr. Es reicht etwa, wenn die Kölnerin Nazan Eckes – Autorin eines Buches mit dem possierlichen Titel »Guten Morgen, Abendland« – freudig verkündet, dass dieses Jahr der Nikolaus auch zu ihr käme, dabei hätte doch ihre türkische Mutter sie vor 30 Jahren angelogen und gesagt, dass es diesen gar nicht gäbe. Eckes sagt dann: »Das ist der Beweis. Ich bin angekommen. Angekommen in meiner Heimat Deutschland. Ich bin in zwei Kulturen aufgewachsen, in der türkischen meiner Eltern und in der deutschen. Anfangs war das nicht immer leicht. Aber heute weiß ich – Deutschland ist mein Zuhause.« Und dann verleiht sie dem ebenfalls in Deutschland geborenen Fußballspieler Mesut Özil den Bambi 2010 für Integration, weil er sich entschied, nicht für die türkische, sondern für die deutsche Nationalmannschaft zu spielen: »Der Prozess der Integration ist in vollem Gange, und das ist auch gut so.«
Was diese Episode bundesdeutscher Popkulturindustrie über einen auch hier transportierten oder zumindest kolportierten Universalismus volksgemeinschaftlicher Leitwerte verrät, ist sein rücksichtsloser Charakter: Dass alle sozialen Widersprüche als – vermeintlich – konfessionelle Widersprüche nivelliert werden, macht diesen Universalismus zu einem geeigneten politischen Instrument des gegenwärtigen Spektakels; ein Spektakel, das Guy Debord schon treffend als »integriertes Spektakuläres« bezeichnet hat, nicht nur weil es das diffuse und das konzen­trierte Spektakel in sich vereinigt, sondern weil das Integrative, also die Integration selbst wesentlicher Zwangsmechanismus des Spektakels in seiner gegenwärtigen Formation ist. Das in­tegrative Spektakel geriert sich dabei zunehmend chaotischer, ist von einem fröhlichen Nihilismus und einer zynischen Versachlichung gleichermaßen bestimmt.
Der Scheinwiderspruch »deutsche Kultur versus nicht-deutsche Kultur«, in dessen Rahmen etwa als Frage verhandelt wird, ob man an den Nikolaus glaubt, kaschiert die faktischen Widersprüche, unter die die Menschen subsumiert werden. Die Widersprüche konkreter sozialer Verhältnisse werden überlagert – Antagonismen der Lebensverhältnisse, Klassenstruktur, Armut, Rassismus, sexuelle Ausbeutung, ohnehin soziale Unterdrückung kommen umso weniger vor, je aggressiver das integrierte Spektakel den Universalismus einer Leitkultur behauptet, die sich mittlerweile aus einer kruden Mischung aus banalem Unfug, Leistungszwang und der üblichen systemischen Menschenverachtung – beispielsweise der sogenannten Asylrechtspraxis – zusammensetzt. So ist es möglich, dass Nazan Eckes ihren Kinderglauben als gelungene Integration feiern kann, während die zum Christentum konvertierte Zahra Kameli in den Iran zur Steinigung abgeschoben werden soll, noch höchstpersönlich abgesegnet vom niedersächsischen Innenminister Uwe Schünemann (dem neulich bei Anne Will das denkwürdige Diktum einfiel, dass »es kein Recht auf Illegalität« gebe). Im Bereich der Kultur heißen die Universalien dieses Universalismus, der im Namen einer integrativen Befriedung der Gesellschaft auftritt, Kitsch und Glücksversprechen, in der politischen Realität bedeuten sie Angst und Unglück.

Ein »linker Universalismus« kann nicht die »linke Variante« des Universalismus sein, auf den man sich gegenwärtig allenthalben beruft. Für die Kritik der falschen Universalismen und ihrer partikularistischen Gewalt braucht es zunächst nicht mehr als Aufklärung. Ein linker, realer Universalismus dagegen wäre eben kein Mittel politischer oder moralischer Interventionen, das seinen Zweck jenseits des Menschen setzt. Im »Manifest der Kommunistischen Partei« findet sich ein Hinweis darauf, was ein realer Universalismus bedeuten könne. Am Ende des letzten Absatzes des Manifests ­schreiben Marx und Engels, dass dem Menschen gerade im Zustand unerträglichster Erniedrigung das Höchste und Größte, das Universum selbst, zusteht: »Sie haben eine Welt zu gewinnen.«
Auch wenn die Kritik der Verhältnisse zunächst darauf zielt, für das Mindeste und Nötigste zu sorgen, dafür, dass Menschen überhaupt überleben, Sicherheit haben, ruhig schlafen können, geht sie mit diesem Satz darüber hinaus. Die einfachen Worte »Sie haben eine Welt zu gewinnen« sind in ihrer Einfachheit wörtlich zu nehmen. Keineswegs wird propagiert, bloß die bestehenden Verhältnisse zu übernehmen, sich mit der gegebenen Gesellschaft zufrieden zu geben; weder unbekannte Kontinente noch kommende Zeitalter werden im »Kommunistischen Manifest« versprochen. Es geht nicht um Verbesserung der Welt und auch nicht um Um- oder Neuverteilung ihrer Ressourcen. Wer weniger als nichts hat, nämlich allein die Ketten, die strukturell an dieses Nichts fesseln, der kann nur gewinnen, wenn er alles gewinnt; und der kann auch nur alles gewinnen, weil er nichts verliert: weder eine andere Welt noch die eigene Welt, sondern eine Welt – in ihrer All- und Vielseitigkeit. Dafür braucht es einen richtigen, das heißt realen Universalismus, der das Einzelne nicht dem Ganzen unterordnet, sondern den Einzelnen als Ganzes überordnet, realisiert und aufhebt. Der reale Universalismus setzt den Menschen selbst als Zweck, hebt den Menschen in den Stand der Universalität und traut insofern der Menschheit wirklich zu, »eine Welt zu gewinnen«.