»Indigenität« und Klasse in Bolivien

Vom Indio-Sein

Bolivien rühmt sich heute dank der Kämpfe einiger indigener Organisationen seiner Indigenität. An den Ausbeutungsbedingungen hat sich aber wenig geändert.

Im August 1992 präsentierte die bolivianische Polizei der versammelten Presse stolz die indigenen Anführer der Guerillagruppe Tupaj Katari (EGTK), die ihr kurz zuvor ins Netz gegangen waren. Eine hellhäutige, aus Boliviens Oberschicht stammende Reporterin wandte sich an den Kopf der Gruppe, Felipe Quispe, und fragte ihn, warum er den Weg des bewaffneten Kampfes gewählt habe. »Weil ich nicht will, dass meine Tochter einmal deine Bedienstete wird«, lautete dessen entwaffnende Antwort. Der Satz wurde als sehr viel subversiver wahrgenommen als die mäßig erfolgreichen Aktionen der Guerilla – was sind ein paar umgestürzte Telefonmasten verglichen mit der Infragestellung der im rassistischen Bolivien herrschenden Hierarchien, die Quispes Antwort bedeutete? Die EGTK brachte so die Diskussion um Indigenität und Klassenzugehörigkeit wieder in Gange, die schon als archiviert galt.

Seit den sechziger Jahren gab es in Bolivien Versuche, eine pan-indigene Identität zu entwerfen. Anfangs blieb das Projekt auf die intellektuelle Elite begrenzt, doch in den siebziger Jahren fand es mit dem sogenannten Katarismus Einzug in die Bauerngewerkschaften; deren wichtigste, die Gewerkschaftliche Konföderation der Agrararbeiter von Bolivien (CSUTCB), war selbst von Kataristen gegründet worden. Tupaj Katari war der Anführer der indigenen Aufstände in den Anden Ende des 18. Jahrhunderts. Der Katarismus interpretierte die in den Gewerkschaften vorherrschende Klassenidentität unter ethnischen Vorzeichen neu. Nicht nur als Bauern, sondern auch als Indigene werde man unterdrückt, weswegen der Befreiungskampf sich gegen kapitalistische Ausbeutung und rassistische Diskriminierung richten müsse. Anfangs wurde dieser Ansatz von verschiedenen in Bolivien tätigen NGOs unterstützt, was sich mit Beginn der neoliberalen Umstrukturierung Mitte der Achtziger änderte.
Insbesondere dank der finanziellen Unterstützung aus dem Ausland, von der die indigenen und Bauernorganisationen immer stärker abhingen, verlor die Kategorie Klasse an Relevanz, gleichzeitig hielt ein Diskurs über Differenz und Partikularismus Einzug in die Organisationen. Der ursprüngliche Katarismus hatte radikale Forderungen nach einer Landreform und sozialer Gerechtigkeit gestellt. Das Hauptaugenmerk des neuen Diskurses lag auf den zu bewahrenden »kulturellen Eigenheiten« sowie speziellen territorialen Ansprüchen der indigenen Gruppen und »Völker«. Obwohl sich über 60 Prozent der Bolivianerinnen und Bolivianer als indigen bezeichnen, wurde die indigene Bevölkerung in 36 penibel unterschiedene »Völker« aufgeteilt und auf diese Weise in Minderheiten gespalten: Aus politischen Subjekten wurden Objekte, die des Schutzes des Staates bedürfen. Von dieser Position aus wurden »Anerkennung« und »Chancengleicheit« statt Umverteilung und Gerechtigkeit verlangt.

In Bolivien ist dieser Diskurs als »multikultureller Pluralismus« – kurz »Pluri-multi« – bekannt. Der kapitalistische Staat wird als hegemonial anerkannt, es wird nach universellem Zugang zu diesem verlangt und gleichzeitig das Recht auf eine eigene, davon abweichende kulturelle Identität verteidigt. Damit eng verknüpft ist die Forderung nach kollektiven Landtiteln für indigene Gruppen. Hatten bislang Aktivistinnen und Aktivisten aus dem andinen Teil Boliviens in den Bewegungen das Sagen, sind es in den neunziger Jahren vor allem Gruppen und Organisationen des Tieflandes. Ausschlaggebend dafür war der »Marsch für Land und Würde« 1990, der sie vom Osten des Landes bis zum Regierungssitz in La Paz führte. Spätestens dann wurde klar, dass diese Organisationen keine antagonistische Position zum Nationalstaat einnehmen wie einst die wichtigsten Hochlandbewegungen. Vielmehr verfolgten sie eine Politik der direkten Verhandlungen mit den staatlichen Autoritäten, um so kollektive Landtitel und Rechte zu erstreiten. Das positive Verhältnis zum Staat ergibt sich dabei einerseits aus der Tatsache, dass die unmittelbare Bedrohung für diese Gruppen private Akteure sind, etwa Großgrundbesitzer und Holzfirmen, und der Staat deswegen als potentieller Verbündeter wahrgenommen wird; andererseits aus dem starken Einfluss, den internationale NGOs auf die Organisationen des Tieflandes hatten.
Am Erfolg der »Pluri-multi«-Ideologie änderten zunächst auch die EGTK und Quispe nichts. Vielmehr wurde sie ab 1994 mit der Ernennung des ehemaligen indigenen Aktivisten Víctor Hugo Cárdenas zum stellvertretenden Präsidenten Teil der Politik der neoliberalen Regierung Boliviens. Die im selben Jahr reformierte Verfassung erkannte die »auf nationalem Territorium lebenden indigenen Völker« offiziell an und gestand ihnen eigene soziale, ökonomische und kulturelle Rechte zu. Im Rahmen der geltenden Gesetze werden indigenen Autoritäten gewisse Kompetenzen zugebilligt. Ebenfalls 1994 erlaubte eine ansonsten marktkonforme Bildungsreform, dass Indigene in Spanisch und in ihrer Muttersprache unterrichtet werden und »interkulturelle« Inhalte genießen. 1996 wurde schließlich mit dem neuen Gesetz zur Landverteilung, das einen funktionierender Bodenmarkt schaffen sollte, auch gemeinschaftliches Eigentum anerkannt.

Diese Politik der neunziger Jahre kann als neoliberaler Indigenismus umschrieben werden. Neben diskursiven Zugeständnissen an indigene Bewegungen beruht dieser vor allem auf dem Transfer von Kompetenzen auf regionale und lokale staatliche Institutionen, womit die großen nationalen Gewerkschaften und Organisationen meist geschwächt werden. »Indigenität« wird anerkannt, aber ihrer politischen Implikationen entledigt. Wie der bolivianische Politologe Luis Tapia resümiert, kann »der Neoliberalismus sich den Lärm des Multikulturalismus erlauben, solange dieser entpolitisiert und ohne Geschichte daher kommt«.
Mit der Jahrtausendwende begann die neoliberale Hegemonie zu wanken. Der »Wasserkrieg«, als sich die Bevölkerung Cochabambas der Privatisierung der Wasserversorgung widersetzte, der Kampf der Kokabauern gegen die Rodungen ihrer Plantagen und die Aufstände der indigenen Gemeinden des Andenhochlandes destabilisierten die Regierungen immer stärker. Dem mittlerweile aus dem Gefängnis entlassenen Quispe kam dabei eine zentrale Rolle zu: Vor allem ihm und einigen seiner Mitstreiter ist es zu verdanken, dass dem »Pluri-multi«-Diskurs eine Neuinterpretation des »Indio«-Seins als revolutionäre Kategorie entgegengehalten wird. Dabei interpretiert Quispe, der in dieser Zeit der Bauerngewerkschaft CSUTCB vorsteht, die soziale Realität des Landes als Herrschaft von »weißen« Kapitalisten und Politikern über die »Indios«, eine Kategorie, die in seiner Lesart im Grunde alle Verdammten der bolivianischen Erde umfasst. Dieser Antagonismus kann für Quispe nur durch den Wiederaufbau des Inkareichs überwunden werden. Evo Morales, der derweil an der Spitze der Kokabauern stand, pflegte einen viel pragmatischeren Zugang zu dem Thema: Sein Bezug zu Indigenität drückte sich vor allem in der Verwendung indigener Symbolik aus, politisch sieht er sich in sozialistischer Tradition.
Gleichzeitig wurde die Kritik an dem als »monokulturell« verstandenen Staat lauter. Dieser, so der Kerngedanke, sei kein kulturell neutrales Terrain, sondern ein der weißen und mestizischen Oberschicht dienlicher und von diesen geformter Apparat, der den politischen Praktiken der indigenen Bevölkerung zuwider läuft. In diese Zeit fiel auch die von den indigenen Organisationen des Tieflandes gestellte Forderung nach einer Verfassungsgebenden Versammlung (VV), in der die verschiedenen Sektoren sich – explizit ohne Repräsentation durch politische Parteien – auf eine radikal neue politische und gesellschaftliche Ordnung des Landes verständigen könnten.
Nur wenige Monate nachdem Morales 2006 zum Präsidenten ernannt worden war, berief er die VV ein. Bis 2009 dauerte es, dann stimmte die Bevölkerung für eine neue Verfassung und Bolivien wurde zum »plurinationalen Staat« erklärt. Auf diese Weise soll die »Monokulturalität« des Staatswesens überwunden werden und die verschiedenen Organisations- und Produktionsformen sollen auf gleicher Augenhöhe miteinander verkehren. Indigenität wird, entgegen der neoliberalen Tradition, nicht als geschichtsloser Folklorismus, sondern als soziale, kulturelle und politische Kategorie verstanden. Dem plurinationalen Staat fiele dabei die Aufgabe zu, die subalternen indigenen Organisationsformen gegen die hegemonialen, staatlichen und kapitalistischen zu verteidigen und zu stärken. Doch in der Praxis hat nicht zuletzt die Auseinandersetzung um den Bau einer Überlandstraße durch das »Indigene Territorium und Nationalpark Isiboro Sécure« (Jungle World 44/2012) gezeigt, dass es alles andere als einfach ist, die weiterhin bestehende liberale Staatsraison mit den Interessen der indigenen Bevölkerungen unter einen Hut zu bringen – selbst wenn die Exekutive meint, das »gemeinsame Interesse aller indigenen Völker« zu repräsentieren, wie der stellvertretende Präsident Àlvaro García Linera sagte. Derzeit scheint es, als sei die Indigenität vor allem in Form von symbolischer Vereinnahmung dem Staat zugeführt worden. Dass die Tochter Felipe Quispes nun nicht mehr nur Bedienstete werden muss, ist weniger dem plurinationalen Staat geschuldet als den Kämpfen der indigenen Bewegungen, die die starren ethnischen Hierarchien Boliviens nach und nach aufgeweicht haben.