Die Proteste von afrikanischer Flüchtlinge in Israel

Die Revolte der Eindringlinge

Seit Wochen protestieren in Israel Flüchtlinge gegen die Asylpolitik der Regierung. Zehntausende Flüchtlinge aus Eritrea und dem Sudan befinden sich seit mehreren Tagen im Streik. Sie demonstrieren gegen willkürliche Verhaftungen und Menschenrechtsverletzungen. Regierungsvertreter lassen sich durch die Proteste nicht von ihrem Plan abbringen, die »Eindringlinge« endgültig abzuschieben.

»Ihr wart einst Flüchtlinge auf der ganzen Welt«, schreit Binyam ins Mikrophon und Zehntausende applaudieren euphorisch. Überwiegend Männer, einige Frauen, viele von ihnen mit Kleinkindern auf dem Arm. Es ist eine schwarze Menschenmasse, wie Israel sie noch nie erlebt hat. Die sonst kaum sichtbaren Tellerwäscher und Straßenkehrer haben sich plötzlich erhoben und ihre eigene »Revolution« ausgerufen. Doch nur die wenigsten der Israelis, denen Binyams Worte gelten, hören tatsächlich zu. Die vereinzelten weißen Pünktchen unter den Demonstranten sind Journalisten, Mitarbeiter von NGOs und ein paar linke Aktivisten. Dutzende Polizisten umringen die Masse von allen Seiten, in Grüppchen stehen sie zusammen, oft apathisch, manchmal lachend. »Gibt es in Deutschland auch so viele Afrikaner? Wir in Israel haben 180 000 von ihnen – das ist mehr als problematisch«, sagt ein junger Polizist mit Kippa auf dem Kopf. Woher er diese Zahl hat, ist ein Rätsel. Selbst offizielle, von der Regierung herausgegebene Statistiken, sprechen von etwa 55 000 Flüchtlingen.
Es sind ereignisreiche Wochen für die Eritreer und Sudanesen in Israel. Als das »Antiinfiltrationsgesetz« im September vergangenen Jahres vom Obersten Gericht in Israel für ungültig erklärt wurde, feierten sie. Ein kleines Stückchen Menschlichkeit und Demokratie waren zurückgewonnen, es schien aufwärts zu gehen. Das Gesetz sah vor, dass mistanenim – »Eindringlinge«, wie Flüchtlinge in den israelischen Medien genannt werden –, die seit Juni 2012 unerlaubt die Grenze zu Israel überquert haben, bis zu drei Jahre lang im Gefängnis in der Wüste inhaftiert werden.
Doch das missfiel der Regierung: Am 10. Dezember 2013 wurde in der Knesset, dem Israelischen Parlament, eilends ein neues Gesetz verabschiedet, das die Haft auf ein Jahr verkürzt und danach den Aufenthalt im »offenen« Lager in Holot vorsieht, in denen die Flüchtlinge die Nächte verbringen und zusätzlich dreimal täglich zum Zählappell erscheinen müssen. Ebenso wie die bisherige Gefängnisanlage befindet sich das neue Lager mitten in der Wüste, nahe der ägyptischen Grenze – die am nächsten gelegene Stadt, Be’er Sheva, ist 70 Kilometer entfernt. Das Gesetz erlaubt es, Flüchtlinge in ganz Israel aufzugreifen und zwangsweise dort unterzubringen.

Als vor einigen Wochen mit willkürlichen Verhaftungen auf den Straßen im südlichen Teil Tel Avivs begonnen wurde, Menschen zum Aufenthalt in Holot einberufen wurden und das Innenministerium sich von einem Tag auf den anderen weigerte, Visa zu verlängern, sahen die Flüchtlinge die Notwendigkeit zum Handeln. »Wir haben ein Komitee gebildet, um uns zu organisieren, mehr als 100 Eritreer und Sudanesen haben gemeinsam über die Proteste abgestimmt und den Streik ausgerufen«, erzählt der 30jährige Walyaldin, der die Proteste mitorganisiert. Ob er sich Erfolg verspreche? »Ja! Ich glaube fest daran, dass das alles nicht umsonst ist. Durch unseren Protest zwingen wir die israelische Regierung und auch die internationale Gemeinschaft, uns zu beachten, etwas zu verändern, uns wie Menschen zu behandeln!« Die wichtigsten Forderungen der Bewegung sind faire Asylverfahren gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention sowie die Freilassung der Inhaftierten.
Erst seit anderthalb Jahren lebt Walyaldin in Israel und arbeitet als Putzkraft – zurück nach Darfur kann er nicht: »Wenn du aus Israel zurückkommst, nehmen sie dir deinen ganzen Besitz weg. Wenn du politisch aktiv warst, stecken sie dich für ein paar Jahre ins Gefängnis oder bringen dich um. So läuft das dort.« Walyaldins gesamte Familie lebt unter schwersten Bedingungen in einem Lager für Binnenflüchtlinge, die vor dem Genozid in Darfur fliehen mussten.
Für Eritreer ist die Situation noch ernster. Das Land gilt als eine der repressivsten Militärdiktaturen der Welt – rund 80 Prozent aller Asylanträge von eritreischen Flüchtlingen weltweit werden genehmigt. »Ich bin hierher gekommen, um mein Leben zu retten. In unserem Land hätten wir alles, was wir brauchen. Aber wir können diese Ressourcen nicht nutzen, weil wir dort nicht frei sind«, erzählt Semre, der seit drei Jahren in Tel Aviv lebt und 16 Jahre lang gezwungen war, in der eritreischen Armee zu dienen. Bis er eines Tages seine Chance zur Flucht ergriff, zunächst nach Khartoum, in die Haupstadt des Sudan, und später über den Sinai nach Israel. Sein Leben hier treibt ihn zur Verzweiflung: »Mit meinen Gesundheitsproblemen habe ich keine Chance, zu arbeiten. Spülen oder Putzen ist für mich unmöglich. Ich bin nur eine Last für meine Freunde hier.« Die Möglichkeit, Englisch oder Hebräisch zu lernen, hatte er nicht. Seine einzige Sprache ist Tigrinya. Eine Rückkehr nach Eritrea würde für Semre mindestens fünf Jahre Gefängnis bedeuten, vielleicht sogar lebenslang.
Rechte israelische Politiker zeigen sich unbeeindruckt von den Schicksalen der Afrikaner. Die Flüchtlinge sollen verschwinden, wohin, spielt keine Rolle. Zur Auswahl steht ein Rückflug in die Heimat, Medien verbreiteten Gerüchte über einen angeblichen Tauschhandel zwischen Uganda und Israel: Geld und Waffen gegen Tausende Flüchtlinge. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu erklärte nüchtern: »Demonstrieren und Streiken wird ihnen nicht helfen. Diejenigen, die Israel erreicht haben, bevor wir die Grenze geschlossen haben, sollen zurückgeführt werden«, womit er sich auf die Zaunkonstruktion an der Grenze zu Ägypten bezog. »Diese Menschen sind keine Flüchtlinge, es sind illegale Wirtschaftsmigranten, die in unser Land eingedrungen sind, um hier zu arbeiten.«
Dieser Meinung ist auch Arie Raveh, langjähriger Manager der veganen Restaurantkette »Budda Burger« in Tel Aviv. Der gebürtige Österreicher ist vor 20 Jahren nach Israel immigriert und gilt als einer der wichtigsten israelischen Verteidiger von Tierrechten und Veganismus. Der Chefkoch in seinem Restaurant ist Eritreer, fünf weitere Küchenhelfer kommen ebenfalls aus Eritrea und dem Sudan. »Wenn ich die Wahl hätte, würde ich natürlich lieber Israelis einstellen. Aber solche Qualität bekomme ich von Einheimischen nicht. Ja, es sind gute, anständige Leute und sie arbeiten gut. Aber was erwarten sie eigentlich von unserem Land? Israel ist nicht Europa und wir haben genug eigene Probleme. Ihre Proteste werden ihnen nicht helfen, weil Israelis sich schlicht und einfach nicht dafür interessieren.« Immerhin hat der streikbedingte Ausfall der Arbeiter Buddha Burger in großen Schwierigkeiten gebrach: »Ich konnte das Restaurant 20 Stunden am Stück nicht verlassen«, klagt Arie.
Mit seiner Einstellung steht der Restaurantbesitzer nicht alleine da, sondern repräsentiert einen Großteil der israelischen Gesellschaft. Die meisten in der Bevölkerung übernehmen die Rhetorik der Regierung, viele sind gleichgültig und zeigen höchstens heimliche Sympathie, oft aber Antipathie gegenüber den protestierenden Flüchtlingen, es sind nur wenige Israelis, die sich an den Protesten beteiligen. Dass die Protestbewegung die Aufmerksamkeit berühmter israelischer Persönlichkeiten wie Präsident Shimon Peres oder des Schriftstellers und Friedensaktivisten David Grossman erregt haben, gilt als Triumph für die Flüchtlinge. Ob allerdings die Sympathien Prominenter politische Konsequenzen haben werden, ist fraglich.

»Israel hat seine Vergangenheit vergessen, die Tora vergessen, jegliche Moral vergessen.« Daniel und seine Freunde sind mit zwei Flaggen zur großen Demonstration vor der Knesset in Jerusalem erschienen. Eine israelische Fahne, die andere in gelb-grün-rot, den Farben Äthiopiens. »Ich bin Äthiopier, ich bin Israeli, ich bin Jude und ich bin schwarz. Das einzige, was mich von vielen anderen Demonstranten unterscheidet, ist mein Judentum. Wäre ich nicht Jude, wäre ich an ihrer Stelle, denn fast alle afrikanischen Länder sind Diktaturen.« Trotz seiner schwarzen Hautfarbe ist Daniel vollkommen in die israelische Gesellschaft integriert, spricht und gestikuliert wie ein Israeli. Seinen wirklichen Namen will er aufgrund seiner Stellung als hoher Regierungsmitarbeiter nicht verraten. Es ist seine jüdische Identität, die ihm 1990 im Rahmen der äthiopischen Einwanderungswelle die Einreise in den jüdischen Staat ermöglicht und die israelische Staatsbürgerschaft verschafft hat. An die Repression in Äthiopien erinnert er sich gut: »Du kannst Geld haben, du kannst Arbeit haben, du kannst alles haben. Aber wenn du nicht frei bist, fliehst du.« Deshalb sei seine Solidarität mit den Flüchtlingen in Israel so stark.

Die Realität in Israel wird einheitsstiftend als »Wir gegen den Rest der Welt« aufgefasst. Im Kindergarten, auf der Straße, in der Armee, im Fernsehen. »Aus 60 000 können leicht 600 000 werden, wenn wir das Problem nicht in den Griff bekommen. Das wird dazu führen, Israels Grundsäulen als jüdischer und demokratischen Staat zu untergraben«, sagte Netanyahu bereits 2012 – und klang damit im Vergleich zu seinen Parlamentskollegen noch freundlich. Tatsache ist aber, dass Israel seit der Errichtung eines Zauns an der Grenze zu Ägypten keine Neuankömmlinge verzeichnet hat, vielmehr haben Tausende das Land aus Hoffnungslosigkeit verlassen. Ihre Zukunft ist ungewiss. Politische Aktionen sind dominiert von der Angst, die jüdische Identität des israelischen Staates demographisch zu gefährden, wenn Flüchtlinge nicht mehr als temporäres Unheil gesehen, sondern als fester Bestandteil der israelischen Gesellschaft anerkannt würden. Dabei zeigen die Statistiken eine Realität, die alles andere als bedrohlich erscheint: Prozentual machen die Flüchtlinge nur etwa 0,6 Prozent der Bevölkerung aus, gegenüber beinahe 21 Prozent Arabern, die seit Generationen in Israel leben. Hinzu kommt, dass Israel jährlich etwa 70 000 temporäre Arbeitsvisa an Migranten für den Niedriglohnsektor ausstellt – ein Beweis für die wirtschaftliche Abhängigkeit des Staates von der Immigration billiger Arbeitskräfte. Würde Israel den Flüchtlingen statt Arbeitsvisa Rechte zugestehen, wäre im Prinzip beiden Seiten gedient. Wie der Konflikt ausgehen wird, ist offen. Der gegenwärtige Kurs der israelischen Politik verspricht verheerende Konsequenzen für die Flüchtlinge. Auf der anderen Seite steht die Absurdität, Tausende Menschen in der Wüste gefangenzuhalten oder zur Rückkehr ins Ungewisse zu bewegen.