AOLitis

Mit Riesenschritten stiefelt Madame Fortschritt durch die Landschaft der Geschichte, nimmt uns freundlich Huckepack, lässt uns aber ebenso absteigen, wenn der Ritt zu holprig wird. So kommt es zu technischer Kokonisierung, Inseln liebevoll gepflegter Rückständigkeit in der Sturmflut steter Modernisierung. Wie anders sonst ist es zu erklären, dass berühmte Künstler und Schriftsteller alle noch über E-Mail-Adressen bei AOL verfügen? Und zwar umso wahrscheinlicher, je berühmter sie sind? Stimmt wirklich! Die Diskretion verbietet es dem Verfasser, mit den neuneinhalb ihm bekannten Namen um sich zu werfen, aber: Sie wären verblüfft! Woher kommt die AOLitis unseres Geistesadels? Empfinden es die ganz Großen als unter ihrer Würde, sich mit riskanten neuen Anbietern wie Google oder Hotmail einzulassen? Bietet AOL ultraexklusive AOL-CDs für Großkünstler, auf denen Hunderte von Ideen für neue Werke gespeichert sind? Oder ist die deutsche Kunst und Literatur in Wahrheit paralysiert, steckt sie noch in den frühen Jahren des Jahrtausends fest?
Andererseits gehen gerade jetzt auch viele zu Google+ – eines der vielen Google-Produkte, die nicht für Menschen gemacht wurden, sondern für körperlose, fünfdimensionale Wesenheiten auf Milchschaumbasis. Es sind meist Freiberufler, Autoren und Gestalter, die die Datenkrake Facebook verschmähen und lieber zum seriösen Google wechseln – um dort im Wesentlichen für sich selbst zu rackern. Ein Frankfurter Verleger postet da Pressemitteilungen, die aufgrund seiner Privatsphäreneinstellungen nur von seiner Frau, mir und einem gemeinsamen Freund gelesen werden können. Ein Teilen im eigenen Namen ist ebenfalls nicht möglich. Google+ – das ideale Sozialnetz für Leute, die am liebsten in Ruhe gelassen werden.