Kritische Astrologie - Über die Macht der Opferrolle

Trocknet die Tränen, bevor sie geweint werden

Die Opferrolle und ihre Macht über unser Leben.
Kolumne Von

KAEine Rolle rollt herum in Deutschland: die Opferrolle. Die AfD, so erklärten unter anderem grüne Ab­geordnete letzte Woche, dürfe selbstverständlich Mitglieder in wichtige Ausschüsse entsenden, denn sonst könnten sich die Alternativdeutschen ja wieder in diese, die Opferrolle nämlich, begeben, und das darf anscheinend auf keinen Fall passieren. Natürlich, das Risiko dafür ist groß bei einer Partei, die schon zu heulen anfängt, wenn ihr der rote Teppich nicht schnell genug ausgerollt wird. Aber ab wann ist eigentlich der politische Nutzen, der AfD die Opferrolle zu entziehen, aufgezehrt durch die Geschenke, die man ihr macht? Wenn sie den Vizekanzler stellt? Wenn sie die grüne Partei verbietet? Wenn sie einen Angriffskrieg gegen Polen beginnt? Und wann, glaubt man, wird eine solche Partei aufhören zu jammern?

Ein merkwürdiges Bedürfnis: In einem Land, das selbst eine robuste historische Opferbilanz vorlegen kann, darf keiner mehr in der Opferrolle sein. Mit der Opferrolle assoziiert man Kosten, Entschädigungsklagen, schlechte Presse; daher muss man ihrer Rollenverteilung zuvorkommen. Immer wieder kommen die Leute an und wollen Geld; teilweise aus Afrika, man stelle sich vor! Hier muss man gehörig aufpassen, dass diese Schlange nicht immer länger wird. Niemand muss Opfer sein! Die Herero wären allerdings froh, in ihrer drohenden Opferrolle so ernst genommen zu werden wie die AfD.

Natürlich ist es auch eine schöne, eine humane Geste, die letztlich vom Wunsch der Opfervermeidung zeugt: Man will die Tränen trocknen, bevor sie geweint werden. Aber mehr noch als Menschenfreundlichkeit scheint sie vom Bedürfnis geprägt, mit der Opfer- auch die Täterrolle zu verhindern: Wenn man dem Dieb seine Wertsachen freiwillig übergibt, kann er auch kein Täter werden! Für diese Form der Kriminalprävention gehört der grünen Partei Danke ­gesagt.