Warum die Schweiz das Japan Europas ist

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Gedanken über die Schweiz.

Meine Freundin wurde mal in New York von einer Schweizerin gefragt: »Was denkt ihr Deutschen eigentlich über uns Schweizer?« Als Berlinerin antwortete sie ganz unmittelbar: »Ehrlich gesagt denken wir gar nicht über euch nach.« Natürlich spricht daraus eine große Portion Hauptstadtarroganz. Aber es stimmt. Wir denken nicht über die Schweiz nach, während Deutschland in der Schweiz immer ein Referenzpunkt ist.

Ich liebe die Schweiz. Vor allem die Brockis. Brockenhäuser heißen in der Schweiz die Trödelläden. Die sind wirklich der Hammer!

Aber um das ganz klar zu sagen: Ich liebe die Schweiz. Vor allem die Brockis. Brockenhäuser heißen in der Schweiz die Trödelläden. Die sind wirklich der Hammer! Die Schweizer hatten ja immer Geld in den vergangenen 60 Jahren und haben ­damit immer nur die besten Sachen gekauft. Also ist alles, was sie wegwerfen, gut. Außerdem grenzt das Land an Frankreich und Italien. Ein super Einzugsgebiet.
Was sich in Zürich in den vergangenen 60 Jahren alles an Popkultur angesammelt hat! Jetzt mal verglichen, zum Beispiel, mit Leipzig. Dort stieß ich auf einem Flohmarkt auf Ensemble Sincron Bukarest. Eine rumänischen Surf-Single, veröffentlicht 1971 auf dem staatlichen DDR-Label Amiga. Für einen Euro. Ganz witzig, wenn man drauf steht. In Luzern hingegen fand ich im Brocki eine Platte von Jerry Lee Lewis, »Live im Star-Club«, als Originalpressung aus dem Jahr 1964, im Neuzustand. Für zwei Franken! Das ist eine ganz andere Trödel-Liga.

Die Schweizer sind für mich die Japaner Europas. Ich bewundere vor allem diese gewisse Mischung aus sophistication und Präzision, die sie mit den Japanern teilen. Eine Kultur, die ursprünglich vielleicht daraus erwuchs, dass sie jahrhundertelang, abgeschieden von der Welt, in verschneiten Tälern in aller Ruhe werkeln konnten, um Dinge zu ver­feinern. Präzise zu verfeinern wie Schweizer Uhren. Belegen kann ich diese These nicht. Jedenfalls nicht mit Uhren oder Käse, davon verstehe ich nichts. Ich könnte es allerdings anhand von Punk ­erklären, denn da hat die Schweiz sich durch extreme sophistication hervorgetan.

Erstes Beispiel: Reverend Beat-Man, der erfolgreichste Rock ’n’ Roll-Export der Schweiz. Der tritt mit Wrestling-Maske als One-Man-Band auf. Hat auf seinem Label Voodoo Rhythm hunderte Schallplatten veröffentlicht, sich mit beispielloser ­Akribie in US-amerikanische Trash- und Rock ’n’ Roll-Kultur verbissen und sich dennoch in den vergangenen 30 Jahren musikalisch so weit wie kein anderer Genre-Musiker davon entfernt.Trotzdem oder genau deshalb ist seine seltsame Reibeisenstimme in Japan, Südamerika und Australien bekannt. Als ich ihn mal Ende der Neunziger traf, sprach ich kurz vor dem Auftritt mit ihm und sah, dass er auf die Uhr guckte, um pünktlich auf die Minute aufzutreten. Später verletzte er sich allerdings bei einem Sprung auf eine kaputte Bierflasche so schwer, das das Konzert abgebrochen wurde. Beat-Man landete im Krankenhaus.

Apropos Beat-Man. Ich war überrascht, als ich mal auf irgendeiner Platte gehört habe, wie er live vor Schweizer Publikum so richtig laut, schnell und derb auf Schweizerdeutsch rumgeprollt hat. So was hatte ich noch nie gehört. Aber logisch, dass es die auch gibt, die räudig in der Eckkneipe rumprollende Schweiz. Das waren nicht die wohlerzogenen Schweizer, die ich kannte! Die wirken ja meist eher langsam. Aber die Schweizer sind nicht langsam, sie sprechen nur langsam, weil sie versuchen, Hochdeutsch zu sprechen. Mit demselben, manchmal auch nervigen Schweizer Anspruch, alles richtig und gut zu machen, was sowohl die Schweizer als auch die Zuhörenden anstrengt.

Apropos Beat. Also der Schweizer Name Beat, gesprochen Be-at. Meine Freundin kannte vor 30 Jahren in New York mal einen Schweizer, der hieß Urs Beat. Und sie erzählt immer, dass die US-Amerikaner damals fanden, das sei ja wohl der coolste Name überhaupt. Urs Beat, englisch gesprochen Earth Beat!
Zweites Beispiel: Lurker Grand. Hat mit »Hot Love – Swiss Punk & Wave 1976–1980« das endgültige Buch über Punk in der Schweiz geschrieben und herausgegeben. Es ­gehört zu den schönsten, detailliertesten und umfangreichsten Büchern, die jemals über Punk gemacht wurden. Dass die Schweiz einen ­relativ klein gesteckten Rahmen liefert, spielt dabei natürlich eine Rolle. Lässt sich gut eingrenzen und abschließen. Deshalb gibt es auch bislang nicht das große Buch über Punk in Berlin: Das Thema ist zu groß. Die Neubauten-Szene bräuchte ein eigenes Buch, genauso wie die SO36-Szene und die Hardcore- und die Hausbesetzerszene. Das Tolle an »Hot Love« ist die akribische Detailliertheit. Lurker hat wie ein Irrer ­Material gesammelt. Sowohl altes Totes als auch noch sehr Lebendiges, wobei die Interviews mit den Zeitzeugen das Historische erst so richtig erlebbar machen.

Als Schweizer hätte ich meine »Schweizer sind Verfeinerer«-­These sicher noch verfeinert. So bleibt es ein Gerüst mit Gedankenlücken. Aber immerhin: ziemlich viele Gedanken über ein Land, über das ich eigentlich nie nachdenke.