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Donnerstag, 03.12.2020 / 22:07 Uhr

Erdogan inszeniert sich als Europäer

Von
Murat Yörük

Während Erdoğan mal wieder einen Kurswechsel andeutet und erklärt, die Zukunft der Türkei liege in Europa, meldet sich die Mafia zurück in der Politik, was an die 1990er Jahre denken lässt.

 

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Erdogan und Bahceli vor einem Jahr, Quelle: Youtube

 

Die türkische Führung benimmt sich in diesen Tagen wie in Panik geratene Getriebene. Nichts will so wirklich funktionieren, politisch wie ökonomisch läuft der Laden schon lange nicht mehr rund. Alles scheint unhaltbar auf den Untergang zuzusteuern. Die ersten Leichtmatrosen haben bereits das sinkende Schiff verlassen, auch die Offiziere ringen kräftig mit sich selbst, ob sie jetzt oder zu einem späteren Zeitpunkt abspringen sollten. Nur dem Kapitän scheint noch Selbstzuversicht geblieben zu sein.

Umso bemühter klingen die jüngsten Verkündigungen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die nach außen als Reformankündigungen verkauft werden. Vergangene Woche deutete Erdoğan überraschend den neuen Weg an. Die Regierung sei bestrebt, die Türkei in eine neue Ära der Wirtschaft und Demokratie zu führen, so Erdoğan. Am Wochenende sodann folgte eine Ansage, die aufhorchen ließ. Erdoğan, der in den vergangenen Monaten keine Gelegenheit ausließ, gegen Europa auszuteilen, sieht die Zukunft der Türkei „nirgendwo anders als in Europa“.

Unklar ist, ob es sich bei diesen Erklärungen eher um Herrschaftskonsolidierung handelt oder um den Versuch, interne Streitigkeiten unter den Koalitionären AKP und MHP auszufechten. Angenommen werden kann allerdings, dass dieses Bündnis zukünftig alles andere als gewiss ist.

Verfallsanzeichen eines Regimes

Anzeichen hierfür gibt es spätestens seit dem Rücktrittsgesuch des türkischen Innenministers Süleyman Soylu, der als der wichtigste Verbindungsmann zur rechtsextremen MHP gilt. Dass der Präsident das Gesuch nicht akzeptierte, begründen Kommentatoren auch damit, dass die MHP dagegen gewesen sei. Seitdem Erdoğans AKP mit der MHP koaliert, ist Ankaras Rhetorik zunehmend aggressiver und nationalistischer geworden, was den Weg für den gegenwärtigen Isolationismus des Landes bereitet hat.

Erdoğan musste sich verstärkt auf seinen Bündnispartner einlassen, und dessen Rhetorik übertrumpfen, als ihm deutlich wurde, dass eine Alleinherrschaft nicht mehr möglich ist. Nachdem er im türkischen Parlament 2015 die absolute Mehrheit verloren hatte, kam zur Mehrheitsbildung nur die MHP in Frage. Doch diese hatte klare Ambitionen, entsprechend kristallisierte sich schnell ein innen- wie außenpolitischer Sog heraus, der in die Untergangsstimmung von heute geführt hat.

Auch unabhängig davon, was sein ganz persönlicher Wille ist, lässt sich Erdoğan von seinem Koalitionspartner treiben. Politisch hat die Hexenjagd gegen mutmaßliche Gülenisten spätestens nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 Maße angenommen, die nur noch an Willkür denken lässt. Auch die Bekämpfung der PKK trägt längst Züge eines Krieges gegen die kurdische Zivilbevölkerung – allen voran gegen deren Partei, die HDP.

Isolationismus

Tendenziell hat sich die türkische Führung in den vergangenen Jahren – seit das Bündnis besteht – international isoliert. Das hat überwiegend mit dem Isolationismus der MHP zu tun, den Erdoğan in Kauf genommen hat, und mit deren er Rhetorik selbst allzu gern kokettiert.

Das konnte sich die Türkei insoweit zunächst leisten, als die prosperierenden Jahre bis 2015 die Staatskasse aufgefüllt hatten und die lockere Geldpolitik der Türkischen Zentralbank Wirtschaftswachstum ermöglichte und ausländisches Investitionskapital anlockte. Doch nun gehen die Devisenreserven aus, allein dieses Jahr wurden weit über 110 Milliarden Dollar ausgegeben, um den Liraverfall aufzuhalten. Vergeblich.

Die aggressive Kriegsrhetorik dient zwar zur Konsolidierung nach innen, trägt aber keinerlei Früchte. Es schreckt die dringend benötigten internationalen Investoren sogar ab. Dies dürfte allmählich auch in Ankara angekommen zu sein.

Knallhartes Kalkül

Nun ist Erdoğans scheinbar neue Rhetorik nicht wirklich neu, sie gehört lediglich zum Repertoire des türkischen Führers, der annimmt, sich immer wieder neu erfinden zu können. Mit solcherlei Ankündigungen, die zur nationalen Mobilmachung dienen, hält er schließlich Hof wie Staat seit 18 Jahren bei Laune, und findet auch immer wieder willige Gehilfen, die ihn tatkräftig unterstützen.

Angetreten als großer Reformator, und als solcher einst international herumgereicht, hat er Staat und Gesellschaft neu geordnet. Nunmehr steht die letzte Etappe bis zum Jahr 2023 an: dass bis dahin ruppige Jahre anstehen, ist kein Geheimnis, sondern fließen in die knallharten Kalkulationen des türkischen Führers mit ein. Wichtigster Katalysator in diesen Tagen ist nicht ein Sinneswandel und die Einsicht in die desaströse türkische Politik, sondern die Furcht vor Konsequenzen. Bidens Wahlsieg scheint Ankara bereits jetzt zu verdeutlichen, dass der türkische Präsident zu den größten Verlierern der Abwahl Trumps gezählt werden kann.

Entsprechend reagiert Ankara, und stellt bereits die Weichen für die türkisch-amerikanischen Beziehungen neu, die unter Biden möglicherweise weit weniger harmonisch als unter Trump sein werden.

Zu dieser Weichenstellung gehört auch ein Personalwechsel. Zunächst entschied sich Erdoğan dafür, den türkischen Zentralbankchef Murat Uysal abzusetzen. Es folgte die Entlassung des Finanzministers und Schwiegersohns Berat Albayrak. Sodann kehrte mit dem ehemaligen türkischen Innenminister Efkan Ala die Schlüsselfigur im Friedensprozess mit der PKK ins Zentralkomitee der AKP zurück und wurde auch gleich noch zum stellvertretenden Vorsitzenden für Außenbeziehungen der Partei ernannt.

Wohin wird sich die Türkei entwickeln?

Die Rückkehr von Ala in die Politik wird insbesondere vom Koalitionspartner MHP nicht gern gesehen. Hinzu kommt, dass Bülent Arınç – Mitbegründer der AKP, ehemaliger Parlamentspräsident und stellvertretender Ministerpräsident –, heute Berater von Erdoğan in einer Fernsehsendung vergangene Woche gesagt hat, wie furchtbar es sei, dass die prominenten kurdischen Politiker Osman Kavala und Selahattin Demirtas bereits seit mehreren Jahren unter fadenscheinigen Gründen und ohne Anklage inhaftiert sind. Trotz internationalem Protest – Demirtas ist wegen seiner Funktion als früherer Parteivorsitzender der HDP inhaftiert – schien Ankara bislang nicht einzulenken.

Der Vorstoß von Arınç, der sogar die Lektüre des von Demirtas in Haft geschriebene „Devran“ empfahl, um zu verstehen, wie sich die Kurden fühlten, löste Spekulationen darüber aus, ob es zu einem Kurswechsel in Ankaras Innenpolitik kommen könnte.

Gebremst und überschattet wurden diese Spekulationen jedoch abrupt, nachdem der türkische Mafiaboss Alaattin Çakıcı den Vorsitzenden der Oppositionspartei CHP Kemal Kilicdaroglu offen bedroht hat. Çakıcı ist ein enger Vertrauter von MHP-Führer Devlet Bahceli und wurde erst im April dieses Jahres nach über 19 Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen. Dieses Vorgehen erinnert an die Einmischung der Unterwelt in die Politik in den 1990er Jahren, als die Kooperation von Staat, Bürokratie und mafiösen Strukturen üblich war.

Das wiederum waren Nachrichten, die Erdoğan gerade jetzt nicht gebrauchen kann: Entsprechend tadelte er Arinc mit den Worten, er nutze die Reformpläne dafür, um „ein Feuer der Zwietracht im Land zu entfachen“. Das nahm Arınç persönlich und verkündete allzu gekränkt am Dienstag auf Twitter, vom Posten als Berater zurückzutreten.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

Freitag, 27.11.2020 / 12:06 Uhr

Die Türkei und der neue US-Präsident

Von
Murat Yörük

Die zwar widerspruchsvollen, aber letzten Endes doch guten Beziehungen Erdoğan zu US-Präsident Trump haben die Türkei bislang vor Sanktionen bewahrt. Das könnte sich unter dem neuen Präsidenten ändern.

 

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Bild: Anadolu

 

Nur zögerlich gratulierte die türkische Führung dem zukünftigen US-Präsidenten Joe Biden zu seinem Wahlsieg. Hinter dieser Zurückhaltung liegt die berechtigte Sorge Ankaras, dass mit einer Präsidentschaft Bidens für die Türkei alles andere als rosige Zeiten anstehen dürften. Es drohen Sanktionen und Ermittlungen.

Zunächst hieß es, man wolle abwarten, bis Biden sein Amt antritt. Erst am 10. November, eine Woche nach den US-Wahlen brach das Präsidentenpalast sein Schweigen, und konnte sich zu einem ersten Statement durchringen.

Der Schock muss tief sitzen, zumal Ankara all seine Karten auf einen Sieg Trumps setzte. Allmählich dürfte der Schock allerdings überwunden sein, zumal noch nicht endgültig feststeht, wie sich die amerikanisch-türkischen Beziehungen unter Biden tatsächlich entwickeln werden. Zwar lässt sich über Einzelheiten noch nichts Konkretes sagen, zumal nicht geklärt ist, wie sich der neue Präsident im Amt beweisen wird. Auch fehlen Einzelheiten darüber, was die von ihm angekündigte „prinzipielle Diplomatie“ für die Türkei in der Praxis bedeuten wird.

Dennoch gibt es deutliche Anzeichen dafür, was auf Ankara zukommen dürfte. Anders als Trump nämlich, auf dessen Wahlsieg die Türkei gesetzt hat, hat Biden bislang deutliche Worte gefunden. In einem Interview im Dezember 2019 in der Reihe „The Weekly“ der New York Times nannte er Erdoğan einen „Autokraten“, der einen Preis für seine Politik zu zahlen habe. Dies versetzt die türkische Führung nun ganz offensichtlich so in Unruhe, dass sie Handlungsbedarf sieht.

Erdoğans Lobbyist

Hierfür scheint der wichtigste Erdoğan-Lobbyist Ali Ihsan Arslan, auch bekannt als Mücahit Arslan bereits in Stellung gebracht worden zu sein. Arslan ist seit den frühen 1990er Jahren eng mit Erdoğan befreundet, sein Vater Mehmet İhsan Arslan ist eines der Gründungsmitglieder und ehemaliger Abgeordneter der AKP.

Wie die New York Times berichtet, hat sich Arslan kürzlich mit einem Lobbyisten getroffen, um einen Zugang zum Biden-Team zu gewinnen. Arslan ist kein ungeschriebenes Blatt in Washington. So soll er, laut der NYT, noch letzten Monat einen Vertrag mit der Lobbyfirma Avenue Strategies unterzeichnet haben, die vom Trump-Berater Barry Bennett 2016 gegründet wurde.

Nun dürfte für Arslan völlig unerwartet nach dem Wahlsieg Bidens die Notwendigkeit einer Neukalibrierung anstehen. Besorgt habe er sich deshalb geäußert, und bezweifelt, ob er überhaupt Zugang zum Biden-Team erhalten würde. Dennoch sei er daran interessiert, „mit Lobbyisten oder anderen Personen in Kontakt zu treten, die Zugang zu Bidens Team haben“, so die NYT.

CAATSA-Sanktionen

Bislang gelang es Ankara, von CAATSA-Sanktionen verschont zu bleiben. Bei diesen handelt es sich um Sanktionen nach dem „Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act“, einem Bundesgesetz, um bereits bestehende Sanktionen gegen den Iran, Russland und Nordkorea zu verschärfen. Maßnahmen nach diesem Gesetz drohen der Türkei, nachdem sie sich trotz Sanktionsdrohungen dennoch dazu entschloss, das Raketenabwehrsystem S-400 von Russland zu kaufen.

CAATSA will solche Geschäftsbeziehungen unterbinden, und betrifft auch Länder, die etwa mit Russland Handel betreiben. Es ist auch im Gespräch, die Türkei in die CAATSA-Liste aufzunehmen. Zwar wurde die Türkei zwischenzeitlich vom F-35-Stealth-Kampfflugzeugprogramm ausgeschlossen, Sanktionen für den Kauf des Raketenabwehrsystems erfolgten aber bislang nicht. Maßgeblich hierfür waren die zwar sehr widersprüchlichen, aber guten Beziehungen zu Trump, der im Juni 2017 CAATSA selbst eingeführt hat. Er blockierte jedwede Strafmaßnahmen gegen Erdoğan, obwohl sich eine Mehrheit im US-Kongress finden würde.

Nun hat die Türkei das russische Raketenabwehrsystem S-400 im Mai 2019 gekauft, zwar noch nicht aktiviert und sich bislang auf keinen Standort festgelegt, aber bereits einige Tests durchgeführt. Sollten Sanktionen beschlossen werden, wofür sich Demokraten und Republikaner stark machen, hätte Biden zu entscheiden, welche der insgesamt zwölf möglichen CAATSA-Maßnahmen im Einzelnen verhängt werden. Der Umstand, dass Biden bereits angekündigt hat, gegen den wachsenden russischen Einfluss vorgehen zu wollen, träfe die Türkei unmittelbar, die in den vergangenen Jahren immer näher an Putin gerückt ist. Ob sich Biden an sein Wort hält, und Erdoğan den Preis für den Erwerb der S-400 zahlen lässt, wird sich zeigen.

Ermittlungen gegen die Halkbank

Kopfzerbrechen in anderer Sache bereitet der türkischen Führung der Prozess gegen die staatliche türkische HalkbankAm 1. März 2021 soll in New York der Prozess fortgesetzt werden, in dem der Halkbank vorgeworfen wird, die Iran-Sanktionen unterlaufen zu haben, indem Milliarden von Dollar Gold und Bargeld in den Iran geleitet wurden. Bislang drängte die Türkei vergeblich, die Anklage fallen zu lassen. Durch Lobbyfirmen, die über 4 Millionen Dollar abkassiert haben sollen, wurde versucht, die Ermittlungen einstellen zu lassen oder einen Vergleich herbeizuführen.

Sorge bereitet Ankara der Umstand, dass mehrere Schlüsselpersonen mit Verbindungen zu Erdoğan auf der Anklagebank sitzen. Sollte der Prozess wie geplant fortgesetzt werden, könnte umfassend die türkische Beihilfe bei der Finanzierung des iranischen Atomwaffenprogramms ans Licht kommen.

Der türkisch-iranische Unternehmer Reza Zarrab, der in dieser Sache bereits in einem anderen Ermittlungsverfahren beschuldigt wurde, tritt als Kronzeuge auf. Nachdem er im März 2016 wegen des Verdachts auf Geldwäsche verhaftet worden war, ging er mit der US-Justiz ein Deal ein. Er behauptet nun, der Schwiegersohn Erdoğans und der ehemalige Finanzminister Berat Albayrak habe von der Geldwäsche gewusst und sei in die Abläufe, die über die Halkbank abgewickelt wurden, involviert gewesen.

Eine Schlüsselrolle in diesem Verfahren spielt auch der frühere Halkbank-Manager Hakan Atilla. Er wurde bereits zu einer Freiheitsstrafe von 32 Monaten verurteilt, und im Sommer 2019 nach über zwei Jahren aus der amerikanischen Haft in die Türkei abgeschoben.

Intervention Trumps?

Der Umstand, dass Atilla von Rudolph Giuliani verteidigt wurde, hat immer wieder zur Mutmaßung geführt, die US-Finanzbehörde habe die staatseigene türkische Bank bislang deswegen nicht sanktioniert, weil Trumps Wohlwollen gegenüber Erdoğan dem im Wege stand. Wie die New York Times nahelegt, soll Erdoğan monatelang auf Trump gedrängt haben, die Ermittlungen gegen die Halkbank auszubremsen. Trump soll schließlich eingelenkt und auf die Ermittlungen der US-Justiz eingewirkt haben.

Sollten nun Sanktionen gegen die Halkbank erfolgen und nachgewiesen werden, welche Rolle Albayrak innehatte, dürfte der Fall zum Nachteil der Familie Erdoğan zum Politikum werden. Spekulationen, dass Albayrak deswegen als Finanzminister zurückgetreten ist, um einem noch größeren Gesichtsverlust zu entgehen, sind nicht abwegig.

Bidens Wahl dürfte in dieser Sache für die Türkei daher sehr nachteilig sein. Bereits im August 2016 drängte Erdoğan auf Biden, der damals Vizepräsident war, sich der Causa Halkbank persönlich anzunehmen und auf Präsident Obama einzuwirken. Vergeblich, denn Biden antwortete: „Das kann nur ein Bundesgericht. Das kann sonst niemand. Wenn der Präsident dies selbst in die Hand nehmen würde, würde er wegen Verstoßes gegen die Gewaltenteilung angeklagt werden.“

 

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Samstag, 21.11.2020 / 19:35 Uhr

Türkei: Schwierige Schwiegersöhne

Von
Murat Yörük

Tod oder Exil: Vor dieser Wahl standen osmanische Schwiegersöhne – auch Damat genannt – einst, denen zwar der Aufstieg in hohe Positionen gelang, deren Abgang im Konkurrenzkampf mit den Söhnen des Sultans um die Thronfolge jedoch meist fatal endete.

 

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Quelle: Haberler

 

Die Geschichte des Osmanischen Reiches kennt so einige solcher Schwiegersöhne, zu einer ernsthaften Gefahr für die Fortexistenz des Reiches konnten sie jedoch niemals werden. Nichts wäre nämlich bedrohlicher gewesen als die aus einer Nebenlinie resultierende Gründung einer rivalisierenden Dynastie. Doch so weit kam es nicht. Es blieb dabei, dass das osmanische Herrschergeschlecht trotz vieler Zerwürfnisse, Rivalitäten und Intrigen über sechs Jahrhunderte das Imperium zusammenhalten konnte, bis es nach dem Ersten Weltkrieg endgültig unterging.

So treten in der osmanischen Geschichtsschreibung neben aufständischen Brüdern und rebellierenden Söhnen, die keine Skrupel vor dem Brudermord hatten, insbesondere die Schwiegersöhne hervor. Zur Berühmtheit brachten es Karamanoglu Alaaddin Bey und Damad Ferid Paşa.

Ersterer wagte einen Frontalangriff auf seinen Schwiegervater und Sultan Murad I. (1359-1389), wurde jedoch vom Bruder seiner Frau Beyazit auf dem Schlachtfeld getötet.

Auch Damad Ferid Paşa, der Schwiegersohn von Sultan Abdulmecid I. (1839-1861), diente in Spitzenpositionen unter drei verschiedenen Sultanen, als das Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts um sein Überleben kämpfte. Ihn ereilte zwar nicht dasselbe Schicksal wie Alaaddin Bey; er wurde jedoch für die Akzeptanz der harten Bedingungen des Vertrags von Sèvres vom 10. August 1920 durch das Imperium verantwortlich gemacht und vom neuen türkischen Parlament zusammen mit dem Rest der osmanischen Dynastie ins Exil geschickt. Er starb kurz vor der Erklärung der Republik am 6. Oktober 1923 in Nizza.

Erdoğans Kronprinz

An diese Damat-Tradition schließt die Ehe zwischen Berat Albayrak und Esra Erdoğan an, der Tochter Recep Tayyips, die 2004 unter der Anwesenheit prominenter Gäste wie dem ehemaligen italienischen Regierungschef Silvio Berlusconi geschlossen wurde. Albayrak, dessen Vater Sadik Albayrak ein bekannter islamistischer Autor ist, gehört zum ältesten exklusiven Zirkel um den türkischen Staatspräsidenten.

Die Eheschließung diente, wie in solchen Kreisen üblich, zur Etablierung eines Familienbündnisses, um sich der gegenseitigen Loyalität zu versichern. Es überrascht daher kaum, dass Berat Albayrak nach seinem Masterstudium an der New Yorker Pace University bereits mit 29 Jahren zum CEO der regierungsnahen Calik-Holding aufstieg.

Der Mischkonzern gehört dem Erdoğan-Vertrauten Ahmet Calik, der ebenfalls eng mit Albayrak Senior befreundet ist, und ist eines der größten Unternehmen in der Türkei. Unter Albayraks Führung rückte die Holding noch stärker in die Nähe der AKP-Regierung und gewann zahlreiche profitable Ausschreibungen im Energie- und Bausektor.

Als Berat Albayrak – von Erdoğan durchgehend protegiert – 2015 zunächst zum Energieminister und dann im Juli 2018 zum Finanzminister ernannt wurde, vervollständigte sich das Bild des neu-osmanischen Despotismus von Erdoğan endgültig. Insbesondere diese Besetzung des Postens des türkischen Finanzministers durch den Schwiegersohn Berat Albayrak gehörte zur medialen Inszenierung des türkischen Führers, der damit suggerieren wollte, an die osmanische Tradition angeschlossen zu haben.

Ein miserabler Finanzminister

Doch ausgerechnet im Sommer 2018 brach die bis heute andauernde türkische Wirtschaftskrise aus, und Albayrak stand seitdem vor einer gewaltigen Aufgabe. Als unerfahrener Aufsteiger hatte er sich als Krisenlöser der Nation zu beweisen. Im Herbst 2018 verkündete er darum ein völlig neues Wirtschaftsmodell, um die türkische Wirtschaft vor dem Kollaps zu retten. Hierzu sah er strenge Haushaltsdisziplin, Inflationsbekämpfung und die Wahrung der Unabhängigkeit der Zentralbank vor.

Allerdings verkündete er zum Missfallen der türkischen Wirtschaftsfunktionäre, die er penibel ausgesucht zu einem Meeting orderte, keine konkreten Maßnahmen.

Ein miserabler Auftritt auf dem Frühjahrsmeeting 2019 des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank verschreckte zudem internationale Investoren. Die Tageszeitung Welt zitierte einen Fondsmanager mit den Worten: „Ich habe noch nie einen Regierungsvertreter gesehen, der so schlecht vorbereitet war.“ Und so nahmen der rapide Währungseinbruch, der Vertrauensbruch der Märkte in die Türkei und insbesondere die Kapitalflucht ihren Lauf. Albayrak gelang es nicht, die Märkte zu beruhigen.

Stattdessen setzte er alles daran, um zu einem so genannten „Gate-Keeper“ („Türhüter“) zu werden. Wer Präsident Erdoğan in Wirtschafts- und Finanzfragen sprechen wollte, musste zuerst Albayrak kontaktieren. Hierfür nutzte er seine Position als zweitmächtigster Mann des Landes sowie das volle Vertrauen Erdoğans, der ihm das wichtigste Amt anvertraut hatte. Doch diese Position scheint er, wie in diesen Tagen publik wurde, eher dafür genutzt zu haben, eigene Kader an wichtige Schaltstellen zu setzen.

Der gefallene Kronprinz  

So kam es dazu, dass die überstürzten Anweisungen an die türkische Zentralbank, mithilfe von Devisenverkäufen von weit über 110 Milliarden Dollar die Inflation zu bekämpfen und die Lira-Abwertung aufzuhalten, viel eher dazu führten, dass es weder zu einem imposanten Wirtschaftswachstum noch zur Inflationssenkung kam, sondern zum Gegenteil.

Der Ausverkauf scheint Erdoğan nicht sonderlich aufgefallen zu sein; zumindest stützte er bis zuletzt unwidersprochen den Schwiegersohn; auch als 2016 publik wurde, dass die Firma Powertrans, die als einziges türkisches Unternehmen die Einfuhrlizenz für Erdöl besitzt, Erdöl des Islamischen Staates importierte. Den gehackten 57.000 E-Mails von Albayrak konnte entnommen werden, dass dieser als eine Art Schattenchef von Powertrans fungierte.

Auch scheint es kein Missfallen darüber gegeben zu haben, das durch diese E-Mails ebenso bekannt wurde, dass Albayrak 2012 Sexspielzeug bestellte oder dass er seine Eheprobleme mit Ehefrau Esra Albayrak über E-Mail-Verkehr diskutierte. Die einzige Reaktion auf die Offenlegung dessen, dass Erdoğan seine Familie als Vorbild für einen gelebten Islam inszeniert, die privaten Einblicke in das Eheleben der Tochter und des Schwiegersohns jedoch vom Gegenteil zeugten, war eine gerichtlich verhängte Nachrichtensperre über diese Umstände.

Rücktritt mit Folgen

Die schützende Hand Erdoğans hatte zudem innerhalb der AKP immer wieder für Missmut gesorgt. Sonderlich beliebt ist Albayrak in der Partei nicht, er gilt als eitel und inkompetent. Das lag mitunter daran, dass parteiinterne Kritiker Albayrak die Schuld für die Wiederholung der Kommunalwahlen in Istanbul gaben: er habe Erdoğan dazu überredet, die Wahlen zu wiederholen, die die AKP dann deutlich verlor.

Auch ist Albayraks Dauerclinch mit dem amtierenden türkischen Innenminister Süleyman Soylu berüchtigt; beide sprechen nicht miteinander, und es kam bei Gelegenheit sogar zu Rempeleien. Soylu gilt zudem als die rechte Hand Erdoğans, und ist für seine Kontakte zum sogenannten tiefen Staat bekannt. Er ist sogar als potenzieller Nachfolger Erdoğans im Gespräch.

Es wundert darum kaum, dass die den Albayrak-Flügel dominierende sogenannte Pelikan-Gruppe, die das verhindern will, Soylu häufig angreift und auch daran mitwirkte, ihn im April 2020 zum Rücktritt zu drängen, was wiederum Erdogan nicht akzeptierte.

Seit seinem ungewöhnlichen Rücktritt mittels einer Instagram-Nachricht ist Albayrak nun wie verschollen. Es gibt Gerüchte, dass er von Erdoğan unter Hausarrest gestellt wurde, da unüberlegte Impulshandlungen befürchtet werden, die das Regime in eine schwierige Situation bringen könnten. Darum sind sowohl der Account auf Twitter wie auch Instagram von Albayrak gelöscht.

Ob allerdings, wie die FAZ titelt, nun eine „dramatische Kehrtwende der Türkei“ zu erwarten ist, ist fraglich. Albayrak Senior hat derweil, um die Wogen zu glätten, in der islamistischen Tageszeitung Yeni Akit seine ungebrochene Loyalität und Treue zum Regime bekräftigt. „Ich habe meine Kinder als Soldaten eines göttlichen Zwecks und einer globalen Sache erzogen“, wird er dort zitiert. Tage zuvor gab es Gerüchte, Albayrak Senior sei aus Protest aus der AKP ausgetreten.

 

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Dienstag, 17.11.2020 / 11:56 Uhr

Erdogans Hass auf den Laizismus

Von
Murat Yörük

Neben geopolitischen Differenzen zwischen den beiden Ländern weiß Erdogan nur zu gut Bescheid, dass der ihm verhasste türkische Laizismus den französischen zum Vorbild genommen hat.

 

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Bild: Karikatur von Maarten Wolterink

 

Das Jahr 2020 wird in die türkische Geschichte nicht nur – wie sonst überall – als das Corona-Jahr eingehen, sondern insbesondere als das Jahr der verzweifelten Suche nach einem Ausweg aus den unendlich vielen innen- wie außenpolitischen Sackgassen, in die das Land hineingeraten ist. Nahezu monatlich ließ die türkische Führung dieses Jahr bestehende oder neue Konflikte eskalieren und zettelte, angetrieben von Streit- und Tobsucht, Krisen an, die sie weder diplomatisch noch militärisch wirklich überzeugend führen konnte.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ist in dieser Hinsicht tatsächlich ein Meister der Krise. Nicht deshalb, weil er über die besondere Gabe verfügt, tatsächliche Krisen zu meistern, also zu lösen. Sondern: Er scheint geradezu prädestiniert dafür zu sein, durch aggressive Rhetorik und Verfolgungswahn Krisen heraufzubeschwören und überall nur noch Feinde zu sehen. Und Feinde, so die paranoide Logik, bekämpft man.

Ob nun der Gasstreit im Mittelmeer mit den Anrainerstaaten; die Intervention in den libyschen Bürgerkrieg; das Kriegsgeheul und Säbelrasseln gegen Griechenland; das Anstacheln im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt: In all diesen Krisenherden findet die Türkei immer wieder den NATO-Partner Frankreich als Gegner vor.

Frankreich stört

Es war folglich nur eine Frage der Zeit, wann diese Gegnerschaft in Feindschaft umschlägt. Denn die Interessen Frankreichs stehen diametral dem türkischen Treiben entgegen. Die türkischen Ambitionen prallen nahezu immer auf die französischen Interessen, mit der Folge, dass der herbeigesehnte Durchbruch für die türkische Führung ausbleibt und trotz aller Bemühungen zum Scheitern verurteilt ist.

Wirklich aktiv musste Paris bislang nicht werden, um Ankara in seine Schranken zu verweisen, die türkischen Machtspielchen waren leicht zu hintertreiben. Es genügte, ohne große Kraftdemonstrationen die eigenen Interessen offen zu vertreten. Zum Missfallen der türkischen Führung gelang es Paris deshalb – ohne eigenes besonderes Zutun –, die Türkei einfach machen zu lassen. Entblößen würde sich Ankara von selbst. So kam es dann auch.

Macron nimmt die Türkei als eine gefährliche Regionalmacht ernst, weiß um die türkischen Zersetzungsbemühungen und Einflussnahmen durch Moscheen und Verbände in Frankreich Bescheid.

Als Mitte Oktober der Lehrer Samuel Paty bestialisch ermordet wurde, bekräftigte Macron abermals den Kampf gegen den „islamischen Separatismus“. Erdoğan polterte und warf Macron „Islamophobie“ vor. Er solle sich in psychologische Behandlung begeben, so Erdoğan. Kurz darauf folgten Boykottaufrufe gegen französische Produkte, die Satirezeitschrift Charlie Hebdo brachte einen ungekannten feuchtfröhlichen Erdoğan auf die Titelseite, und Frankreich zog vorübergehend seinen Botschafter aus Ankara zurück, nachdem weitere türkische Politiker ausfällig wurden.

Showdown im Mittelmeer

Diese Eskalation kam nicht sonderlich überraschend, hatte jedoch das Potential, die bisherigen Streitigkeiten beider Länder zu überdecken. Tatsächlich braut sich seit Beginn dieses Jahres ein Showdown im Mittelmeer im Streit um die Gas-Ressourcen zusammen, bei dem Frankreich seine Unterstützung für Griechenland und Zypern zusicherte und Marineschiffe ins östliche Mittelmeer entsandte, seine Position als eine Ordnungsmacht bekräftigte und immer deutlicher Europa zu einem entschlosseneren Handeln gegen die Türkei drängt.

Zunehmend finden sich beide Nationen auch in weiteren Konfliktfeldern wie in Libyen oder im jüngsten aserbaidschanisch-armenischen Krieg auf unterschiedlichen Seiten.

Durch den Rückzug der Vereinigten Staaten und der Gleichgültigkeit Europas sieht sich Frankreich in der MENA-Region in einer besonders herausfordernden Rolle. Macron nimmt die Türkei als eine gefährliche Regionalmacht ernst, weiß um die türkischen Zersetzungsbemühungen und Einflussnahmen durch Moscheen und Verbände in Frankreich Bescheid und gerät deswegen in Ankaras Schusslinie. Darum distanziert sich Macron deutlich vom NATO-Partner, der für Frankreich im östlichen Mittelmeer kein Partner mehr ist.

Neben strategischen Erwägungen spielen hier auch wirtschaftliche Gründe eine Rolle. So wurde im September bekannt, dass Griechenland 18 Exemplare des französischen Kampfflugzeugs Rafale, zudem Fregatten und Hubschrauber kaufen wird.

Frankreich als Feind

Zu einem ernsten Zwischenfall kam es bereits Anfang Juni, als eine französische Fregatte und ein türkisches Kriegsschiff vor der libyschen Küste auf Konfrontationskurs waren. Dabei richteten die Türken, so die französische Regierung, das Feuerleitradar auf die französische Fregatte „Courbet“ – ein solches Manöver kündigt üblicherweise einen geplanten Angriff an. Dabei ist die „Courbet“ im Rahmen des NATO-Einsatzes Sea Guardian unterwegs, um u.a. den Waffenschmuggel nach Libyen zu unterbinden.

 

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Vor dem narzistischen Totalkollaps? Bild: Pixabay

 

Genau dies werfen die Franzosen den Türken vor. Ankara transportiere systematisch Waffen nach Libyen. Darum erklärte Macron unmissverständlich, man brauche eine „Klärung der türkischen Politik in Libyen, weil sie eine Bedrohung für Afrika und eine Bedrohung für Europa ist“. Auf dem libyschen Schlachtfeld ist jedoch klar, wer welche Seite unterstützt. Frankreich steht auf der Seite des Generals Chalifa Haftar, die Türkei unterstützt den libyschen Regierungschef Fajis al-Sarradsch.

Darum überrascht ein weiterer Zwischenfall vom Juli kaum, verdeutlicht aber die zunehmende Brisanz des Dauerclinches der NATO-Partner. So arbeitet der französische Ölriese Total seit den 1950er Jahren in Libyen und hat im vergangenen Jahr 650 Millionen US-Dollar in die Waha-Konzessionen in der Provinz Sirte investiert. Ein von der Türkei unterstützter Angriff auf Haftars Streitkräfte in Sirte würde somit einen Angriff auf französische Interessen bedeuten. Ungeklärt ist bis heute, ob der Luftangriff im Juli auf den Watiya-Luftwaffenstützpunkt von französischen Jets durchgeführt wurde.

Erdoğan weiß, dass sein politisches Schicksal davon abhängt, ob er die aktuelle Wirtschaftskrise lösen können wird.

Auch weiter südlich in der Sahelzone geraten Frankreich und die Türkei aneinander. In Niger hat Frankreich eine bedeutende Präsenz und ist für seine Atomkraft auf nigerianisches Uran angewiesen. Ende Juli haben die Türkei und Niger eine Reihe von Abkommen über wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit unterzeichnet. Den Eintritt der Türkei in die nigerianische Bergbauindustrie bewertet Michaël Tanchum als offenen Affront gegen Frankreich.

Die verhasste Laizität

Vor einigen Tagen erinnerte der französische Islamismus-Experte Gilles Kepel daran, dass Erdoğans Hasstiraden gegen Frankreich auch damit zusammenhängen, dass dieser nur zu gut Bescheid weiß, dass der türkische Laizismus den französischen zum Vorbild genommen hat.

Erdoğan weiß, dass sein politisches Schicksal davon abhängt, ob er die aktuelle Wirtschaftskrise lösen können wird. Wie jeder Erblasser ahnt er, dass vor dem drohenden Untergang noch Akzente gesetzt gehören, um den Erbverwaltern in Stein zu meißeln, welche Errungenschaften von ihm bleiben sollten. Darum treibt den türkischen Führer auch nichts mehr als die Angst vor dem eigenen Untergang in die Bedeutungslosigkeit.

Die bemühte Inszenierung als der Führer der islamischen Welt; die Re-Islamisierung der Hagia Sophia; die neuesten Beschwörungen islamischer Kulte. Das sind nicht die Eskapaden eines aufsteigenden Führers, der mit Überheblichkeit und Angeberei triumphiert. Stattdessen sind es die Hilfeschreie eines Führers, der spürt, dass der drohende Fall aufs Nullniveau den narzisstischen Totalkollaps nicht nur für ihn selbst, sondern für den türkischen Islamismus bedeuten wird.

Davon zeugt nicht zuletzt der Umstand, dass mit dem Rücktritt des Schwiegersohns Berat Albayrak ein potentieller Nachfolger abgedankt hat. Ein Führer jedoch ohne Anspruchsdenken, ohne einen würdigen Ziehsohn, ist kein Führer mit Autoritätsanspruch, sondern ein Führer ohne Erbe.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

Dienstag, 03.11.2020 / 13:05 Uhr

Wien: Die Phrasendrescherei danach

Von
Murat Yörük

Nach jedem islamistischen Anschlag melden sie sich umgehend zu Wort: Die Phrasendrescher danach.

 

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Screenshot von T-Online.de

 

Phrasendrescher, die nach jedem islamistischen Anschlag "business as usual" betreiben, sind wieder aktiv, und fordern Abschiebungen, den Kampf gegen den Islam, Rückeroberungen, Feindbestimmungen, etc.

 

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Beispiel Eins, Quelle: Facebook

 

Oft handelt es sich bei diesen phrasendreschenden jungen Männern, die Kampfparolen darbieten, dem Augenschein nach aber nicht gerade um kampferprobte Zeitgenossen. Um sachlich zu bleiben: Wenn es ernst werden sollte, verdrücken sie sich eher als in die Schlacht zu ziehen.

 

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Beispiel Zwei, Quelle Facebook

 

Nun berichten einige Medien von einem jungen Mann: Recep Tayyip Gültekin. Er soll gestern Abend einem verwundeten Polizisten und weiteren Schwerverletzten mit einem Freund zur Hilfe geeilt sein. Ein kleiner Blick auf Gültekins Instagramprofil verrät: Ein bisschen grauer Wolf steckt in ihm. In einem Video gratulieren ihm seine Freunde mit dem Spruch "Bordo Bereli". Das ist eine türkische Spezialkräfteeinheit, die im Umgang mit "Terroristen" nicht gerade zimperlich ist.

 

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Profil von Recep Tayyip Gültekin, Quelle: Instagram

 

Sympathiebekundungen bekommen sie u.a. von Grauen Wölfen. Und diese Wölfe will der französische Präsident Macron in Frankreich verbieten. Werden die Phrasendrescher für ein islamfreies Europa dann vor Barbaren mit Maschinengewehren schützend in die Schlacht ziehen? Oder bedarf es viel eher jener mutigen Gültekins, auch wenn sie sonst den grauen Wolf geben? Fragen, die Phrasendrescher eher nicht stellen, weil sie wissen, dass es im Ernstfall auf sie nicht ankommen wird. Schließlich gilt: Business as Usual nach jedem islamistischen Terroranschlag.

PS Österreichische Zeitungen feiern derweil die "drei Helden von Wien". Neben Gültekin sind das der andere Kampsportler Mikail Özen und Osama Joda:

Noch bevor Gültekin und Özen den angeschossenen Polizisten zum Rettungswagen schleppen konnten, hatte der junge Palästinenser Osama Joda den Beamten hinter einer Betonbank in Sicherheit gebracht und ihm Erste Hilfe geleistet. KURIER-Lesern ist er kein Unbekannter. Voriges Jahr machten er und seine Familie Schlagzeilen, als sie ein Haus im nö. Weikendorf kaufen wollten - und vom örtlichen Bürgermeister abgelehnt wurden, weil sie Muslime sind.

 

 

Freitag, 28.08.2020 / 16:42 Uhr

Istanbul als neues Hamas-Hauptquartier?

Von
Murat Yörük

Außerhalb des Gazastreifens wird die Luft für die Hamas im arabischen Raum immer dünner. Springt jetzt Istanbul als neues Auslandshauptquartier ein?

 

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Bildquelle: Anadolu

 

In den vergangenen Jahren ist die türkische Millionenmetropole Istanbul zu einem ihrer wichtigsten Stützpunkte der Hamas außerhalb des Gazastreifens geworden. Ähnliches gilt für die ägyptische Muslimbruderschaft, deren Führung, so sie nicht in ägyptische Kerker geworfen wurde, nach dem Sturz von Präsident Mursi fast geschlossen ins Exil nach Istanbul gegangen ist und ihre Aktivitäten nunmehr von dort fortsetzt.

Die Hamas hat sich in Istanbul ungeachtet der Unterzeichnung des Abkommens zwischen der Türkei und Israel im Juni 2016, das eine diplomatische Wiederannäherung initiieren sollte, breitmachen können, nachdem sie ihre Präsenz in Beirut und Damaskus und schließlich auch in Katar allmählich verringern musste.

In der Türkei wird die Hamas nicht nur geduldet, sondern aktiv von der türkischen Regierung unterstützt, die sie für keine terroristische Organisation hält. Sie ist bestens über deren Umtriebe informiert, regelmäßig wird ihr über die Hamas-Aktivitäten in der Türkei berichtet, die aber keinerlei Besorgnis auszulösen scheinen. Möglich ist, dass die Hamas bei ihrer Übersiedlung einer türkischen Einladung gefolgt ist.

Schon im September 2011 hat der israelische Geheimdienst Shin Bet offengelegt, dass die Hamas in Istanbul ein Büro eröffnet hat. Die Metropole am Bosporus ist seitdem gleichermaßen sicherer Rückzugsort wie Operationsbasis für die Hamas, die von dort aus Attentate in Israel planen kann.

Auch wenn die Türkei das vehement bestreitet, sind die Beweise der israelischen Geheimdienste erdrückend. Maßnahmen, um die Aktivitäten der Hamas in der Türkei zu beenden oder zu reduzieren, sind von der türkischen Seite bislang nicht erfolgt. Sie sind auch nicht zu erwarten, ganz im Gegenteil: Es verdichten sich eher die Hinweise darauf, dass die türkische Regierung ihre Beziehungen zur Hamas aktuell intensiviert.

Türkische Pässe

Wie die englische Tageszeitung The Telegraph jüngst berichtete, gibt es nun Belege dafür, dass hochrangige Hamas-Kader türkische Pässe bekommen haben. Der Zeitung war es möglich, in einige der Dokumente Einsicht zu erhalten. So sollen bereits sieben von zwölf Kadern im Besitz eines türkischen Passes sein, für weitere fünf seien die Pässe derzeit in Bearbeitung. Einige von ihnen sollen türkische Decknamen erhalten haben. (Mena-Watch hat gestern bereits darüber berichtet.)

Neben Zacharia Najb, der ein Komplott zur Ermordung des Bürgermeisters von Jerusalem geplant haben soll, soll sich darunter auch Jihad Ya’amor befinden, der an der Entführung des IDF-Soldaten Nahshon Waxman im Oktober 1994 beteiligt war. Fast alle der zwölf Kader seien im Rahmen des Gilat Shalit-Austauschs zwischen Israel und der Hamas 2011 freigelassen worden und dann in die Türkei gezogen, von wo aus sie ihre Aktivitäten fortführen.

Die Vorteile eines türkischen Passes sprechen für sich: Mit ihm können viele Länder ohne ein Visum bereist werden. Aktuell bemüht sich die Türkei darum, dass ihre Staatsbürger ohne ein Visum nach Europa reisen können.

Gern gesehene Gäste

Ob es eine Einbürgerungsfeier für die neuen türkischen Staatsbürger gegeben hat, ist nicht bekannt. Ismail Haniyeh, der Chef der Hamas, hält sich jedoch aktuell in der Türkei auf. Regelmäßig reist er in die Türkei und wird dort auch staatsoffiziell empfangen.

Neben Haniyeh ist Saleh al-Arouri, der stellvertretende Führer der Hamas, der jahrelang das Büro in Istanbul leitete, regelmäßig zwischen dem Libanon und der Türkei unterwegs. Obwohl das US-Außenministerium 2018 für Hinweise zur Identifizierung und Ergreifung al-Arouris eine Belohnung von bis zu fünf Millionen Dollar ausgesetzt hat, unternahmen türkische Behörden nichts, um dem NATO-Partner USA zu helfen und den Terroristen festzusetzen und auszuliefern. Al-Arouri ist dem Meir Amit Intelligence and Terrorism Information Center zufolge eine Schlüsselfigur in den Beziehungen zwischen der Hamas, der Hisbollah und dem Iran.

Drei weitere hochrangige Hamas-Kader, Zahir Jabareen, Musa Abu Marzouk und Nizar Awadallah sind ebenfalls aus Katar bzw. dem Libanon in die Türkei gezogen. All diese Gäste sind von der Türkei offenbar willkommen geheißen worden.

Wird Istanbul zum neuen dauerhaften Hauptquartier?

Es wäre nicht überraschend, wenn hinter den aktuellen Entwicklungen noch mehr stecken würde, als bislang bekannt geworden ist. Kein Geheimnis ist jedenfalls, dass die Hamas auf der Suche nach einem neuen dauerhaften Hauptquartier ist, nachdem ihr die jüngsten Umbrüche in der MENA-Region zugesetzt haben. Ihr Handlungsspielraum in vielen arabischen Ländern wird immer kleiner.

Im Moment hat sie ernste Schwierigkeiten mit Ägypten, dem Libanon und Syrien, wo sie bis zum Ausbruch des Krieges 2011 ihren Sitz hatte. Und auch Katar, wo die Hamas sich niederließ, nachdem sie Damaskus verlassen musste, scheint ihr nicht mehr so freie Hand zu lassen wie bisher. Welches Land bleibt da noch übrig?

Wie die arabischsprachige Zeitung Al-Sharq al-Awsat im März berichtete, soll die Hamas bei ihrer intensiven Suche nach einem neuen Hauptquartier sogar mit Malaysia geliebäugelt zu haben. Doch warum in die Ferne Malaysias schweifen, wenn sich doch die Türkei anbietet, die sich sozusagen um die Ecke befindet?

Der türkische Präsident Erdoğan scheint dem Gedanken eines Hamas-Hauptquartiers im eigenen Land nicht abgeneigt zu sein, inszeniert er sich doch zunehmend gerne als der wahre Patron der Palästinenser – wobei seine Unterstützung schon bisher nicht der Palästinensischen Autonomiebehörde, sondern den Islamisten der Hamas galt.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

Montag, 24.08.2020 / 23:02 Uhr

Ägypten und Türkei auf Konfrontationskurs

Von
Murat Yörük

Sowohl im östlichen Mittelmeer als auch in Libyen nehmen die Spannungen zwischen Ägypten und der Türkei in letzter Zeit deutlich zu.

 

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Ägyptischer Panzer, Bild: Wikipedia

 

Wie zu erwarten war, reagierte die türkische Regierung äußerst gereizt auf das jüngst von Ägypten und Griechenland vereinbarte Seeabkommen, das im Mittelmeer die Grenzen zwischen beiden Staaten festlegen soll. Dabei handelt es sich um die Einrichtung einer Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), wie es Artikel 55 des Seerechtsübereinkommens der UN von 1982 vorsieht.

Die griechische Tageszeitung Kathimerini zitierte den türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu mit den Worten: „Ein solches Abkommen ist für uns null und nichtig“. Und: „Das werden wir an der Front und am Tisch beweisen“.

Der türkische Staatspräsident Erdoğan verkündete kurz darauf, dass die Türkei ihre Bohrungen im östlichen Mittelmeer fortsetzen werde. Wenige Tage später gab die türkische Marine eine Navigationsnotiz heraus – bekannt als Navtex –, dass das Forschungsschiff Oruc Reis bis zum 23. August im östlichen Mittelmeer ihre seismischen Aktivitäten wiederaufnehme.

Ankara sucht die Eskalation

„Diese Ankündigung ist ein klares Zeichen dafür, dass die Türkei eine kontrollierte Eskalation im östlichen Mittelmeerraum suchen wird“, so der Analyst und Militärexperte Metin Gürcan. Ankara habe mit dem Abkommen zwischen Ägypten und Griechenland als Reaktion auf das äußerst umstrittene Abkommen zwischen der libyschen Regierung und der Türkei vom November 2019, das international nicht anerkannt wird, nicht gerechnet und sei überrascht worden.

Die Türkei hat sich bis heute damit nicht abgefunden, dass in Ägypten die Show für die Muslimbrüder vorerst vorbei ist.

Inwieweit das ägyptisch-griechische Abkommen allerdings gehen werde, um der Türkei gegebenenfalls auch militärisch entgegenzuwirken, sei ungewiss. Eine solche Konstellation habe es seit dem Unabhängigkeitskrieg Griechenlands in den 1820er Jahren nicht gegeben.

Dennoch müsse – insbesondere weil die ägyptische Marine in den vergangenen Jahren stark aufgerüstet habe – davon ausgegangen werden, dass Ägypten und Griechenland deutliche Akzente gegenüber der Türkei setzen werden, zumal sich nun Seegebiete überschneiden, die sowohl von Ägypten und Griechenland als auch von der Türkei für sich beansprucht werden. Eine militärische Eskalation ist keineswegs ausgeschlossen. Anzeichen dafür, dass einer der Kontrahenten davor zurückschrecken würde, gebe es nicht, so Gürcan.

Muslimbrüder im türkischen Exil

Dass die türkische Aggression neben Griechenland nun auch Ägypten trifft, überrascht nicht. Die Beziehungen zwischen Ägypten und der Türkei haben sich nach dem Machtantritt von Abd al-Fattah as-Sisi nach dem Sturz des Muslimbruders Mohammed Mursi im Juli 2013 rapide verschlechtert.Die Türkei hat sich bis heute damit nicht abgefunden, dass in Ägypten die Show für die Muslimbrüder vorerst vorbei ist. Mehrere Tausend von ihnen leben heute im türkischen Exil und führen von dort die Organisation weiter. Eine aktuelle Analyse geht sogar von bis zu 30.000 Exilanten aus, die der ägyptischen Muslimbruderschaft zugerechnet werden.

 

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Zu Gast bei Freunden; Hamas-Delegation in Ankara

 

Die Zukunft der Muslimbrüder werde sich in Istanbul offenbaren, so die These des Analysten Abdelrahman Ayyash. In Ägypten seien ihre Strukturen zerschlagen, im türkischen Exil konstituierten sie sich neu. Ob sie sich jemals wieder den Organisationsgrad der Vergangenheit erreichen könnten, hänge nicht zuletzt auch davon ab, wie viel Freiraum ihr die türkische Regierung gewähre. Nichts spreche dafür, dass ihr die Unterstützung aus Ankara entzogen werden könnte.

Ganz im Gegenteil: Der türkische Präsident trete immer mehr als Lehrmeister auf, gerade auch mit seinem taktischen Auftreten gegenüber dem türkischen Militär. Nach anfänglichem Zögern insbesondere in den 2000er Jahren, als die AKP noch nicht offen mit dem türkischen Säkularismus gebrochen habe, genieße der große Bruder Erdoğan unter den Muslimbrüdern mittlerweile hohe Anerkennung. Ideologisch und historisch erfreuten bestünden enge Verbindungen zwischen den ägyptischen und den türkischen Islamisten.

Die türkische Gastgeberrolle ist dem ägyptischen Präsidenten as-Sisi deshalb ein Dorn im Auge und die Furcht verständlich , dass Ankara einen Regimewechsel in Kairo zugunsten der Muslimbrüder herbeiführen wolle. Für Kairo ist die türkische Präsenz im Mittelmeer, und schwerwiegender noch die im benachbarten Libyen, eine ganz offensichtliche Kampfansage.

Kräftemessen in Libyen

Während der Machtkampf im östlichen Mittelmeer zunimmt, mobilisieren beide Seiten auch Verbündete in Libyen, wo die Türkei ihre Intervention ausweitet. Ägypten unterstützt die Kräfte um General Haftar in Ostlibyen, die Türkei hingegen steht auf der Seite der libyschen Regierung in Westlibyen und schickt unablässig Verstärkung in Form syrischer Söldner an die Kriegsfront. Entscheidend für den weiteren Verlauf im libyschen Bürgerkrieg wird daher auch sein, wie der Streit um die Gasvorkommen im Mittelmeer verlaufen wird.

Noch zögert Ägypten, in Libyen mit eigenen Truppen einzumarschieren. Kairo sieht sich allerdings durch die türkische Intervention im Nachbarland massiv bedroht. Bereits im Juni zog as-Sisi deshalb Konsequenzen. Er erklärte das Gebiet zwischen Sirte am Mittelmeer und um den Jufra-Luftwaffenstützpunkt in Zentrallibyen zu seiner roten Linie.

Das sieht die türkische Seite als willkommene Gelegenheit, um die ägyptische Entschlossenheit zu testen. Ankara weiß, dass Kairo sich in einem Dilemma befindet. Jede weitere Handlung – insbesondere um Sirte und Jufra – könnte einen offenen Krieg zwischen der ägyptischen und türkischen Armee provozieren, jedes Zögern allerdings als Schwäche verstanden werden und zum Vormarsch der türkischen Söldner einladen.

Der Sprecher des türkischen Präsidenten, Ibrahim Kalin, erklärte entsprechend: „Die Türkei ist besorgt darüber, dass sich in den libyschen Städten Sirte und Jufra seit einem Jahr militärische Kräfte angesammelt haben, die eine Bedrohung für den Frieden und die territoriale Integrität des Landes darstellen“ Wenn Waffen und Söldner aus Sirte und Jufra abgezogen würden, könnte das ein guter Schritt sein, um weitere Konfrontationen zu vermeiden.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

Dienstag, 18.08.2020 / 11:45 Uhr

Liraverfall und kaum Touristen: Türkei in der Krise

Von
Murat Yörük

Angesichts des Währungsabsturzes wären Touristen für die Türkei wichtiger als je zuvor. Ob sie noch kommen werden, steht in den Sternen.

 

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Leer: Ausflugsboote an der türkischen Küste, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

 

Jüngst ist das deutsche Auswärtige Amt dem vielfach geäußerten Wunsch der türkischen Regierung gefolgt und hat ihre Reisewarnung für die Türkei teilweise aufgehoben. Wegen Corona gelten bis zum 31. August für 160 Länder Reisewarnungen. Davon betroffen war auch die Türkei, die neben Großbritannien jetzt das zweite Nicht-EU-Land ist, für das die Reisewarnung zurückgenommen wurde.

Nunmehr gelten die Provinzen Antalya, Izmir, Aydin und Mugla als sicher, wenn auch strikte Regeln gelten. Diese beinhalten unter anderem eine verpflichtende PCR-Testung innerhalb von 48 Stunden vor der Rückreise nach Deutschland. Die Kosten von umgerechnet 15 Euro in einem zertifizierten Labor bzw. 30 Euro am Flughafen müssen die Reisenden selbst tragen.

Die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer verwies auf die niedrigen Fallzahlen an Neuinfektionen in diesen Provinzen. Überzeugt habe auch das „spezielle Tourismus- und Hygienekonzept“, das die türkische Regierung vorgelegt habe. „Bei einer Verschlechterung der pandemischen Lage kann die Reisewarnung auch für die genannten vier Provinzen wieder eingeführt werden“, so Demmer.

Touristen bleiben weg 

Diese Neueinschätzung kommt der Türkei sehr gelegen. Denn eine der tragenden Säulen der türkischen Wirtschaft ist die Tourismusbranche. Von ihr leben nicht nur Saisonarbeiter, die insbesondere in den Sommermonaten ihr Einkommen in den beliebten Urlaubsregionen an der Ägäis und am Mittelmeer verdienen. Auch das Land selbst füllt mithilfe der Touristen die dringend benötigten Devisenreserven.

2019 boomte der Tourismus, etwa 52 Millionen Besucher kamen in die Türkei, ein neues Rekordjahr. Die Einnahmen betrugen knapp 35 Milliarden Dollar, eine Steigerung von 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Entsprechend hatte die türkische Tourismusbranche auf das Jahr 2020 gesetzt und hohe Erwartungen. Doch dann kam Corona, die Touristen blieben weg.

2019 kamen von den Touristen in der Türkei rund fünf Millionen aus Deutschland. Sie stand damit nach Spanien und Italien an dritter Stelle der Liste der beliebtesten Urlaubsziele der Deutschen. Nach den Russen – etwa sieben Millionen – sind die Deutschen die zweitwichtigste Urlaubergruppe. Nach Angaben des Tourismusministeriums kamen in diesem Juni fast 96 Prozent weniger Besucher ins Land als im Vorjahr. Im ersten Halbjahr waren es rund 75 Prozent weniger Touristen als noch 2019.

Hocherfreut über den jüngsten Schritt des Außenministeriums fiel deshalb die Reaktion der türkischen Regierung aus. „Wir begrüßen die Aufhebung der Reisewarnung Deutschlands für unsere Ferienregionen“, schrieb Außenminister Mevlüt Cavusoglu auf Twitter. Der türkische Tourismusminister Mehmet Nuri Ersoy verkündete: „Wir sind bereit, unsere deutschen Gäste im Rahmen des ‚Zertifikationsprogramms für gesunden Tourismus‘ zu empfangen.“

Die türkische Regierung drängte wochenlang auf die Aufhebung der Reisewarnung. Anfang Juli war der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu eigens nach Berlin gereist, um im Gespräch mit seinem deutschen Amtskollegen Heiko Maas auf eine Neubewertung hinzuwirken. Doch es blieb zunächst bei der Reisewarnung.

„Corona-Reisewarnungen sind in Deutschland keine Verhandlungsmasse für politische Deals – sie dienen dem Gesundheitsschutz, und das muss auch Präsident Erdoğan begreifen“, sagte Cem Özdemir noch dem Redaktionsnetzwerk Deutschland und warnte die deutsche Bundesregierung davor, auf dem Drängen der Türkei nachzugeben.

Corona bringt das Land durcheinander

Durch die Corona-Pandemie ist die türkische Krisenökonomie hart getroffen, denn krisengeschüttelt ist die Türkei spätestens seit der Währungskrise, die im August 2018 ausgebrochen ist. Die türkische Wirtschaft konnte sich allerdings durch den florierenden Tourismus 2019 gerade so über Wasser halten, profitierte bei Export durch die Lira-Abwertung und hat durch stattliche Sparmaßnahmen, den Zinssenkungen der Zentralbank und einer milden Inflationsbekämpfung die Krise zwar nicht gelöst, aber wenigstens aufgeschoben.

Zusätzlich pumpte die Türkische Zentralbank, nachdem der türkische Staatspräsident Erdoğan im August 2019 zu einem Richtungswechsel gedrängt und in die Unabhängigkeit der Zentralbank interveniert hatte, eigene Devisenreserven in den Markt, was zur Folge hatte, dass der Wechselkurs Lira-Dollar – wenn auch im Vergleich zu den Vorjahren hoch – bei etwa 6.5 Lira sich stabilisiert werden konnte. Der Preis zur Stabilisierung des Lira-Kurses war heftig: Mehr als 110 Milliarden Dollar haben die Zentralbank und mehrere Privatbanken ausgegeben, um die heimische Währung am Devisenmarkt zu stützen.

Doch mit der Corona-Krise, die weitreichende Folgen auf die Weltwirtschaft hat, hatte auch die türkische Regierung nicht gerechnet. Gerade weil die Türkei über keinerlei natürliche Ressourcen verfügt, somit Erdöl und Erdgas nahezu zur Gänze aus Aserbaidschan, dem Iran und Russland importiert werden müssen, und wie international üblich mit Dollar gezahlt wird, schlagen die Importkosten kräftig auf die Bilanzen – zumal dann, wenn die Lira-Abwertung zunimmt und die Ausgaben sich kursbedingt erhöhen. Dies führt seit Jahrzehnten zu einem Leistungsbilanzdefizit, denn importiert die Türkei chronisch mehr als sie exportiert.

So haben sich wirtschaftliche Abhängigkeiten ergeben, die die Türkei gerade in Krisenzeiten wie diesen in die Bredouille bringen – und wenn zusätzlich ausländische Kredite ausbleiben, weil internationale Ratingagenturen, wie in den vergangenen zwei Jahren geschehen, die türkische Kreditwürdigkeit auf die Stufe BB- herabgestuft haben, werden die Einnahmen aus dem Tourismus existenziell, sofern der Export nicht spürbar steigt.

Lira stürzt erneut ab

Mit dem bisherigen Wegbleiben der Touristen, der schwächelnden Landeswährung und dem Abschmelzen der Dollarreserven von 81 Milliarden auf 50 Milliarden ist der Spielraum der Türkischen Zentralbank nun stark beschränkt. Die türkische Lira fiel am Montag auf ein weiteres Rekordtief zum Dollar, auf 7,40 Lira. Damit hat sie seit Januar knapp 20 Prozent ihres Wertes eingebüßt. Ob die Zentralbank sich daher zu einer Leitzinserhöhung durchringen wird, um ausländisches Geldkapital anzulocken, wohl wissend, dass der türkische Staatspräsident ein erklärter Feind des Zinses ist, ist fraglich. Geldpolitisch sind ihr jedoch ohne eine Leitzinserhöhung – aktuell liegt der Leitzins bei 8,25 Prozent und damit deutlich unter der Inflationsrate von 11,76 Prozent – die Hände gebunden, zumal die Verunsicherung auf dem Devisenmarkt – aktuell bedingt durch die politischen Spannungen mit Griechenland – auf absehbare Zeit nicht verschwinden wird.

Üblicherweise kommt eine Lira-Abwertung den Touristen zugute. Sie können mehr ausgeben und profitieren vom für sie guten Wechselkurs. Entscheidend wird daher sein, ob die Touristen nun die türkischen Urlaubsgebiete ansteuern und die Sommermonate August und September noch nutzen – trotz Corona.

John Vandesquille, Analyst bei GlobalData, ist optimistisch und geht davon aus, dass der Kursverfall der Lira für den türkischen Tourismus ein Segen sein könnte. Für die Wettbewerber Ägypten und Spanien stünden die Zeichen in diesem Sommer eher schlecht. Trotz einer hohen Anzahl von Corona-Fällen habe die Türkei eine niedrigere Sterblichkeitsrate als der Konkurrent Spanien, und der günstige Wechselkurs des Landes locke mehr ausländische Touristen an, so Vandesquille.

So zeichne sich bereits jetzt ab, dass britische Touristen – 2019 seien etwa 2.5 Millionen Briten in die Türkei gereist – verstärkt in die Türkei statt nach Spanien kommen werden. Ob dies auch auf deutsche wie russische Touristen zutreffen wird, wird sich zeigen. Am 10. August haben russische Airlines ihre Flüge in die Urlaubsorte in der Türkei wieder aufgenommen.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

Montag, 10.08.2020 / 22:07 Uhr

Die Türkei und die Energie aus dem Kaukasus

Von
Murat Yörük

Um weniger von russischem Erdgas abhängig zu sein, zelebriert die Türkei ihre Freundschaft zu Aserbaidschan – auch militärisch.

 

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(Bildquelle: Wikipedia)

Als ob die Interventionen in Syrien und Libyen nicht genug wären, baut die Türkei nun auch ihre Aktivitäten im Südkaukasus aus. Deutlich hat Armenien auf das jüngste Militärmanöver der Türkei in Aserbaidschan reagiert. Der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan warf Ankara vor, dadurch die Spannungen in der Region zu erhöhen.

Die Militärübungen fingen am 1. August an und sollen noch bis zum 10. August andauern. Den Angaben des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums zufolge üben die türkischen und aserbaidschanischen Landstreitkräfte vom 1. bis zum 5. August in der Exklave Nachitschewan und in der Nähe der Hauptstadt Baku. Die Manöver von Kampfhubschraubern und Flugzeugen sollen bis zum 10. August dauern und auch im Norden Aserbaidschans – an der Grenze zu Armenien – stattfinden.

Neue Eskalation

Auch wenn die türkische Seite beteuert, dass die Militärübung schon länger geplant gewesen sei, erfolgt sie zu einem äußerst angespannten Augenblick. Gefechte und Scharmützel zwischen Armenien und Aserbaidschan sind zwar nicht neu, doch neuerdings eskalierte der Grenzkonflikt. Mitte Juli kam es zu heftigen Gefechten mit Artillerieeinsatz, auf beiden Seiten starben mehrere Dutzend Soldaten und Offiziere.

Anders als in der Vergangenheit brach die jüngste Eskalation allerdings nicht im seit Jahrzehnten umkämpften Gebiet Bergkarabach aus, das sich vor rund 30 Jahren von Aserbaidschan abspaltete. Es kam stattdessen zu Gefechten an der nördlichen Grenze, im Gebiet rund um den aserbaidschanischen Ort Tovuz.

Zwei Staaten, eine Nation

Wie selbstverständlich stellte sich die Türkei an die Seite des „Bruder-Staates“ Aserbaidschan und folgte damit erneut dem Leitspruch des aserbaidschanischen Ex-Präsidenten Heydar Aliyev: „Zwei Staaten, eine Nation“. „Unsere bewaffneten unbemannten Luftfahrzeuge, Munition und Raketen mit unserer Erfahrung, Technologie und unseren Fähigkeiten stehen Aserbaidschan zur Verfügung“, sagte İsmail Demir, Leiter des Vorstands der Verteidigungsindustrie, einer Organisation, die dem türkischen Präsidenten unterstellt ist.

Beide Staaten verbindet ein über Ethnie und Sprache definiertes Gemeinschaftsgefühl, durch Kulturfeste und Austauschprogramme wird es gefördert. Der kleine Bruder ist gegenwärtig auch der einzige türkische Nachbar, zu dem die Außenbeziehungen – anders als mit Armenien, Griechenland, Irak, Iran und Zypern – konfliktfrei verlaufen.

Die Türkei versteht sich seit je als ein Schutzpatron Aserbaidschans, hat das Land 1991 nach seiner Unabhängigkeit als erster Staat anerkannt und pflegt seitdem sehr freundschaftliche, geradezu brüderliche Beziehungen. Dadurch befriedigt sie sowohl ideologische wie auch politische Interessen, und legt auf die militärische wie wirtschaftliche Zusammenarbeit großen Wert.

Dies hat unter anderem mit dem ökonomischen Potenzial Aserbaidschans zu tun, die Ausbeutung der Ressourcen des Kaspischen Meeres haben für die Türkei enorme Bedeutung. Da die Türkei über keinerlei eigene natürliche Ressourcen verfügt, ist sie extrem von Energieimporten abhängig. Seit Mai 2020 bezieht sie von Aserbaidschan als ihrem nunmehr größten Erdgasexporteur einen großen Anteil ihres Gasbedarfs.

Die Türkei importiert aserbaidschanisches Erdgas über die südkaukasische Gaspipeline (Baku-Tiflis-Erzurum) und Transanatolische-Pipeline (TANAP). Im ersten Quartal dieses Jahres betrug die durchschnittliche tägliche Durchsatzkapazität der Südkaukasus-Gaspipeline 33,6 Millionen Kubikmeter Erdgas.

Der Kampf um den Energiemarkt

Zentrale Rolle im aktuellen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan spielt die Region Tovuz. Dort liegen wichtige Energie-, Eisenbahn- und Handelsrouten, die für Aserbaidschan, Georgien, die Türkei, Europa, Russland, Iran, Zentralasien und China eine strategische Bedeutung haben.

Durch aserbaidschanisches Erdgas bemüht sich die Türkei, ihre Energieabhängigkeit von Russland und dem Iran zu verringern. Die wichtigste Transitroute hierfür liegt in der Region Tovuz. Dort verläuft Aserbaidschans Südkaukasus-Pipeline und führt Gas zur transanatolischen Erdgaspipeline (TANAP) in der Türkei, die ein wesentlicher Bestandteil der türkischen und europäischen Bemühungen ist, um die Energieabhängigkeit von Russland zu verringern.

Die Region Tovuz ist von zentraler Bedeutung für die Ölpipeline Baku-Tiflis-Ceyhan und die Eisenbahnlinie Baku-Tiflis-Kars. Dabei handelt es sich um zwei gemeinsame Projekte, die Aserbaidschan, Georgien und die Türkei seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion realisiert haben. Folglich ist dieses Gebiet entscheidend für die aserbaidschanischen Energieexporte nach Europa und stellt die einzige Landroute dar, die Aserbaidschan über Georgien mit der Türkei verbindet.

Zum Missfallen Russlands

Am 15. Juli drohte US-Außenminister Mike Pompeo erneut mit Sanktionen gegen Energieunternehmen, die an russischen Pipelines nach Europa und in die Türkei beteiligt sind. Sowohl die EU als auch die Türkei werden unter Druck gesetzt, über Energieversorgungsketten ohne Russland nachzudenken.

Russland ist über die angedrohten US-Sanktionen gar nicht amüsiert. Moskau ist sich im Klaren darüber, dass es sich bei der Region Tovuz um den entscheidenden Korridor für die Türkei und Europa handelt, Zugang zu Zentralasien und China zu erhalten. So kann russisches und iranisches Territorium umgangen werden, insbesondere wenn aserbaidschanisches Erdgas als alternative Ressource nach Europa und in die Türkei geliefert wird.

Entsprechend handelt Moskau als Schutzpatron Armeniens und führte ebenso erst neulich ein Militärmanöver mit Armenien durch. Mehr als 1.500 Soldaten seien an der Übung in Armenien beteiligt gewesen, teilte das russische Militär der Agentur Interfax mit. Kampfjets, Hubschrauber und Drohnen seien zum Einsatz gekommen.

Mit Argusaugen verfolgt Russland die türkischen Bemühungen, von russischen Gasexporten unabhängiger zu werden. Auch wenn Russland und die Türkei durch die jüngst eröffnete Pipeline TurkStream, die sowohl Südeuropa als auch die Türkei mit Erdgas versorgen soll, näher gerückt sind und die russische Gazprom ein wichtiger Erdgaslieferant für die Türkei bleiben wird, dürfte die russisch-türkische Rivalität insbesondere in Libyen und Syrien einen Ausgleich der Interessen schwierig machen.

Das könnte auch Auswirkungen auf den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt haben, der zum Teil auch ein russisch-türkischer ist. Metin Gürcan kommt in seiner Analyse für al-monitor daher zu einem ganz schlüssigen Fazit: „Insgesamt dürfte der geopolitische Druck auf die aserbaidschanisch-armenische Grenze in den kommenden Monaten zunehmen, da Aserbaidschans Rolle als wichtigster nicht russischer Energieversorger der Türkei und Europas zunimmt.“

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

Samstag, 25.07.2020 / 13:39 Uhr

Gebet in der Hangia Sophia: Sieg im Kulturkampf

Von
Murat Yörük

Die alte Forderung der türkischen Islamisten ist am Freitag, den 24. Juli 2020 wahr geworden: Die Hagia Sophia – die Sophienkirche –, die per Dekret am 24. November 1934 durch den Staatsgründer der modernen Türkei Mustafa Kemal Atatürk von einer Moschee in ein Museum umgewandelt wurde, ist wieder eine islamische Gebetsstätte.

 

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(Coronakonformes Gebet)

 

Zum eröffnenden Freitagsgebet strömten Tausende auf den Vorplatz, der Gebetsraum füllte sich mit geladenen prominenten Gästen, der türkische Staatspräsident rezitierte aus dem Koran, Allahu Akbar-Rufe begleiteten das Gebet.

Der Vorsitzende der türkischen Religionsbehörde DIYANET Ali Erbaş gab in seinen Eröffnungsworten sodann kund, was konsensuell Anklang finden dürfte: „Möge die Ayasofya-Moschee bis zum Tag der Abrechnung [des Jüngsten Gerichts, Anm. Mena-Watch] eine Moschee bleiben“. 

Wem gehört die Hagia Sophia?

Dabei besticht in diesem jüngsten Manöver des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der sich in seinem Dekret auf die jüngste Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichts (Danıştay) vom 10. Juli bezog, weniger dessen Vehemenz, diesen alten Traum der türkischen Islamisten verwirklicht zu haben, als vielmehr der gegenwärtige Zeitpunkt dieses doch überraschend forschen Durchgreifens.

So ist dem Beschluss des Obersten Verwaltungsgerichts unter anderem zu entnehmen, dass die Hagia Sophia, anders als bislang angenommen wurde, im Besitz des Eroberers von Konstantinopel Sultan Fatih sei.

Über diesen Umstand habe sich das Dekret des Staatsgründers 1934 hinweggesetzt, womit dem Beschwerdeführer – einem islamistischen Verein – vollinhaltlich recht gegeben wurde, obwohl in gleicher Sache das Gericht 2005 wie 2018 die Beschwerden als unzulässig verwarf. Dass durch diesen Verwaltungsakt nun osmanisches Besitzrecht nun als höherrangig bewertet wurde als das derzeit gültige bürgerliche Recht, ist ein bislang einmaliger Akt in der jüngeren Geschichte der Türkei.

 

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(Gebet mit Schwert, der Chef der Religionsbehörde)

 

Schließlich fehlt es der Millionenmetropole Istanbul mit über 3200 Moscheen nicht an islamischen Gebetsstätten. Insofern ist die Rückumwandlung der einstigen Sophienkirche – die nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahre 1453zunächst zu einer Moschee und 1934 dann zu einem Museum wurde – in eine Moschee ein symbolischer Triumph nicht nur über die orthodoxe Christenheit, sondern auch über den staatlich fixierten kemalistischen Laizismus selbst, der in den Gründungsjahren der Republik mit der Musealisierung der Hagia Sophia deutliche Akzente setzte.

Ein Triumphator

Und so griff der türkische Staatspräsident im Grunde die Entscheidung derjenigen Verwaltungsrichter auf, die er selbst ernannt hat.

Schließlich fehlt es der Millionenmetropole Istanbul mit über 3200 Moscheen nicht an islamischen Gebetsstätten

Wer den politischen Werdegang Erdogans verfolgt, weiß, dass den türkischen Führer kaum etwas weniger in Anspannung versetzt hat, als das Bedürfnis in der Hagia Sophia dem Freitagsgebet beizuwohnen oder dort gar selbst zu predigen. So begleiten seinen politischen Werdegang wiederholte Forderungen nach der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee, in regelmäßigen Abständen verlieh er seinem auch ganz persönlichen Wunsch Ausdruck.

Gleichwohl scheint er über die politischen Folgen eines solchen populistischen Aktionismus Bescheid zu wissen. Noch im Mai 2019 beklagte er sich über jene, die ihm vorhielten, der Umwandlung im Wege zu stehen. Ihnen entgegnete er mit dem Hinweis, dass die Gläubigen doch zunächst die Sultan Ahmet Moschee – eine der größten Moscheen Istanbuls – füllen sollten, ehe sie denn in der Hagia Sophia beten wollten.

Ein alter Traum wird wahr

Doch bislang blieb es allein bei Wunschoffenbarungen: Erdoğan baute sie in seine Reden ein, und es schien lange Zeit so, als seien seine Manöver der politischen Propaganda dienlicher, wenn politische Feinde dafür, dass sie– sei es real, sei es scheinbar – der Wunscherfüllung im Wege stünden angegriffen wurden. Seine Rhetorik war also dem Zweck nützlich, Führer und Volk zusammenzuschweißen. Denn wer gegen eine Moscheeeröffnung ist, macht sich in der Türkei verdächtig, ein Feind des Islams zu sein.

Doch Erdoğans alter Traum wird nun Wirklichkeit, nachdem in den vergangenen 18 Jahren alle Bastionen der säkularen Republik eingenommen wurden, sodass nunmehr sogar osmanisches Recht über bürgerliches gestellt wird.

 

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(© Imago Images / ZUMA Wire)

 

Bereits der politische Ziehvater Necmettin Erbakan griff die Forderungen nach der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee – die es seit dem Übergang in das Mehrparteiensystem 1950 immer wieder gegeben hat – nach seinem 1969 über die Liste der Gerechtigkeitspartei (Adalet Partisi) von Süleyman Demirel erfolgten Einzug ins Parlament regelmäßig auf und besetzte verstärkt dieses Anathema der türkischen Rechten. Es fehlte aber über Jahrzehnte die Durchsetzungsmacht, doch heute kann Erdoğan frei von Beschränkungen und politischem Widerstand agieren, was dem Ziehvater einst verwehrt blieb.

Anders als allerdings immer wieder behauptet wird, stand die Hagia Sophia bereits in der Vergangenheit des Öfteren für kurze Zeit dem islamischen Gebet zur Verfügung. Erstmals beteten die Teilnehmer der Islamischen Konferenz 1970 in der Hagia Sophia. Eine Eröffnung als Moschee für nur wenige Wochen ermöglichte bereits der kemalistische, aber konservative Ministerpräsident Süleyman Demirel am Vorabend des Putsches vom 12. September 1980, als vier Tage zuvor islamische Gebete in der Hagia Sophia erlaubt wurden.

Die Putschisten von 1980, die den Weg in einen islamischen Kemalismus eröffneten, hoben zwar wenige Tage nach ihrem Putsch diese Erlaubnis auf, ebneten aber für den nunmehr folgenden islamistischen Durchmarsch staatsoffiziell den Weg durch eine Islamisierung von oben. Anstatt den türkischen Islamismus konsequent zu verfolgen integrierten sie ihn in den Staatsapparat und erfüllten nach und nach die Forderungen der Islamisten etwa nach verpflichtendem Islamunterricht, Moscheebauten und Imam-Hatip-Schulen.

Dass heute keinerlei Protest oder Widerstand gegen die Umwandlung erfolgt, hat folglich mit diesem integralen Etatismus der Kemalisten selbst zu tun, die jene, die sie einst fürchteten, überhaupt in die Apparate einließen.

Der Kulturkampf um den größten Touristenmagnet Istanbuls – die Hagia Sophia – war schon lange entbrannt, und lange Zeit galt sie als das sichtbare Symbol der säkularen Türkei schlechthin.

Es überrascht daher kaum, dass in Folge einer Unterschriftensammlung – initiiert durch eine islamistische Schülervereinigung (Milli Türk Talebe Birliği) – im Jahre 1989 etwa eine Million Unterschriften gesammelt wurden, und dem Parlament am 03.01.1990 zur Entscheidung vorgelegt wurde, einen Gebetsraum in der Hagia Sophia zu errichten. Seitdem war mit der Eröffnung der Hünkâr Mahfili am 10.02.1991 das islamische Gebet möglich, wenn auch nicht das Freitagsgebet in der Masse vollzogen werden konnte.

Der letzte Trumpf wird ausgespielt

Dabei war der Kulturkampf um den größten Touristenmagnet Istanbuls – die Hagia Sophia – schon lange entbrannt, und lange Zeit galt sie als das sichtbare Symbol der säkularen Türkei schlechthin.

Jährliche Besucherzahlen von über 3,7 Millionen spülten nicht nur Eintrittsgelder in die Staatskasse, auch die Devisenreserven wurden dadurch aufgefüllt. Es überrascht daher, warum Erdoğan seinen letzten Trumpf ausgerechnet jetzt ausspielt: Schließlich sind alle islamistischen Wünsche erfüllt, doch ob seine Symbolpolitik die bereits jetzt deutlich spürbaren schweren Folgen der aktuellen Wirtschaftskrise auffangen können wird, ist fraglich.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch