Waigel gibt nicht auf

Finanzminister muß der SPD für das Scheitern der Steuerreform dankbar sein
Aus, aus und vorbei! Die große Steuerreform ist erledigt. Theodor Waigels Jahrhundertwerk geplatzt. Keine "Nettoentlastung" für Volk und Kapital. Die Steuersätze bleiben, wie sie sind. Ohne daß es irgend jemand überrascht hätte, scheiterten in der Nacht zum 31. August die Verhandlungen im Vermittlungsausschuß zwischen Bundestag und Bundesrat.

Was von der neoliberalen Steuerreform übrig blieb, ist die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer - eine Maßnahme, die ohnehin seit 1992 angekündigt worden war. Die Einnahmeausfälle der Gemeinden, die diese Steuer bisher kassiert haben, werden durch deren 2,2-prozentige Beteiligung am Umsatzsteueraufkommen teilweise kompensiert. Doch auch dieses Stück vom Kuchen wollen sich Bund und Länder wiederholen, indem sie eine Reihe von Steuervergünstigungen streichen.

Erwartungsgemäß groß war am Tag nach dem Scheitern das Gezeter der Kapitalvertreter, die rituell jede vergebliche Bemühung, ihre Verwertungsbedingungen weiter zu verbessern, zum existentiellen Schlag gegen den Standort Deutschland und den nationalen Wohlstand stilisieren. "Lafontaine stürzt Deutschland in die Kreisklasse", echauffierte sich der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, Hans Peter Stihl. Das Scheitern der Steuerreform sei eine "Bankrotterklärung", erklärte der Bundesverband Deutscher Banken, es sei ein "steuerpolitisches Fiasko, dem das Aus zahlreicher Unternehmer folgen" werde, sorgte sich der Bundesverband der Deutschen Industrie, es sende "für in- und ausländische Investoren ein verheerendes Signal", ergänzte der Bundesverband der Arbeitgeberverbände. Schon sieht man Heerscharen von Unternehmern am Flughafen nach Seoul und Taipeh einchecken. Nur fort aus Deutschland - Kreisklasse, Least Developped Country in der nächsten UN-Statistik.

Waigel selbst gibt sich unverdrossen. "Ich gebe nicht auf", verkündete der angeschlagene Finanzminister und stellte für den Herbst eine zweite Verhandlungsrunde in Aussicht. An deren Erfolg glaubt zwar niemand mehr, doch darum geht es den Koalitionsstrategen auch gar nicht. Wir werden den Fortgang des Bonner Steuertheaters trotzdem erleben, denn die Regierung spielt auf Zeit.

So kann die Regierung über die internen Risse hinwegpolitisieren, die sich in der Frage des Solidarzuschlags aufgetan haben. Der zärtlich "Soli" genannte ungeliebte Obolus für den deutschen Osten sollte 1998 von 7,5 auf 5,5 Prozent gesenkt werden. Auch dies ist in dem Steuerreformgesetz enthalten, das jetzt blockiert wird. Die FDP knüpft an die Senkung des Zuschlags zwar den Fortbestand der Koalition, doch in der Union ist man sich längst nicht mehr im klaren, wie die zu erwartenden Einnahmeausfälle von immerhin 7,5 Milliarden Mark finanziert werden sollen. Und das gilt für die gesamte Steuerreform: Noch klingeln in den Ohren des Finanzministers die verheerende Prognosen, die die Steuerschätzer im Frühjahr abgegeben hatten. Noch Schmerzt die Erinnerung an beschämende Auftritte vor der Presse, als er zugeben mußte, daß die Bundesrepublik Deutschland das von ihm selbst durchgepaukte Konvergenzkriterium für die Einführung des Euro - drei, und nur drei, Prozent Anteil der öffentlichen Schulden am Bruttoinlandsprodukt - wohl verfehlen werde.

Wahrscheinlich ist der Bundeskassenwart selbst ganz froh, seine Steuerreform vorerst nicht umsetzen zu müssen, um dann ein völliges Haushaltsdebakel erleben zu müssen. Das Schlimmste, was Waigel hätte passieren können, wäre eine kompromißbereite Sozialdemokratie gewesen. Wohl auch deshalb scheuten sich die Unionsvertreter im Vermittlungsausschuß, konkrete Angebote zu unterbreiten. Man könne sich "in der Mitte treffen", war die nebulöse Offerte der Koalition in den Sitzungen gewesen. Doch auch die Opposition hatte darauf verzichtet, die von Unionspolitikern in den Medien verbreiteten Kompromißvorschläge - Nettoentlastung um 15 Milliarden und Senkung des Spitzensteuersatzes auf 45 statt 39 Prozent - in die Verhandlungen einzubeziehen.

Die Steuerdebatten können also weitergehen. Die Koalition steht ungeachtet des Scheiterns ihres vermeintlichen Vorhabens ganz gut da: Die Schuld am Schiffbruch der Steuerreform wird sie getrost den Blockade-Sozis um Oskar Lafontaine in die Schuhe schieben, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt hätten. So kann sie sich bis zu den Bundestagswahlen über die Zeit retten und die Reformunfähigkeit der Opposition als Wahlkampfthema ausschlachten. Die Lautsprecher der Bourgeoisie werden an dem Spektakel weiter mit Ankündigungen nationaler Katastrophen mitwirken. Nach den Wahlen könnte dann vielleicht auch der vermeintliche Zielkonflikt - Steuern (vor allem der Spitzenverdiener) senken und die Staatsschuld mindern - in etwas entspannterer Atmosphäre gelöst werden: mit neuen Sparprogrammen.