Zwischenzeugnisse

Altern ist schwer, Mike Leighs "Career Girls" sind besonders schwere Fälle

Älter werden, was bedeutet das genau? Wie verändert sich darüber das Verhältnis zur Welt? Soll man von einem Reifeprozeß sprechen oder eher von einer Einübung des Realitätsprinzips? Oder trifft es weder das eine noch das andere? Auf diese großen Fragen findet Mike Leigh in seinem neuesten Film, "Career Girls" (Karriere Girls) eine Antwort, die sich kleinteilig aus einer Reihe präzis beobachteter Details zusammensetzt und einem doch viel eher eine Vorstellung von Geschichte vermittelt als die opulenten periode pictures mit ihrem retro-chicen Rekonstruktionswahn.

Hannah und Annie, die sich in ihrer Londoner Studienzeit gemeinsam mit einer weiteren Kommilitonin eine Wohnung teilten, sehen sich nach sechs Jahren zum ersten Mal wieder. "London hat sich sehr verändert, in mancherlei Hinsicht aber auch gar nicht", faßt Annie, die die Stadt seit dem Ende ihres Studiums nicht mehr besucht hat, sinngemäß ihre ersten Eindrücke zusammen. Und aus einem Mischungsverhältnis von Vergehendem und Bleibendem bildet sich im weiteren auch die Geschichtsphilosophie des Films heraus. Hinter den Gesprächen der beiden zirka 30jährigen Frauen, den Rückblenden und den Wiederbegegnungen mit alten Stätten und Bekannten treten zwei Biographien hervor, die zwar einigen Ballast, aber auch Kostbares hinter sich gelassen haben, und mit manchen Gespenstern der Vergangenheit immer noch kämpfen. Man ist jetzt sittsamer gekleidet, hat ganz ordentliche Jobs, liest etwas weniger und Annie präsentiert sich im Vergleich zu früher auch als deutlich gefestigtere Persönlichkeit. Aber ihren endgültigen Platz im Leben hat bisher keine der Frauen gefunden. Vieles ist noch Provisorium: Annie will ihren Job wechseln, Hannah beizeiten die Wohnung, und dem Mann fürs Leben ist keine der beiden bisher begegnet, so daß in wichtigen Zukunftsfragen nach wie vor Emily Bront' als Orakel konsultiert werden muß.

Der großen Geste des Bilanzziehens enthält sich der Film. Hochfahrende Pläne, über deren erfolgte oder nicht erfolgte Realisierung man sich jetzt Rechenschaft ablegen müsste, haben Annie und Hannah nie gehabt. Daß ihr Studium (Psychologie bzw. Anglistik) nichts mit dem späteren Beruf zu tun haben würde, scheint nach den englischen Verhältnissen von vornherein klar gewesen zu sein. Daher beschwören sie weder in Katerstimmung das "Paradies der Jugend", noch können sie erhaben vom Standpunkt des "Es-Geschafft-Habens" auf ihre bescheidenen Anfänge zurückblicken. Ihr Leben ist irgendwo dazwischen verlaufen.

Nachdem Mike Leigh mit der Hauptfigur von "Naked" eine Art zynischen Antichristen geschaffen hatte, und die damit verbundene Katharsis ihn dazu brachte, in "Lügen und Geheimnisse" auf etwas zu anrührende Weise auf Identifikation zu setzen, wählt er in "Career Girls" die Halbdistanz als Erzählhaltung. Was als Mittelwert zu verstehen ist, denn die Abstände variieren zwischen "ganz nah" und "ganz weit weg".

Leigh hält seine Schauspielerinnen dazu an, die Charaktere grotesk zu überzeichnen. Annie, von einem handgroßen Gesichtsekzem heimgesucht, taumelt als schwer angeschlagenes Psycho-Bündel durch die Rückblenden. Ihre Gesten sind fahrig und die Bewegungen linkisch, es scheint immer, als ob der geringste Anlass genügte, sie völlig aus der Bahn zu werfen. Hannah steht permanent unter Strom und redet pausenlos. Und wenn dann noch das stotternde, ständig mit den Augen zwinkernde Riesenbaby Ricky zu dem Duo stößt, ist die Kakaphonie komplett.

Aber diesen V-Effekt holt der Film wieder ein, indem er bis ins tiefste Innere seiner Protagonisten vordringt. Und vielleicht besteht in dieser Form des Kompensationsgeschäfts zur Zeit auch die einzige Möglichkeit, die Psychologie cineastisch zu rehabilitieren. In der eindruckvollsten Szene von "Career Girls" kämpft Annie gleichzeitig mit ihrer Scham, ihrem Bekenntnisdrang, ihrem feministischen Über-Ich und der Indifferenz ihres Partners. Die an einem Vater-Komplex Leidende beginnt zögerlich von ihren Vergewaltigungsphantasien zu berichten, in denen sie sich von einer Schar männlicher Voyeure umringt sieht. Dabei unterbricht sie sich selbst und wird zu einem Kommentator in eigener Sache, wohl wissend, daß sie, wenn auch nur imaginativ, an einem Grundfest des Feminismus rührt: dem "No Means No" als eindeutige Grenzziehung gegenüber männlichen Begehrlichkeiten. Vergeblich bemüht Annie sich, ihre verschiedenen Ichs zu integrieren. Und als ihrem Freund auf ihre Offenbarung nichts anderes einfällt als lapidar etwas in der Art von "Wenn dir damit geholfen ist, frage ich meine Kumpels mal, ob sie uns beim Sex zuschauen würden" zu entgegnen, und er damit zusätzlich zu der Ebene der Imagination und der des Politisch-Moralischen noch die des Realen einbringt, verkompliziert sich die Lage hoffnungslos.

In solch eine Krisensituation wird die Figur der Hannah nicht gebracht. Ihre sprachmächtige Souveränität, die sie jeder Lage gewachsen erscheinen läßt, bleibt im Kern unangetastet. Lediglich in einer Dialog-Passage gesteht sie einmal ein, daß sie es als eine Stärke Annies ansieht, verletzbar zu sein, immer wieder ohne Vorbehalt in neue Beziehungen zu gehen, während ihre eigene vermeintliche Stärke nur der Panzer ist, der nach jeder Enttäuschung undurchdringlicher wird.

"Beste Nebenrollen" dieses Typs hat Katrin Cartlidge schon in "Before the Rain" und "Breaking the Waves" gespielt - nur als Drogensüchtige in Mike Leighs "Naked" durfte sie bisher die Fassung verlieren - , und es wäre schade, wenn sie auf das Rollenfach der beherrschten, leidenschaftslosen Frau festgelegt würde.