Die Hamburger Band Brüllen im Gespräch über Inhaltismus

Was poppt an Wolfgang Pohrt?

Wenn Pop mehr enthält als Unterhaltung, dann dort, wo einzelne oder Gruppen von sich aufs Ganze schließen: Als Feld von Aussagen, die, wie Diedrich Diederichsen richtig, aber leider oberflächlich bleibend bemerkt, zwischen Klartext und Mehrdeutigkeit, zwischen politischer und kultureller Artikulation anzusiedeln sind. Inhalten gegenüber ist das Popfeld, genauso wie Politik und Kultur, zunächst neutral, was bedeutet, daß in Zeiten wie diesen der Anteil von Schwachsinn überproportional hoch ist: "Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen." (Spex 8/97) Der Lächerlichkeit und dem risikolosen Verriß preisgegeben sind die Versuche, relevante Inhalte, gar von links, im Pop zu formulieren: Erstens wegen des Schwebenbleibens in der Sphäre der Halbwahrheiten, unausgeführten Ansätze, Diffusitäten und Impulse. Zweitens, weil die Rede sich mit Emotionen koppelt. Drittens und zunehmend aber, weil die, die über Popmusik schreiben, inzwischen ein fast pädagogisches Verhältnis zu Bands, Musikern und deren Platten beanspruchen. Von der ungefährlichen Rezeptionswarte aus läßt es sich trefflich herabsehen und belehren. Doch Obacht! Man könnte sich lächerlich machen; denn manche Popstars lesen sogar Bücher und sind sich ihrer Irrelevanz ohnehin bewußt. "Ich sag' es gleich, ich werd' nicht gut unterhalten, deshalb halt ich mich nicht gut aus", lautet eine programmatische Aussage auf "Schatzitude", der ersten Platte der Hamburger Band Brüllen. Ambivalenz der Begriffe "Unterhalten" und "Aushalten". Beide reflektieren die Situation von Menschen, die unter verschärften Verhältnissen gleichzeitig für Unterhalt sorgen müssen, ohne auf nicht-verwertbare kulturelle, politische, sinnvolle Aktivitäten verzichten zu wollen. Einerseits Fernsehen, andererseits Miete zahlen. Hier Unerträglichkeit, da Überleben. Wie mobilisiert man, als Zeuge der allgemeinen regressiven und reaktionären Tendenz, Kräfte, die ein Weitermachen ermöglichen?

Hartwig Vens: Ihr kanntet Wolfgang Pohrt wahrscheinlich schon vor "Brothers in Crime". Welche Position habt ihr ihm gegenüber?

Kristof Schreuf: Pohrt ist sicherlich derjenige, der sagt: "Der Feind steht links - man selber steht noch weiter links." Was ihn nicht vor bestimmten Kulturpessimismen schützt. Wenn beispielsweise Pohrt davon spricht, daß gerade an Orten und in Zeiten, wo man sowas wie eine Existenzgrundlage eigentlich nicht mehr hat und wo man so was wie den Tod vor Augen hat - z. B. in dem Konzentrationslager Theresienstadt - die kulturelle Aktivität rapide zunimmt und er das dann so stehen läßt, dann bekomme ich den Eindruck von Kulturpessimismus. Weil das bedeuten würde, daß diejenigen, die sich in Zeiten, wo es keine Konzentrationslager und keinen Hitler mehr gibt, und wo man sich trotzdem für sowas wie Kultur oder Subkultur interessiert, das eigentlich auch nur noch tut in Verkennung der eigentlichen Lage - die daraus besteht, daß man den Tod vor Augen hatte. Das heißt, es ist eigentlich sinnlos, sich z.B. für sowas wie Popkultur zu interessieren, weil man das ja sowieso nur tut, um die eigene Sterblichkeit zu vergessen.

Hartwig Vens:Der Begriff, den Pohrt dafür verwendet, ist "Deportationsangst". Er soll das bezeichnen, was wohl scheinbar immer hinter dieser für ihn sinnlosen Aktivität steht, ob sie nun in Theresienstadt stattfindet oder heute bei uns geschieht. Man kann sagen, daß sich das Buch aufbaut - es ist ja auch sehr von Adorno oder Adorno/Horkheimer beeinflußt - aus diesem Schließen von Besonderheiten, von der Mikro-Ebene, von bestimmten Phänomenen, auf das Allgemeine. Mir kommt es bei ihm teilweise, aber eben nicht immer, ziemlich willkürlich vor, wie er diese Linie zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen zieht. Er greift sich irgendetwas raus, wie z.B. Theresienstadt, und schließt darauf auf allgemeine, überhistorische oder über sehr lange Zeiträume wirksame unterbewußte Impulse der Menschen oder von Gesellschaft überhaupt.

Kristof Schreuf: Das war, glaube ich, auch eine Kritik an Pohrt bei seiner Artikelserie in konkret, in der er sich auf den "Autoritären Charakter" bezog, daß sich Pohrt bei seiner Methode auf zu wenige Beobachtungen stützt, daß man, um fundiert zu werden, einfach mehr Leute befragen muß. Das hat er nicht getan. Andererseits muß man aber auch einräumen, daß Pohrt nie behauptet hat, daß das, was er da betrieben hat, in dem Sinne wissenschaftlich betrieben worden wäre.

Hartwig Vens:Aber ist denn diese Art von Essayismus, wenn er nicht wissenschaftlich arbeitet oder nicht empirisch, überhaupt sinnvoll? Was liefert dieses Buch hier für einen Gebrauchswert?

Martin Buck: In dem Buch klingt es ja so: Früher gab es Individuum und Gesellschaft, und jetzt ist die Gesellschaft zumindest abgelöst durch Banden mit dem ganz klaren Ziel: Profit, Macht, Beute. Was ich in dem Buch nicht ganz sehe, ist, wie diese von ihm festgestellte Transformation von einem irgendwie gesellschaftlichen hin zu diesem aufgesplitterten Bandenwesen stattfindet. Er stellt fest. Wie es aber von dem einen zum anderen gekommen ist, habe ich nicht herausgelesen. Er bezieht sich auf so was wie Mafia und sowas wie Guerilla und revolutionäre Situationen und Gruppen. Aber die Frage ist doch, wie diese Randerscheinungen die Gesellschaft auflösen.

Hartwig Vens:Pohrt behauptet, daß dieses Prinzip der Bande und der Gangbildung das allgemeine Prinzip der heutigen Gesellschaft ist. Stimmt das? Inwieweit habt ihr das auch beobachtet, und ist das überhaupt plausibel?

Kristof Schreuf: Das Neue könnte vielleicht sein, daß Pohrt eine polemische Version anbietet: für Staatsformen und für die Heruntergekommenheit von Politik, was einigermaßen nüchtern, neutral, vielleicht sogar idealistisch Niklas Luhmann 1984 in den "Sozialen Systemen" formuliert hat, nämlich, daß man es mehr oder weniger mit kommunikationsfähigen Kapseln zu tun hat, die über ihre eigenen Codexe verfügen, die nicht unbedingt mehr der Ankoppelung an andere Systeme bedürfen, und die für sich nicht mehr darauf pochen müssen, Recht zu haben oder Recht zu bekommen. Und was er über Banden schreibt, erinnert mich daran. Insofern die polemische Fassung. Polemisch meint dann auch - und das widerspricht dann auch nicht dem, was du gesagt hast -, daß die Begründung durchaus nicht durchgängig wissenschaftlich fundiert ist.

Martin Buck: Vielleicht kann man sich's nochmal anders angucken. Insgesamt ist es ja offensichtlich schon seit einiger Zeit ziemlich schwierig, gerade auch von links, in der Gesellschaft zu mobilisieren. Wie willst du mobilisieren? Mit einem Flugblatt? Mit einer Demonstration? Mit einem Radiosender? Mit einer Band? Wo erreicht man sozusagen noch etwas, was früher gesellschaftliche Relevanz genannt wurde? Und dann könnte ich mir überlegen: Vielleicht gibt es diese Konstruktion Gesellschaft so nicht mehr.

Hartwig Vens:Pohrt sieht diese Auflösung der herkömmlichen sozialen Strukturen unter einem sehr negativen, pessimistischen Gesichtspunkt.

Kristof Schreuf: Pohrt hat in dem Buch eigentlich etwas sehr Richtiges gemacht, nämlich an dem Punkt, wo man sagt: Es ist möglich, ein Ende des Kapitalismus, wie wir ihn nicht mehr aushalten möchten, zu erreichen. Er sagt, daß man sich vielleicht jetzt an einem Punkt befindet, wo die Leute auf den Kampf ums Dasein einfach keinen Bock mehr haben. Und daß man in Zeiten, wo sowohl die Ausgebeuteten als auch die Ausbeuter ihrer Position nicht mehr sicher sein können, einen neuen Anfang machen könnte. Nur, wie der Anfang aussehen könnte, sagt er glücklicherweise nicht.

Was nervt eigentlich an diesem Pohrt-Buch so? Was so nervt ist, daß eigentlich eine Menge richtiger Einzelbeobachtungen drin sind, zugleich - manchmal auch nur zwischen den Zeilen - gesagt wird: Wir haben es hier mit einem Prinzip zu tun, das quasi keinen Lebensbereich ausläßt. Und da irrt er sich! Wenn er über Langeweile in Banden spricht, wenn er darüber spricht, wie Russen Marx gelesen haben und für sich gewinnbringend einsetzen in einer Art, wie sich das noch nicht einmal Karl-Eduard von Schnitzler hätte ausdenken können, dann wird die Richtigkeit dieser Beobachtungen beiseite geschoben, indem er sagt: alles nur noch Bande, alles nur noch Gangland. Pohrt läßt die Popkultur außen vor und wird dadurch zum Kulturpessimisten. Er wirkt von der Autorenposition her wie so ein typischer Großbürger, eigentlich nicht so weit weg von Reich-Ranicki. Was mir so großbürgerlich vorkommt ist, daß jemand, der die sechziger Jahre mitbekommen haben dürfte, der sogar vom Spiegel als Alt-68er bezeichnet wird, daß der die ganzen Sachen, die in den sechziger Jahren explodiert sind, so zur Seite schiebt und statt dessen auf Sachen zu sprechen kommt, die wenig von dem beschreiben, was nach 1945 passiert ist.

Hartwig Vens:Es fehlt im Grunde das Richtige im Falschen?

Kristof Schreuf: Ja, aber nur, weil das Falsche im Falschen sich sozusagen durchgesetzt hat. Weil jetzt selbst das Richtige - siehe Kapital-Lektüre, wenn das jetzt mal als das Richtige bezeichnet werden darf - das Falsche hervorbringt oder Falsches mit sich bringt. Popkultur ist nun mal ein Ort - vielleicht sogar im Moment noch mehr als Literatur, und auf jeden Fall mehr als das Allerletzte, was es im Augenblick z. B. in Deutschland gibt, nämlich Filmkultur -, wo noch über so etwas wie Inhalte gesprochen wird. Pohrt spricht bei den Banden ja immer davon: die Inhalte sind verabschiedet, interessiert keinen mehr, es geht nur noch um Banden, und da kriegen wir die mittelalterlichsten Dinge zurück: z.B. Rituale, z.B. Blutsbrüderschaft, z.B. Abwesenheit der Frau.

Hartwig Vens:Das wäre vielleicht auch noch ein Kritikpunkt: Er läßt ja nicht nur die Frauen außen vor, sondern alle von der allgemeinen Tendenz ausgeschlossenen Gruppen wie Migranten, Homosexuelle. Und das ließe sich noch fortführen. In dieser allgemeinen Tendenz geht alle Besonderheit unter.

Kristof Schreuf: Auf jeden Fall. Es ist diese allgemeine Tendenz, die sich manchmal zurückführen oder reduzieren läßt auf das Bedürfnis, einen popeligen Weg zu gehen, der eine ziemlich popelige Art, nicht allein sein zu müssen, vermeintlich bereithält, nämlich, in die Bande zu gehen. Allerdings, wie gesagt, das ist die Überschrift, und darunter sind ein paar richtige Sachen.

Ich würde mal gern etwas von Wolfgang Pohrt über Pop lesen, damit man nicht das lesen muß, was Wiglaf Droste über die Love-Parade geschrieben hat. Droste ist eigentlich auch so ein Typ, der pessimistisch gegenüber einer bestimmten gegenwartsverhafteten Kultur ist, und dann schreibt, in China wäre das Problem mit der Million Raver besser gelöst worden. Was soll man denn mit solchen Linken noch anfangen?

Martin Buck: Ich glaube, Kultur hat nur dann einen Stellenwert, wenn man daran ablesen kann, daß sie der allgemeinen politischen Lage folgt - und zwar im Negativen.