Vom Front National zum Front Bourgeois

Ideologische Autonomie

Der Front National auf der Suche nach einer Strategie

In den achtziger Jahre waren Kontakte zwischen Politikern der bürgerlich-konservativen Parteien RPR und UDF und dem rechtsextremen Front National keine Seltenheit. Die Programmatik des FN war zu jener Zeit noch konzentriert auf Kampagnen gegen Immigranten und zugleich stark geprägt von einem katholischen Fundamentalismus. Viele der Wortführer im bürgerlichen Lager waren der Meinung, diese Formation und ihre Wähler rasch in die traditionelle Rechte einbinden und absorbieren zu können. So waren RPR/UDF und FN Mitte der achtziger Jahre zeitweise in einem Drittel der 21 Regionalparlamente Bündnisse eingegangen (die Regionalparlamente entsprechen etwa den deutschen Landtagen, ohne jedoch deren legislative Kompetenz zu besitzen). Die Region Provence-Alpes-C(tm)te d'Azur beispielsweise wurde ab 1986 mehrere Jahre lang von einer solchen Koalition regiert, der Jean-Claude Gaudin - heute Bürgermeister von Marseille und bis vor kurzem Städtebau-Minister der Regierung Juppé - vorstand.

Als der Front National zwischen 1986 und 1988 mit 35 Abgeordneten ein Gastspiel im französischen Parlament gab, scheuten sich einige RPR- und UDF-Parlamentarier nicht, im Juli 1987 zusammen mit FN-Kollegen ins damals noch vom weißen Rassistenregime beherrschte Südafrika zu fahren. Bei ihrer Rückkehr erklärten sie gemeinsam, in Südafrika gebe es keine Apartheid mehr, wovon zum damaligen Zeitpunkt freilich keine Rede sein konnte. Und eine parlamentarische "Studiengruppe für den Schutz des Lebens" , welcher der FN-Abgeordnete Michel de Rostolan und die UDF-Frau Christine Boutin (letztere ist noch heute eine der Galionsfiguren der Anti-Abtreibungs-Fraktion in der Nationalversammlung) gemeinsam mit dem RPR-Vertreter Hector Rolland vorsaßen, umfaßte zeitweise 200 Abgeordnete aller rechten und rechtsextremen Fraktionen. Sie wurde jedoch vom Präsidium der Nationalversammlung nicht offiziell anerkannt.

Dennoch war das konservative Lager darüber gespalten, ob man solche Bündnispartner akzeptieren sollte oder ob man sich damit nicht politisch schadete. So waren die Führungsstäbe des konservativen Lagers, wenn sie Bündnisse mit den Rechtsextremen eingingen, immer darauf bedacht, die Kontrolle über die zu ihrer Rechten aufsteigende Partei nicht zu verlieren und für ihre Einbindung in den bürgerlichen Block zu sorgen. Kaum hatten RPR und UDF im März 1986 die Wahlen gewonnen, schafften sie das von den Sozialisten im Jahr zuvor eingeführte Verhältniswahlrecht - Zweck des Manövers war es gewesen, dem FN den Einzug ins Parlament zu ermöglichen und, so das Kalkül Mitterrands, "die Rechte zu spalten" - im Sommer 1986 wieder ab.

Durch die Wiederherstellung des Mehrheitswahlrechts blieb einer Zehn-Prozent-Partei - die der FN damals darstellte - nur übrig, entweder feste Wahlbündnisse mit größeren Parteien wie RPR und UDF einzugehen und sich weitgehend deren politischem Willen unterzuordnen oder sich auf eine marginale Präsenz mit einem oder zwei Vertretern im Parlament zu beschränken. Jean-Marie Le Pen entschied sich dagegen, seine Partei im konservativen Lager aufgehen zu lassen und suchte dem Front National politische Autonomie zu bewahren. Als der frischgebackene FN-Parlamentarier Yvon Briant die Regierung des damaligen Premierministers Chirac in Abstimmungen unterstützen wollte, wurde er von Mitarbeitern seiner Fraktion gepackt, in das Büro des FN-Generalsekretärs Stirbois geschleppt und zu einer Erklärung genötigt.

Es fehlte nicht an Versuchen, zwischen den Spitzen von RPR und FN zu vermitteln. Unter Chiracs Stellvertretern als Bürgermeister von Paris - den Posten hatte er auch von 1986 bis 1988 beibehalten, als er Premier geworden war - befanden sich Politiker, die auf der FN-Liste, oder, wie Michel Junot von der reaktionären Mittelstandspartei CNI, die auf der RPR-Liste ins Parlament gerutscht waren. Parteifreunde Junots vom CNI wiederum gehörten der FN-Fraktion im Pariser Rathaus an. Vor allem Michel Junot versuchte, Le Pen mit Chirac zu einem Gespräch zusammenzubringen, das nur an der persönlichen Abneigung Chiracs gegenüber Le Pen scheiterte.

Zu einem Bündnis zwischen den Parteien kam es jedoch nicht, im Gegenteil, der Graben zwischen beiden verbreiterte sich in den kommenden Jahren zusehends. Zwei Faktoren spielten dabei eine zentrale Rolle: Zum einen waren die Sozialisten Mitterrands 1988 nach zweijähriger Pause wieder an die Regierung gekommen und begannen eine zweite fünfjährige Amtszeit, nachdem sie bereits zwischen 1981 und 1986 am Ruder waren. Im Verlauf dieser Legislaturperiode zeigten sich die französischen Sozialdemokraten jedoch derart verbraucht, daß der bürgerlichen Rechten 1993 ein triumphaler Wahlsieg bevorstand. Tatsächlich eroberten sie bei den Wahlen im März 1993 über 84 Prozent der Parlamentssitze.

Damit war für die bürgerliche Rechte die Notwendigkeit eines Bündnispartners auf absehbare Zeit erledigt. 1986 hatte dies noch anders ausgesehen, als die Rechte unter Chirac (ohne den FN) mit wenigen Sitzen Vorsprung eine sehr knappe Mehrheit erreicht hatte. Darüber hinaus kam es 1992 zu einem kurzfristigen Aufschwung der Ökologie-Parteien, die nicht abgeneigt schienen, dem konservativen Lager als neue Mehrheitsbeschaffer zu dienen. (Eine der beiden größeren Umweltparteien, Génération ƒcologie, ist seit 1995 Bestandteil des liberal-konservativen Parteienbündnisses UDF geworden, während die andere, Les Verts, mittlerweile Koalitionspartner der Sozialisten ist.)

Zum anderen begann der Front National seit Ende der achtziger Jahre, sich gezielt neue politische Handlungsräume außerhalb des konservativen Lagers zu suchen. Dabei konnte der FN vor allem von zwei Ereignissen profitieren: von dem Verfall der regierenden Mitterrandschen Sozialdemokratie, der dem FN ab 1988 zunehmend Wähler aus der Arbeiterschaft überließ, und dem Zusammenbruch des Realsozialismus im Osten, der den kommunistischen Flügel der französischen Arbeiterbewegung seines gesellschaftlichen Modells beraubte. Die historische Gelegenheit beim Schopfe ergreifend, versuchten die Rechtsextremen, den in ihren Augen freigewordenen Platz der Systemgegnerschaft und des sozialen Protests einzunehmen.

Erster Ausdruck dieser Neuorientierung war der Kongreß des Front National in Nizza im April 1990, wo die Partei ihren Willen deutlich machte, die Themen "Soziales und Ökologie" zu besetzen und damit von der gegen die Immigration gerichteten Ein-Punkt-Programmatik wegzukommen. In den folgenden Jahren entwickelte der FN ein Sozialprogramm - Bruno Mégret hatte dazu 1992 einen Entwurf vorgelegt -, das die Unzufriedenen und sozial Benachteiligten ansprach, ohne freilich aufzuhören, Mittelständlern und Kleinbürgern etwa mit einem scharfen Anti-Steuer-Diskurs entgegenzukommen. Danach sollten sich nationales Kapital und nationale Arbeit in einem wiederhergestellten nationalen Rahmen zusammenfinden, um den "Komplotten der internationalistischen Lobby" und der Globalisierung und der "Überfremdung der nationalen Gemeinschaft" durch die Immigration Widerstand zu leisten.

Mit einer solcher Programmatik versuchte der FN sich zunehmend als Träger einer fundamentalen Alternative zum "System" darzustellen. Jean-Marie Le Pen stellte im Dezember 1992 in einem Interview mit der rechtsextremen Tageszeitung Présent fest: "Wir glauben, daß die Zeit vorbei ist, wo der Front National bei einem Minimum an gutem Willen von seiten des politischen Establishments sich hätte in eine Reformbewegung integrieren können, deren vorwärtstreibender Flügel er vielleicht gewesen wäre. Wir glauben, daß dieses System zutiefst krank ist", da seine etablierten Parteien "mit dem politischen Aids infiziert" seien.

Der Bruch mit dem bürgerlichen Lager schien endgültig vollzogen. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, welchen Anteil daran objektive Faktoren hatten, wie beispielsweise die Bündnisunwilligkeit der bürgerlichen Rechten, und inwieweit diese Entwicklung durch die FN-Führung bewußt herbeigeführt worden ist. Sicher ist in jedem Fall, daß dem Ex-Poujadisten Le Pen das warnende Schicksal der Partei vor Augen stand, für die er im Jahr 1956 als jüngster Abgeordneter ins Parlament eingezogen war. Die kleinbürgerliche Protestbewegung Pierre Poujades, die sich gegen Steuern und wirtschaftliche (Kapital-) Konzentration richtete, hatte 1956 rund 2,5 Millionen Stimmen erhalten. Zwei Jahre später, General de Gaulle war inzwischen an die Macht gekommen und hatte breite Schichten des konservativen Bürgertums und Kleinbürgertums hinter sich gesammelt, erhielt die Poujade-Liste nur noch 400 000 Stimmen. Der größte Teil ihres Potentials war durch die gaullistische Partei absorbiert worden. Der FN-Chef wußte also, daß seine Partei, um dauerhaft als eigenständiger Faktor bestehen zu können, eine politisch-ideologische Autonomie im bürgerlichen Lager entwickeln mußte.

Der Antisemitismus ermöglichte die Konstruktion eines solchen autonomen "Projekts": Im Gegensatz zum Anti-Immigranten-Diskurs, der beschränkt blieb, da er sich gegen eine äußerlich leicht abgrenzbare Personengruppe richtete, zielte der antisemitische Diskurs auf alle gesellschaftlichen Bereiche. Da Juden häufig dieselbe Nationalität besitzen, dieselbe Sprache sprechen und dasselbe äußerliche Erscheinungsbild haben wie der Rassist, konnte hier nicht simpel nach äußerlichen Kriterien zwischen "eigen" und "fremd" differenziert werden. Also mußte der ungreifbare und unbestimmbare, aber bedrohliche Fremde überall gesucht werden. "Jüdische" Intelligenz ist kosmopolitisch, "jüdische" Kunst ist abstrakt, das "jüdische" Kapital - im Gegensatz zum nationalen - ist "raffend" und kennt keine nationalen Grenzen. Auf einer solchen Grundlage ließ sich ein fundamentaloppositionelles Konzept mit "revolutionärem" Sozialprogramm entwerfen. Es sollte die Entwicklung des FN ab Ende der achtziger Jahre bestimmen.