Muffelndes Marburg

Dreiunddreißig Fragen an eine linke Universitätsstadt

Warum eigentlich hat Marburg in linksalternativen Kreisen den Ruf einer liebens- und lebenswerten Stadt? Weil es die einzige Stadt des deutschen Westens ist, in der die Partei der Zonenbürokraten den Sprung in den Stadtrat geschafft hat, die DKP? Weil nach unzähligen Nazis Anfang der fünfziger Jahre einmal ein vernünftiger linker Professor in Marburg lehrte, dessen Vernunft darin zum Ausdruck kam, daß er 1928 aus der KPD und 1961 aus der SPD geschlossen wurde? Weil ein paar notorische Wichtigtuer Revolutionskomitee spielen? Weil in der Innenstadt mehr Studenten aus anderen Gegenden Deutschlands leben als Marburger Bürger, sogar ein paar Studenten aus dem Ausland und drei mit dunkler Haut?

Ich wollte es genauer wissen. Als Linksintellektueller maskiert, verbrachte ich ein paar Tage in Marburg. Es wären die nutzlosesten Tage des Jahres gewesen, hätte ich nicht diesen Bericht geschrieben und für eine warme Mahlzeit verkauft.

Durch das Barfüßertor geht's in das historische Zentrum der alten Universitätsstadt und ersten Hauptstadt Hessens. Hier folgt Anwaltskanzlei auf Anwaltskanzlei. Wo kommen nur die vielen Anwälte her? Sind es ehemalige Jurastudenten, die Marburg nicht mehr losgelassen hat, weil es hier gar zu lebenswert zugeht? Immerhin hat sich ein Vollkornbäcker zwischen die Anwaltskanzleien gemogelt. Nichts gegen Anwälte und gesunde Ernährung, aber von was leben die alle hier, in einer Kleinstadt, in der hauptsächlich Studenten wohnen? Die Vollkornbäcker leben wahrscheinlich von Advokaten, die sich makrobiotisch ernähren, wovon aber leben diese? Wovon zahlen sie ihr tägliches Siebenkornbrot? Vom Einklagen der Medizin-Studienplätze? Ich krieg's raus.

Außer Studenten und Anwälten hat Marburg jede Menge Kisten, z. B. eine "Kinderkiste" im historischen Zentrum, eine "Käsekiste" vorm Barfüßertor. Außerdem gibt's zwei Kinderläden. Hier und in der Kinderkiste werden nicht etwa Kinder verkauft oder in Kisten gesperrt, sondern es wird Spielzeug feilgeboten, in der Käsekiste gibt's keinen Käse, auch kein Käsebrotpapier und keine Käsetupperdosen, sondern Bier aus dem Zapfhahn. Mit solchem versuchte ein anderer Hahn, der Physiker Otto, sich angesichts der Marburger Trostlosigkeit aufzurichten: "Mancher Widerwillen wurde im Bier ertränkt. Nach ein paar Glas 'trank man sich' am leider nicht sehr guten Marburger Bier 'empor'."

Und dieses Nest, in dem Spielzeuggeschäfte Kinderkisten, Kneipen Käsekisten und Klamottengeschäfte "Moda Lisa" heißen, soll lebenswert sein? Taumelnd von all der gequälten Originalität, alternativ ranzigen Betulichkeit und provinziellen Gschaftlhuberei flüchte ich ins alteingesessene Café Vetter. Hier ist seit der Gründung vor 75 Jahren nichts verändert worden, da sind wenigstens keine originellen Produktnamen zu erwarten, oder? Nein, es gibt wirklich keine, man schert sich hier sogar einen Dreck um das Einmaleins journalistischer Dramaturgie. Überhaupt schert man sich einen Dreck um Zeitgeist und zeitgemäße Einrichtung. Die Korbstühle sind derart durchgesessen, daß man sich krampfhaft an den Lehnen festkrallt, um nicht auf den tonnenschweren Teppichboden durchzuplumpsen, in dem man wahrscheinlich ersticken würde.

Der Kaffee schmeckt wie vor 45 Jahren, lauwarm und säuerlich. Zwar habe ich damals noch nicht gelebt, doch das Ambiente dieses Cafés läßt keinen Zweifel, daß sich hier seit Jahrzehnten gar nichts geändert hat, nicht der Geschmack des Kaffees, nicht das Sortiment fetter rosa Crèmetorten, die schon beim Hinsehen den Magen heben (warum essen eigentlich Konservative immer widerwärtig fettige Buttercrèmetorten und Linksalternative steinharte Buchweizenkuchen?), nicht die schwarzen Kostüme der Serviererinnen samt ihrer weißen Spitzenkragen. Immerhin weht eine seichte literarische Brise durch den muffigen Raum; Fotos zeigen Dichterlesungen mit Peter Härtling und Martin Walser, die tatsächlich genau hier stattgefunden haben sollen.

Noch mehr aber riecht es nach ranzigem Konservatismus. Links von der FAZ gibt's nichts mehr zu lesen, keine taz, keine FR, nicht mal den Spiegel, auch keine seriösen Blätter wie die Süddeutsche, dafür jede Menge Bunte und Focus und all solchen Mist. Trotzdem kann ich mich der Faszination altehrwürdiger Verschnarchtheit kaum entziehen.

Der Faszination der Nazis konnten sich die Marburger Studenten in der Weimarer Republik nicht entziehen. Beim Kapp-Putsch wollten die Marburger Burschenschaften, in denen vier Fünftel der Studenten organisiert waren, mitmischen, kamen aber noch zu spät. Doch sie wurden nicht vom Leben bestraft, sondern später jubelnd in der Heimat empfangen, nachdem sie bei der Niederschlagung eines Arbeiteraufstandes in Thüringen 15 Arbeiter auf der Flucht erschossen hatten. Zur Belohnung erhielt bereits 1932 Hitlers Studentenbund NSDStB (einmal dürfen Sie raten, was die Abkürzung bedeutet) satte zwei Drittel der Stimmen bei der Wahl zur Studentenvertretung, bei der Reichstagswahl die NSDAP immerhin 50 Prozent.

Ein nationalsozialistischer Kommentator des Strafgesetzbuches und Marburger Professor ging im Krieg nach Wien, um als Richter seinen Kommentaren Leben einzuhauchen, was so manchen Schwulen, Deserteur und Juden seins kostete. 1946 kehrte er auf seinen Marburger Lehrstuhl zurück und wurde bald Präsident der Uni. So sahen Karrieren in dem lebenswerten Städtchen aus.

Nun gut, das Problem der studentischen Nazikorps und der Altnazis ist inzwischen biologisch weitgehend gelöst, sollte man glauben. Ein Spaziergang zum Schloß, das hoch über dem schmucken Städtchen thront, läßt Zweifel aufkommen. Protzige Villen säumen den Aufstieg, überall Wappen der Guestfalier, Fredericianer und Borussen, Marburgs Feldherrenhügel ist ganz in Burschenhand. Was bleibt da anderes, als sich dem eigenen Geschlecht zuzuwenden? Autonome Lesben haben die Konsequenzen gezogen. Doch statt die Burschen, die natürlichen Feinde der Frauenrechtlerinnen, Linken und Autonomen, auch nur milde zu tadeln, verfolgen sie harmlose Menschen, die undemokratischer oder gar sexistischer Umtriebe vollkommen unverdächtig sind, zum Beispiel den Schriftsteller Max Goldt.

Der hatte einmal eine Geschichte geschrieben, in der sich der Erzähler weigert, eine Frau aus einer Mülltonne zu befreien, weil ihre Füße zu ungepflegt sind. Wegen dieser Geschichte, die, wenn überhaupt geschlechterpolitisch interpretierbar, als flammendes Pamphlet gegen die phallokratische Demütigung des weiblichen Geschlechts durch den Schönheitsterror der männlich dominierten Kosmetikindustrie gelten müßte, allenfalls als milde, also zustimmende Parodie eines solchen Pamphlets, forderten die autonomen Lesben Marburgs zum Boykott einer Lesung des liebenswerten Herrn Goldt auf. Er wird zensiert, aber die Burschenvillen strahlen im Glanz ihres erzreaktionären Firlefanzes.

Was ist bloß aus den Zöglingen des kritischen Professors Abendroth geworden? Was aus denen des amtierenden Linksintellektuellen Fülberth? Was ist das nur für ein entsetzliches Nest, in dem die linksradikale Inquisition flammenden Schwertes und ungepflegten Fußes den Geist tyrannisiert und den Humor vertreibt?

Der spätere Nazi Heidegger, 1921 bis 1928 Professor in Marburg und noch nicht Nazi, hat dieses Nest in einem lichten Moment treffender eingeschätzt als die gesamte Philisterbagage, die sich links, autonom oder sonstwie nennt, als er nämlich in einem merkwürdigen Superlativ von "mäßigstem Durchschnitt" sprach. Schon Wilhelm von Humboldt hatte Marburg als die "leicht ... häßlichste und unangenehmste Stadt, die man sich denken kann", geschildert. Und Karl Löwith, mit Heidegger nach Marburg gekommen und 1934 vor dessen Nazifreunden geflohen, war nicht weniger grantig ob dieser Provinznudel von Universitätsstadt: "Auch fehlte in Marburg die freie Luft der Freiburger Jahre, alles war muffiger und verfilzter und vorwiegend durch die Theologen bestimmt."

Noch ganz oben, beim Schloß, muffelt es gewaltig. Im Schloßgarten entdeckte ich einen Gedenkstein des Burschenbundkonvents für "unsere Toten 1939 bis 1945", unversehrt und keine Zweifel aufkommen lassend, welche Toten "unsere" sind. Dann nochmal ein Anwalt, in der letzten Villa vorm Schloß. Vielleicht leben die Anwälte ja von den Burschen, indem sie diese in Prozessen wegen der Auschwitzlüge vertreten, bezahlt von Ex-Burschenschaftlern und -Marinerichtern?

Noch eine letzte Frage: Warum entfernt niemand die riesigen pseudospätgotischen Spitzbögen in scheußlichem Rattengiftrosa, voller Warzen aus gichtigem Rauhputz, die die Marburger Freilichtbühne zur häßlichsten der westlichen Welt machen und das Bild des ansonsten manierlichen Schloßparks versauen? Die rosa Buttercrème aus dem Vetter rumort in meinem Magen beim Anblick dieser Geschmacklosigkeit, ich entsorge sie oral in den gepflegten Garten einer Burschenvilla, ein Akt der Verschmelzung von Kultur-, Gesellschafts-, Burschen- und Konditorkritik, den ich den letzten Kämpfern für eine bessere Welt in Marburg zur Nachahmung empfehle. Ich aber reise ab, mit der Regionalbahn über Treysa nach Kassel-Wilhelmshöhe und von dort in lebenswerte Welten.