Revolutionäre Kurskorrekturen

Das algerische Entwicklungsmodell zwischen Nation, Religion und kapitalistischer Modernisierung

"Die Selbstverwaltung zu liquidieren - das ist der ganze Inhalt von Boumediennes Programm", wußte die zehnte Ausgabe der Situationistischen Internationale die Situation in Algerien nach dem ersten Militärputsch im Juni 1965 zu charakterisieren. Treffend wurden in diesem Artikel Tendenzen zu einer - schon unter Algeriens erstem Staatspräsidenten Ben Bella entstandenen - Techno- und Bürokratisierung der politischen und ökonomischen Macht kritisiert. Ohne jedoch auf die ideologischen Fundamente und den Kitt dieser Herrschaft einzugehen: die Ökonomie, die Religion, also den Islam, und den algerischen Nationalismus.

Spätestens seit der Proklamation der algerischen Unabhängigkeit am 5. Juli 1962 waren starke Bezüge zum Islam und ein sozialistisch gekleideter Nationalismus Grundlagen der algerischen Gesellschaft und hegemoniale Bestandteile der neuen Staatsideologie. Ahmed Ben Bella, seit dem Herbst 1956 in französischer Haft, wurde durch die Unterstützung algerischer Militärs und einflußreicher islamistischer Vereinigungen 1962 erster algerischer Staatspräsident. Der "historische Führer" der Nationalen Befreiungsfront (FLN) hatte zum richtigen Zeitpunkt auf die richtigen Kräfte gesetzt: Die Koalition mit dem Oberkommandierenden der Grenzarmee, Houari Boumedienne, und mit der Vereinigung Al-quiyam al islamiya (Die islamischen Werte) ließ den anfangs nicht unumstrittenen Ben Bella als Nationalhelden und Sieger über seine FLN-Konkurrenten Mohammed Boudiaf, Hocine Ait-Ahmet und Mohamed Kider hervorgehen.

Schon der "algerische Befreiungskampf" gegen die französische Kolonialmacht - seit dem November 1954 - war kaum vom Antiimperialismus geprägt, den viele westeuropäische Linke in ihm sehen wollten. Vielmehr kämpfte ein Teil der algerischen Mudschaheddin für ihren Boden und gegen die europäischen Kolonialisten: "Für die Masse der Kämpfer (war das) ein heiliger Krieg gegen die Ungläubigen, der zugleich individuelle, aber auch kollektive und nationale Identität stiftete". So beschreibt Werner Ruf, der den Islamisten nicht gerade feindlich gegenübersteht, in seinem Buch "Die algerische Tragödie" treffend die Motive der "Masse der Kämpfer (...) für die Wiedereinführung einer gerechten, heißt: islamischen Ordnung."

Keine der nachfolgenden algerischen Regierungen ist an dieser Mischung von nationalen und islamischen Elementen vorbeigekommen. Nicht Ben Bella, der zumindest noch einige marxistische Berater neben der Armeeführung und verschiedenen Fraktionen der FLN zu Rate zog und Selbstverwaltungsprojekte nach Kräften förderte. Erst recht nicht die Militärs um den ehemaligen Verteidigungsminister und neuen Präsidenten Boumedienne nach dem "réajustement révolutionnaire" (etwa: revolutionäre Kurskorrektur) genannten Putsch, denen die Politik Ben Bellas zuwenig algerisch ausgerichtet war.

Eine Landreform, Kern jeder kapitalistischen Modernisierung, wurde in der Folge zögerlich angegangen und nie vollendet, eine vornehmlich auf die Bereiche Stahl und Petrochemie ausgerichtete Industrialisierung sollte gleichsam als Basis für sekundäre Industriezweige dienen. Die Nationalisierung des Bergbaus, des Versicherungs- und Bankwesens sowie die staatliche Vermarktung von Erdöl und Erdgas (ab 1971) folgte. Neben einer kapitalistischen Modernisierung sollte damit auch "jeder Art nichtalgerischer Fremdbestimmung" (W. Ruf) gesetzt werden. Aber der Spagat zwischen nachholender Industrialisirung einerseits und einer hauptsächlich durch das Kultur- und Erziehungsministerium geförderten Arabisierung und Islamisierung aller Bereiche der algerischen Gesellschaft andererseits mißlang. Lediglich eine aus den Einnahmen des Handels mit Erdöl und Erdgas erzielte Staatsrente wurde zur Grundlage der algerischen Wirtschaftspolitik. Der zunehmenden Transformation der algerischen Gesellschaft konnte während der Jahre hoher Erdöl- und Erdgaspreise auf dem Weltmarkt noch durch verschiedene distributive Leistungen begegnet werden. Auch konnte die erste größere ökonomische Krise Algeriens, ausgelöst durch die seit 1977 sinkenden Preise petrochemischer Produkte, durch die Aufnahme kurzfristiger und hoch verzinster Kredite von internationalen Finanzinstitutionen gemildert werden. Günstigere Konditionen, wie sie der Internationale Währungsfonds unter Auflagen anbot, wurden als möglicher "Eingriff von außen in das algerische Modell" abgelehnt. Chadli Bendejedid, seit 1979 Nachfolger von Boumedienne, bemühte sich zudem um eine Annäherung an westliche Staaten, der Machtantritt der Sozialisten in Frankreich 1981 bot dazu eine gute Gelegenheit. Daß ausgerechnet zu Frankreich intensive Kontakte aufgenommen wurden, sorgte für einen starken Legitimitätsverlust der Regierung in den Augen großer Teile der Bevölkerung. Sie sahen das eigene Entwicklungsmodell erneut kolonialisiert.

Der erneute Verfall der Rohölpreise ab 1986 - von 40 auf 18 Dollar je Barrel - führte schließlich zu einer Halbierung der staatlichen Ressourcen, Produktionsstätten und Bildungseinrichtungen verfielen, die Arbeitslosigkeit nahm sprunghaft zu. Die Distribution der noch vorhandenen knappen Mittel wurde weitgehend auf den inner circle der staatlich-militärischen Funktionäre und deren Begünstigte konzentriert. Waren schon seit Anfang der achtziger Jahre in breiten Schichten der algerischen Bevölkerung Sympathien für die islamische Führung in Teheran gewachsen, kam es im Oktober 1988 erstmals zu einer in der Mehrzahl von Jugendlichen getragene Revolte. Sie wurde in fast allen größeren Städten Algeriens umgehend von Polizei- und Armeestreitkräften niedergeschlagen, es gab mehrere hundert Tote. Der letzte Rest des Ansehens der Regierung war dahin. Dies führte zu einem politischen Vakuum, das allmählich von einer religiöse Bewegung mit sozialem Populismus gefüllt wurde. Nachdem im Februar 1989 eine neue Verfassung den Übergang zu parteipolitischem Pluralismus und ökonomischer Liberalisierung einleitete, entstand einen Monat später die Islamische Heilsfront (FIS), die bei den Kommunalwahlen im folgenden Jahr und im ersten Wahlgang der Palamentswahlen von 1992 zur stärksten Partei wurde. Ein neuer Militärputsch führte zum Verbot des FIS im März 1992. Die nicht wenigen islamfreundlichen Kräfte aus der alten Staatspartei FLN und aus dem Militär bevorzugten fortan eine Zusammenarbeit mit der islamischen "Bewegung für Solidarität und Frieden" (vordem Hamas), die sich eher gemäßigt gibt und und bei der Kontrolle über die Staatsrente zuverlässiger erscheint als der FIS. Staatspräsident Liamine Zéroual, seit Januar 1994 im Amt und durch die neue Verfassung von 1996 mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet, steht ebenfalls zu diesem Bündnis.

Daß auch diverse bewaffnete islamistische Gruppen vom staatswirtschaftlichen Oligopol profitieren, liegt auf der Hand: Die aus der FIS hervorgegangene Islamische Armee des Heils (AIS), die Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) sowie verschiedene kleinere islamistische Gruppen und Organisationen haben die ökonomische und militärische Kontrolle einzelner Regionen Algeriens - und auch einiger Stadtviertel Algiers - unter sich aufgeteilt. Wegzoll, Erpressung, Waffen- und Devisenhandel, Grundstücks- und gut organisierte Import-/Exportgeschäfte haben teilweise eine neue nationale Bourgeoisie aus den Reihen der Untergrundkämpfer und ihrer Unterstützer entstehen lassen. Waren in den siebziger und achtziger Jahren Geschäfte dieser und anderer Art in den Händen sogenannter militärischer Unternehmer, also bei ehemaligen Armeeangehörigen, die nach ihrem Ausscheiden aus den Streitkräften von der Staatsführung dankbar ins nationale Renten- und Vergünstigungssystem aufgenommen wurden, werden dieselben seit Beginn der Neunziger von den bewaffneten Islamisten von ihren Anwesen und Positionen vertrieben.

Die neuen Mudschaheddin der ehemaligen FIS und der GIA versuchen seit geraumer Zeit - zum Teil sehr erfolgreich - ein Oligopol unter Ausschluß staatlicher Kräfte über diese sekundäre Ebene der algerischen Ökonomie zu bilden. Terror, die Beschwörung der Umma (Gemeinschaft der Gläubigen) und ein völkischer Nationalismus treffen bei diesem Kampf um die Hegemonie über den Binnenhandel auf militärischen Terror, staatliche Islamisierung und Arabisierung sowie auf den algerischen Nationalismus der Eliten aus FLN und Armee.

So sehr eine Vereinigung oder Aufteilung beider Segmente der algerischen Ökonomie - Rente und Binnenhandel - durch eine Waffenstillstandsvereinbarung zwischen Staat und Mudschaheddin zu erwarten ist, so sehr bleibt zu befürchten, daß sie gemeinsam erst recht unerträglich sein werden.