Antiquitäten der Aufklärung

Johann Gottfried Schnabels "Insel Felsenburg", das Trostbuch des Bürgertums im 19. Jahrhundert

Deutschland, Mitte des 18. Jahrhunderts. Wir sehen uns um in der guten Stube einer protestantisch-tugendsamen Bürgerfamilie. Da! Das aufgeräumte und, nun ja, recht übersichtliche Bücherregal. Eine Bibel. Noch eine Bibel. Und vier dicke Oktavbände mit prächtig-barocker Titelei: "Wunderliche / FATA / einiger / See=Fahrer, / absonderlich / ALBERTI JULII, / eines gebohrnen Sachsens, / Welcher in seinem 18den Jahre zu Schiffe/ gegangen, durch Schiff=Bruch selb 4te an eine / grausame Klippe geworffen worden Ö" - seit dem 19. Jahrhundert, spätestens nach Ludwig Tiecks Bearbeitung von 1828, besser bekannt als "Insel Felsenburg". Das Haus-, Lese- und Trostbuch des aufgeklärten Bürgertums. Und alle großen Geister gerieten darob ins Schwärmen: Lessing, Herder, Karl Philipp Moritz, Wieland, Goethe - sehr viel später auch Arno Schmidt: "Bevor etwa der junge Handwerksgeselle die Wanderschaft durch's weite wirre Reich' antrat, gab ihm der Meister die 2 500 Seiten mahnend zu lesen: als Ersatz für noch mangelnde, praktische Lebenserfahrung."

Und für uns? Ein "gültiges und dabei hinreißendes Vollbild der Jahre zwischen 1710 und 30". So Arno Schmidt, der schon in den sechziger Jahren einen vollständigen und unbearbeiteten Neudruck forderte. Denn nicht erst Tieck hatte sexuell Anstößiges entfernt und am Ausdruck herummodernisiert, um das Buch auch für die Jugend tauglich zu machen. Nun endlich kann man den Roman wieder so lesen, wie ihn sich Schnabel gedacht haben mochte: in allen vier Teilen und in der grobschlächtigen, mit lateinischen und französischen Fremdwörtern aufgemotzten Prosa des jungen 18. Jahrhunderts.

Eberhard Julius, Ich-Erzähler der Rahmengeschichte, bekommt auf recht ominöse Weise ein Schreiben vom steinalten Bruder seines Urgroßvaters, Albert Julius, der ihn auf die Insel Felsenburg einlädt. Gerade rechtzeitig, denn Eberhard hat kurz zuvor durch Tod und Bankrott seine Familie verloren. So nimmt er die Einladung an und schifft sich mit anderen vom Schicksal gezeichneten Emigranten ein, um Europa den Rücken zu kehren. Glücklich auf der Insel Felsenburg angelangt, offenbart sich ihnen eine soziale Idylle, in der die Menschen "in aller Frömmigkeit, Liebe und Einigkeit mit einander lebten, und nach dem Exempel der ersten christl. Kirche eine treuherzige Gemeinschaft der zeitlichen Güter untereinander hielten, keinen Eigennutz, auch im allergeringsten Dinge zeigten, sondern ihren Nächsten und sich selbst zu dienen, alles mit Lust verrichteten, wozu sie sich geschickt befänden".

Eine Art kommunistische Urgemeinschaft also, aber streng lutherisch und unter einem sanften patriarchalischen Regiment. Ausführlich wird nun dieses Utopia beschrieben, seine Landschaft, die einzelnen Dörfer, das Gewerbe und Handwerk, gelegentliche Expeditionen, etwa zur benachbarten Insel Klein-Felsenburg, die Entstehungs- und Vorgeschichte usw. In diesen erzählerischen Rahmen sind 22 Autobiographien europamüder Auswanderer integriert, die das süße Leben im Insel-Eldorado aufs schärfste kontrastieren: Europa steht für eine imbezile und gänzlich amoralische Aristokratie, für Korruption, Gier, militärische Barbarei und die Intoleranz des Klerus. Der Roman changiert somit zwischen Fluchtutopie eines resignativen, politisch noch nicht emanzipierten Bürgertums und Fundamentalkritik am Ancien régime. So die allgemeine Lesart einer sich vornehmlich auf den ersten Teil kaprizierenden Germanistik.

Nach der Lektüre aller vier Bände muß man diese etwas korrigieren: Der Dualismus zwischen dem Inselparadies und der kruden europäischen Empirie hebt sich nämlich später immer mehr auf; die Insel Felsenburg sinkt sukzessive herab auf den Standard der Alten Welt. Schnabels Kniefall vor dem Absolutismus? Eine konservative Wende in seinem Denken? Oder zeigen die Säkularisierungstendenzen des Zeitalters bei ihm Wirkung, hat er mithin den Glauben an die protestantische Religion als gesellschaftlich integrativen Faktor verloren? Diese nicht genug zu lobende Edition ist noch für ein Bäckerdutzend Doktorarbeiten gut.

Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Wunderliche Fata einiger Seefahrer. Hg. v. Günter Dammann. Verlag 2001, Frankfurt/M. 1997, 3 Bde., zus. 2692 S., DM 79