Autonomie vor Ökologie

Die "Nachhaltigkeit" gilt in Öko-Kreisen als der Stein der Weisen. Inzwischen wird der Begriff nachhaltig kritisiert

Zehn Jahre sind mittlerweile vergangen, seitdem eine internationale Kommission unter dem Vorsitz der damaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland ihren Bericht "Our Common Future" veröffentlicht hat und damit für weltweites Aufsehen sorgte. Die Kommission beanspruchte für sich nicht weniger, als den Stein der Weisen gefunden, Ökologie, Ökonomie und soziale Gerechtigkeit miteinander "versöhnt" zu haben. Der Brundtland-Kommission gelang es mit ihrem Bericht, im Diskurs über Umwelt und Entwicklung endgültig ein neues Leitbild zu etablieren: Sustainable Development, im Deutschen zumeist mit "nachhaltige Entwicklung" übersetzt.

Als gemeinsame Basis des Diskurses dient bis heute die Brundtlandsche Definition von Sustainable Development: "Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können." Unter Berufung auf diese Leerformel diskutieren gegenwärtig verschiedene Fraktionen über den rechten Weg, von der Weltbank über die Hoechst AG bis hin zu DGB, Greenpeace und der Grünen Liga.

Gerade einstmals kapitalismuskritische Organisationen ließen sich von dem Angebot der Mächtigen beeindrucken, fürderhin auf internationalen Konferenzen mitdiskutieren zu dürfen, schließlich beträfen die fortgeschrittenen global-ökologischen Probleme "uns alle" gleichermaßen, und da dürfe sich doch niemand der Diskussion verschließen. Die Vertreterinnen und Vertreter der sozialen Bewegungen sahen's genauso, jetteten von Verhandlungsort zu Verhandlungsort, immer auf der Suche nach dem großen Konsens. Und zur Belohnung gab's auch noch zusätzliche Staatsmittel.

Daß die 1992 in Rio mit großem Brimborium verabschiedete "Agenda 21", deren lokaler Umsetzung sich Umweltverbände, Kirchen und Kommunen bis heute verschrieben haben, auch Kapitel zur "umweltfreundlichen Förderung" von Gen- und Atomtechnik sowie zur "Stärkung der Rolle der Privatwirtschaft" enthält, fiel lange Zeit kaum jemandem auf. Erst zur Veröffentlichung der bedeutendsten nationalen Nachhaltigkeits-Studie "Zukunftsfähiges Deutschland", die 1995 vom "Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie" im Auftrag der Nichtregierungsorganisationen BUND und Misereor angefertigt wurde, regte sich fundamentale Kritik am Konzept der nachhaltigen Entwicklung.

Organisatorisches Zentrum dieser Kritik ist der Bundeskongreß entwicklungspolitischer Aktionsgruppen (BUKO), der den gesamten Nachhaltigkeits-Diskurs als Versuch identifiziert, die Herrschaft des "kapitalistischen Weltsystems" mittels ökologischer Modernisierung "nachhaltig" abzusichern. Auch wenn diese Grundthese bisweilen leicht verschwörungstheoretische Ausprägungen hat, so sind die drei Nachhaltigkeits-Kritiken, die mittlerweile aus dem BUKO-Spektrum heraus in Buchform veröffentlicht wurden, wahre Fundgruben für ein linksemanzipatorisches Verständnis von Ökologie.

Gemeinsam ist allen drei Publikationen, daß sie im wesentlichen vom Ansatz der "gesellschaftlichen Naturverhältnisse" ausgehen. Dieses im Umfeld des Frankfurter Instituts für sozialökologische Forschung (ISOE) entwickelte Theorem versucht, die "bipolare Unterscheidung zwischen Gesellschaftlichkeit und Natur aufzulösen und die Abhängigkeit des Naturbegriffs von sozialen Kriterien" herauszustellen. Es wendet sich damit explizit gegen die gängigen Sichtweisen auf Natur als statisch und verobjektivierbar. Erst dieser Schritt ermöglicht es, Umwelt oder Ökologie nicht mehr nur als abstrakte Größen anzusehen, deren Schutz oder Bewahrung gleichsam im Interesse "aller" liegen müsse, sondern die Macht- und Herrschaftsinteressen zu analysieren, die sich auch mit dem umweltschützerischen Zugriff auf die Natur verbinden.

Helga Eblinghaus und Armin Stickler nähern sich diesem Vorhaben in explizit wissenschaftlicher Art und Weise. Sie nehmen das Leitbild Sustainable Development auf jede nur erdenkliche Weise auseinander. Sie zeichnen die Historie des internationalen Diskurses um Umwelt und Entwicklung detailliert nach, widmen sich ausführlich der semantischen und etymologischen Untersuchung der beiden Grundbegriffe, stellen die verschiedenen konzeptionellen Ausprägungen des Leitbilds in ihrer ganzen Bandbreite dar.

Die Autoren arbeiten heraus, daß mit der Herausbildung des neuen Leitbildes eine Ökologisierung von Entwicklungstheorie und -politik erfolgt sei, die mit den Grundannahmen des linearen Entwicklungsdenkens keineswegs breche. Zwar erhebe Sustainable Development auf der formalen Ebene den Anspruch, ökologische, ökonomische und soziale Ziele gleichrangig miteinander zu verbinden, in der Ausformulierung und Umsetzung der Anwendungsbereiche würden aber eindeutige Prioritäten gesetzt. Mit dem in der Regel angestrebten Mix von "nachhaltigem" Wirtschaftswachstum, Öko-Steuern und Effizienzrevolution, Technologietransfer, "Weltinnenpolitik" und Bevölkerungskontrolle im Süden überwiege eine technizistische Grundhaltung, der es im wesentlichen nur um eine ökologische Modernisierung der bestehenden Verhältnisse gehe.

Die zentralen Grundannahmen des Diskurses, zum einen die Lösungskompetenz bei den Experten der Industrieländer zu vermuten, zum anderen der vorgegebene Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ökonomie, führen Eblinghaus/Stickler zu der These einer "bloßen Diskursivität" von Sustainable Development. Sie gehen davon aus, daß der Sustainability-Diskurs in erster Linie nicht auf reale Problemlösungen, sondern auf Machtverteilungsprozesse ausgerichtet ist. Insofern negieren sie auch die "Anschlußfähigkeit" des Diskurses für radikale Positionen, die nicht wenige Linke für gegeben halten.

Christoph Spehr argumentiert in seinem Buch "Die Ökofalle" im Prinzip ganz ähnlich. Die wesentlichen Unterschiede liegen in der Form der Darstellung und in der Benennung einer konkreten Perspektive. Er verzichtet im Gegensatz zu Eblinghaus/Stickler fast weitgehend auf Literaturhinweise und bemüht sich mit erkennbarem Erfolg um einen lockeren und verständlichen Sprachstil. Auch er wendet sich vehement gegen die Ausarbeitung "besserer" Nachhaltigkeitskonzepte, entwirft aber auch ein Gegenbild dazu: "Die Abwicklung des Nordens".

Spehr fordert statt der effizienteren Verwaltung und Verteilung von Macht im Norden einen konsequenten Abbau der Machtinstrumente der Industrieländer. Sein Konzept umfaßt, als erste Orientierungsperspektive für die sozialen Bewegungen, die Verhinderung von militärischen Interventionen des Nordens im Süden, die Zurückdrängung und Entprivilegierung des weltmarktorientierten Sektors sowie der dazugehörigen "formalen" Arbeit, die verstärkte Wiederaneignung von Räumen und Zusammenhängen sowie Maßnahmen zur Sicherung einer eigenständigen Nahrungsmittelversorgung. Durch diese Strukturveränderungen will Spehr eine "Dekolonisierung des Nordens" erreichen, sowohl den Zugriff auf den Süden abbauen als auch eine emanzipatorische Perspektive für die Marginalisierten des Nordens selbst schaffen.

Daß Sustainable Development nur eine Modernisierung der bestehenden Unterdrückungsverhältnisse bedeutet, darin sind sich die Theoretiker und Theoretikerinnen des BUKO einig. Daß es aber gerade Frauen sind, die von den Nachhaltigkeitsmodellen am stärksten betroffen sein werden, wird weder bei Eblinghaus/Stickler noch bei Spehr ausführlich thematisiert. Diese Lücke schließt die Gruppe Schwertfisch, deren Buch in Einzelbeiträgen den Diskussionsstand der gesamten BUKO-AG zur Nachhaltigkeitskritik wiedergibt.

Neben den Beiträgen von Kai Kaschinski und Christoph Spehr, die sich an der Erneuerung eines emanzipatorischen Naturbegriffs versuchen, sind hier besonders zwei Beiträge zur feministischen Kritik von Sustainable Development beachtenswert. Die Artikel der Frauen-Fisch-AG und von Claudia Bernhard wenden sich vor allem gegen die implizite Geschlechterrollenverteilung der gängigen Nachhaltigkeitsstudien. Die dort anvisierte Spaltung des Arbeitsmarkts in einen weltmarktorientierten Hochlohnsektor und einen Sektor von niedrig bis gar nicht entlohnter Arbeit im Bereich von Reproduktion und Eigenarbeit ("Gut leben statt viel haben") führe zur einseitigen Belastung von Frauen. Während die zumeist männlichen Ingenieure ihren Machbarkeitswahn nunmehr in der Entwicklung ressourceneffizienter Technologie ausüben dürften, um damit die "Ökologieführerschaft des Nordens" aufrechtzuerhalten, würden die Frauen in der Reproduktion mit der Forderung nach Sparsamkeit und Verzicht - sprich Mehrarbeit - konfrontiert.

Claudia Bernhard kontrastiert dieses Ansinnen mit einem einfachen, lebensweltlich orientierten Gegenvorschlag. Die Lösung für die Verminderung der Umweltbelastung durch Waschmittel könne keinesfalls der massive Einsatz gentechnologischer Verfahren zur Produktion von "umweltfreundlichen" Wasch-Enzymen sein, wie es heute sogar schon in den Umweltverbänden diskutiert wird. Vermutlich sei es wesentlich erfolgversprechender, das Wäscheaufkommen insgesamt zu reduzieren - indem Männer ihre Wäsche selber waschen!

Das von Bernhard in diesem Zusammenhang formulierte Postulat "Autonomie geht vor Ökologie" taugt durchaus als zentrale linke Gegenthese zum gesamten Nachhaltigkeitsdiskurs. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die Linke auch akzeptiert, daß ökologische Probleme in einem bedeutenden Ausmaß tatsächlich existieren. Wer glaubt, mit dem Verweis auf die Herrschaftsförmigkeit des Nachhaltigkeitsdiskurses oder die bisweilen rechtsradikalen Positionen innerhalb der heutigen Umweltbewegung das Problemfeld einfach negieren zu können, hat den Anspruch auf eine emanzipatorische Perspektive schon verspielt.

Helga Eblinghaus/Armin Stickler: Nachhaltigkeit und Macht. Zur Kritik von Sustainable Development. IKO-Verlag, Frankfurt/M. 1996, 238 S., DM 29,80

Christoph Spehr: Die Ökofalle. Nachhaltigkeit und Krise. ProMedia Verlag, Wien 1996, 238 S., DM 36

Schwertfisch (Hg.): Zeitgeist mit Gräten. Politische Perspektiven zwischen Ökologie und Autonomie. Yeti-Press, Bremen 1997, 229 S., DM 24