Der Schein kann trügen

"Drei Schwestern" in Berlin, "American Psycho" in Hamburg

Einerseits haben die beiden Stücke gar nichts miteinander zu tun. Andererseits ergänzen sie sich über die Jahrzehnte, als wäre nichts dazwischen passiert. Am Ende ist die ganze Welt ein Wartesaal, alle sind zu spät gekommen, der Zug ist endgültig abgefahren. Ein Klassiker und eine Uraufführung und ein globales Dorf voller Samoware und Hardbodys.

Bis es heftig kracht im Gebälk. Beide Stücke spielen in einer inzestuös-hermetischen Gesellschaft, die sich gegen Erschütterungen und sonstige Umstürze qua Stand respektive Spitzenverdienst gefeit wähnt. Anton Tschechows "Drei Schwestern" (uraufgeführt 1901 in Moskau) zeichnet das pastellfarben nuancierte Gruppenbild der gehobenen Feudalmilitärs einer russischen Provinzstadt kurz vor dem Umbruch. Es gibt drei Schwestern und nur eine ist verheiratet, was sich bis zum Schluß nicht ändert und in jedem Dramenlexikon als tragisch gilt. Der Roman "American Psycho" (1991) von Bret Easton Ellis (geboren 1964) ist laut Esquire das grausamste Buch aller Zeiten und hierzulande Bückware. Patrick Bateman, jungdynamischer Wallstreet-Yuppie, bewegt sich zwischen Büro, Fitneßcenter, Clubs. Außerdem bringt er regelmäßig Leute um, was er jedem erzählt und niemanden interessiert. Das ändert sich bis zum Schluß nicht und gilt trotzdem nicht als tragisch.

Thirza Bruncken hat die Uraufführung von "American Psycho" im Hamburger Schauspielhaus inszeniert, Christoph Marthaler die "Drei Schwestern" an der Berliner Volksbühne.

Alle lieben Marthaler. Er ist der "Regisseur des Jahres". Alle lieben Tschechow. Er ist der bluesigste "Russe des 19. Jahrhunderts". Alle lieben "Drei Schwestern". Sie sind (inklusive der bösen Schwägerin) die petit-point-gestickten "Golden Girls" für die ganze Theaterfamilie. So voller Liebe ist auch die völlig zugebaute Bühne von Anna Viebrock, ein offener Wohnraum, hinter dem eine breite Treppe bis in den Schnürboden führt. Wenn die Schauspieler aus der ersten Etage ins Parterre wollen, müssen sie einen Umweg über die zweite nehmen. Dann sind hoch oben nur ihre Beine hinter dem Treppengeländer zu sehen. Das macht Spaß deshalb wird der Umweg ziemlich breitgetreten. Das illustriert außerdem den Charakter des ewigen Iwan - zu viel Schwermut, zu wenig Effizienz. Programmatischer Auftakt einer Inszenierung voller Stereotypen, die nur zur dürftigen Simulation reichen. Marthalers Regiestil beruht auf der ungebrochenen Wiedergabe von Alltagsritualen, die er aber nicht wie etwa Frank Castorf - destruktiv-lustvoll austreibt, indem er sie übertreibt, sondern denunziatorisch entblößt und fixiert.

So sehen plötzlich Tschechows Figuren - mit Strickweste, Schleppschritt und dickem Brillengestell - wie unappetitliche Schablonen mitteldeutscher Kleinbürger aus. Alle spielen auch so. Ihre trotteligen Marotten sind dem Publikum vertraut, ob der philosophierende Heimwerker (Ueli Jäggi) eine quietschende Tür ölen will und dabei das ganze Ding ruiniert, oder ob der Oberstleutnant (Peter Fitz) gefühlig wird und gleich einen "Sterbenden Schwan aus Holz" tanzt. Ohne viel Federlesens bedient Marthaler - auf Kosten des Stücks und der Personen - das bekannte Volksempfinden. Es sind immer die anderen, über die sich besonders gut lachen läßt. Die drei Schwestern treten als Musketier-Stoßtrupp, eine synchron im Windschatten der anderen, auf. Danach kommen sie nicht mehr zusammen, obwohl sie allesamt aus den Provinzkaff-Lebensspießereien heraus und nach Moskau wollen, den symbolischen Erfüllungsort ihrer fast abgeschminkten Wünsche. "Nach Moskau" heißt bei Tschechow "SOS". Bei Marthaler klingt es wie "Dachausbau" und repräsentiert die Ästhetik des Stücks. Dieser dauert vier Stunden und bleibt die Antwort auf die Frage schuldig: warum vier Stunden? Ohne dramatische Fallhöhe, ohne das Scheitern der Hoffnungen, die Marthaler den Figuren verwehrt - wohl so eine Art Ende-der-Utopien-Kalauer - fällt das ganze Stück zusammen.

Auf dem Tschechowschen Raster mit den Koordinaten Verdrängung, Depression, Morbidität entwirft Marthaler ein einschläferndes Gesellschaftsspiel mit allerlei Gesang und einem Harmonium-Teppich aus beliebten Melodien des 19. Jahrhunderts. Typisch russische vermutlich, weil mit Musik alles besser geht. Nichts dagegen ist spürbar von der kalten Schönheit wie weiland bei Peter Stein an der "Schaubühne", dafür (Mütterchen Rußland-)Klischees: "Drei Schwestern" als Schattenkabinett.

Wie aber das namenlose Grauen, das Unvorstellbare auf der Bühne darstellen, in aussichtsloser Konkurrenz zur Bilderflut ganz normaler Horror-, Porno-, Trash-, Splattermanifestationen?

Der Roman "American Psycho" hat gut 500 Seiten, scharenweise Personen, durchgestylte Örtlichkeiten. Die Bühnenfassung in der Hamburger Inszenierung von Thirza Bruncken hingegen ist auf zwei Frauen (Barbara Nüsse, Sabine Wegner) und zwei Männer (Roland Renner, Jörg Pose) und einen einzigen kahlen Ort beschränkt. Im Roman spricht man sich irrtümlich zumeist mit falschen Namen an, da sich alle bloß flüchtig kennen und in ihrer Trendy-Klonigkeit ähneln. Auf der Bühne äußert sich die Austauschbarkeit der Individuen durch die gleichen Anzüge/Kostüme, die gleiche Perückenfarbe und Gesichtsbleiche. An der mit blauem Samt bezogenen, quadratischen Spielfläche sitzt das Publikum so eng herangerückt wie an den Mittagstisch (Bühne/Kostüme: Jens Kilian). Man ist ganz unter sich. Nur einer ist außer sich und besessen von der Idee, daß es hinter der Statusobjekt-Fassade und der unendlichen Kaufkraft solcher "Masters of the Universe" (Tom Wolfe) wie er und seinesgleichen samt ihrer "Fickfrösche" (Ellis) noch etwas ganz anderes geben müßte. "Du bist ein Monster", sagt beiläufig seine Freundin, und es stimmt. Gleichzeitig ist der Frauen-, Bettler-, Kindermörder Patrick Bateman ein drastischer Moralist, der sich gegen die herrschenden Verhältnisse wehrt, und zwar ebenfalls als einziger. Ellis' Leistung, die ihn literarisch ins Abseits der sogenannten zivilisierten Welt katapultierte, ist, daß er diese ebenso akribisch-kenntnisreich beschreibt wie Batemans egoman-perversen Blutrausch. Und mit provokanter Logik die stringente Verbindung zwischen beiden aufzeigt .

Das Buch endet mit den Worten "Kein Ausgang". Auf diesen virtuellen Fluchtpunkt konzentriert sich die Inszenierung. Einmal rennt einer durch die Stühle panisch gegen die nackte Betonwand, stößt unverständliche Silben hervor, sucht ein Schlupfloch und sieht die Tür daneben nicht. "American Psycho" wird zur schwarzen Messe, bei der kein Tropfen Blut fließt. Bateman sitzt mit Freundin am Rand einer Grube im Bühnenboden. Man redet aneinander vorbei, sie steigt hinunter, verschwindet, er steigt ihr nach, hebt eine Bohrmaschine, sie schreit, beide kommen wieder hoch, man redet aneinander vorbei, sie steigt hinunter, verschwindet ... Oder Bateman, allein auf der Bühne, bindet sich eine weiße Küchenschürze um, hat frisches Fleisch eingekauft, zeigt es demonstrativ allen Zuschauern. Diesmal ist es definitiv kein "Versuch, Girl zu kochen und zu essen" (Kapitelüberschrift). Nach dem Braten läßt er das Fett gedankenverloren abtropfen und singt dazu von seinem schwarzbraunen Mädelein, das einen großen Mund hat - tropf, tropf - und das ihm keine Ruh' läßt - tropf, tropf - keine Ruh', lalala. So expressiv ist schon lange - eben kein - Blut geflossen.

Gegen die Dominanz der Gegenstände setzt Bruncken das Prinzip der szenischen Dekonstruktion. Die professionellen Spekulanten, Ellis' hochbezahlte Knechte des Kapitals, bestimmen in einer absurden Choreographie der Raumaneignung den Gang der Geschichte. Konstituierte sich die Wirklichkeit der drei Provinz-Schwestern noch im sehnsüchtigen Tagtraum, stellt sie sich für die urbanen Konsumjunkies neunzig Jahre später im exklusiven Besitzwahn her. Ihn vermittelt Bruncken in einer Ästhetik des Verschwindens, durch die sich die Fetischobjekte beredt als leeres Zentrum darstellen. Beim Warten auf den großen Knall, trunken vom Wissen um ihr baldiges Abdanken, verliert die eine wie die andere Oberschicht ihre Identität, die sich nur noch als formelhafte Selbstbestätigung realisierte. "Gibt es überhaupt Leute, die es gibt?" fragt Bateman, reglos, seine Mutter. Unauffällig zwischen die Zuschauer gezwängt, im Kegel einer funzeligen Tischlampe, schildern die beiden teilnahmslos einen seiner bestialischen Folter- und Mordexzesse, dabei kultiviert einen Salat verzehrend. Thirza Brunckens glasklare Inszenierung dieser tödlich materialistischen Ersten-Welt-Elite zwingt die Zuschauer zu bedingungsloser Konzentration. Es gibt kein Wegschauen, keine Ablenkung, kein Entziehen.

"Ein Trost bleibt mir. Ich bin sehr reich." Warten. Schweigen. Ganz entfernt klingelt ununterbrochen ein Telefon. "Der Schein kann trügen", sagt Bateman. Nicht in diesem Theater.

Anton Tschechow: Drei Schwestern. R: Christoph Marthaler. B/K: Anna Viebrock. D: Heide Kipp, Susanne Düllmann, Olivia Grigolli, Peter Fitz u.a. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin-Mitte. Weitere Vorstellungen: 27.9., 9./10.10.

Bret Easton Ellis: American Psycho. R: Thirza Bruncken. B/K: Jens Kilian. D: Roland Renner, Barbara Nüsse,
Jörg Pose, Sabine Wegner Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Kirchenallee 39. Weitere Vorstellungen: 24., 27., 29., 31.10