Löffler gibt den Henrichs ab

Die Querelen im Feuilleton der Zeit haben eine Verfassungskrise in deutschen Kulturredaktionen ausgelöst.

Wer seinem Arbeitgeber mit der Kündigung droht, sollte einigermaßen sicher sein, daß sie nicht angenommen wird. Ganz falsch machte es neulich der Kulturredakteur Thomas M. Der Kollege, erzählte man sich in der Kantine des Tagesspiegel, habe seinem Vorgesetzten mittels einschlägiger Drohungen eine Gehaltserhöhung abpressen wollen. Thomas M. ermannte sich und stiefelte gleich nach der Mittagspause entschlossenen Schrittes ins Büro seines Ressortleiters: "Herr Chef", setzte er diesem die Pistole auf die Brust, "entweder ich bekomme ab sofort mehr Geld oder ich kündige vielleicht!" Nun arbeitet Thomas M. für weniger Geld bei der Berliner Festspiele GmbH.

Eine ähnliche Erfahrung mußte dieser Tage Benjamin Henrichs machen, der Theaterkritiker der Zeit. Sigrid Löffler, die neue Leiterin des Feuilletons, treibe unlautere "Spielchen", indem sie ihm hochwichtige Informationen vorenthalte, beschwerte er sich und kündigte seinen Arbeitsvertrag - in der Hoffnung, behaupten jedenfalls die in solchen Fällen gern zitierten Insider, die Redaktion werde sich hinter ihn stellen und am Ende werde eine Entscheidung zu seinen Gunsten fallen. Dann wäre man die infame Löfflersche los, jeder unartige Modernisierungsdrang wäre fürs erste abgewehrt, und die Feuilletonisten, die eh am liebsten keinen Chef über sich dulden, könnten im gewohnten Stil weiterwursteln. Frau Löffler nämlich wollte ihre Befehlsgewalt in sämtlichen Kulturschrebergärten durchsetzen, um das Zeit-Feuilleton in eine Art Woche für Abiturienten zu verwandeln. Während Henrichs sich in seinem Theaterressort, das nur aus ihm besteht, souverän wähne oder allenfalls der Gräfin Dönhoff untertan. Zu seinem Entsetzen aber nahm der Chefredakteur die Kündigung an.

Eilends kehrt die Gräfin aus ihrem italienischen Urlaub heim. Die FAZ malte ob der Verfassungskrise düstere "Zeit-Zeichen" an die Wand. Ob Henrichs "nach mehr als zwanzig Jahren 'Zeit'-Zeit nun die endgültige "Aus-'Zeit'" zu gewärtigen habe, fragte die taz. "Mit dem Ende einer Zeit (der 'Zeit'-Zeit?) ... denken manche jetzt auch an einen radikalen Schnitt, bei dem die 'Zeit' für eine neue 'Zeit' reif wird", und nicht etwa die Zeit für eine neue Zeit oder - das wäre ganz falsch! - die Zeit für eine neue Zeit. Meinte jedenfalls "Hellmuth" Karasek.

Ob aber nicht vielmehr der Zeitgeist, der den Zeit-Geist zeitigte, nun zur Unzeit das Zeitliche ... ach was! Karasek, der eines hoffentlich fernen Tages Überschriften wie "Menetekel für Musentempel" zu verantworten hat, sollte sich nicht die Köpfe anderer Herausgeber zerbrechen.

Was ist aber dieser Henrichs eigentlich für einer? "Seine Theaterkritiken sind in ihrem phantasievoll sensiblen szenischen Erzählton stilbildend geworden", schrieb die FAZ. "Seine Reportagen gehören zu den Glanzstücken des Genres. Benjamin Henrichs ist im Kulturjournalismus eine nationale Institution." Seine einzige Stärke sei "Produktion von Bauernregeln", schrieb hingegen 1995 wiederum Karasek. Und nannte Henrichs einen "Kultur-Wichtel, der seit über 20 Jahren breitgewalzt und gravitätisch als Theaterbuchhalter sein Recht auf Träume einklagt, das natürlich auf höchstem Niveau zu erfolgen habe. In seiner längst bürokratisch abgeschlafften Sprache träumt der träge Gewordene in klappernden Gegensatzpaaren den besseren Tagen des deutschen Theaters nach."

So gehen die Meinungen halt auseinander. Daß auch Karasek mitunter gar nicht seiner Meinung ist, bewies er zum aktuellen Anlaß im Tagesspiegel: Henrichs war nun plötzlich ein "Starrezensent, der in der Zeit 24 Jahre lang Theateraufführungen vor allem mit poetischer Wehmut und viel Gespür für das Medium feierte ... Sicher der einflußreichste Theaterkritiker Deutschlands und ein hochbegabter Glossenschreiber, verstand er es mühelos, ganze Zeit-Seiten glanzvoll, manchmal auch nur mit Mattglanz zu füllen. Benjamin Henrichs, kein Zweifel, war nicht nur das Aushängeschild dieses Feuilletons, er war auch dessen Herz, dessen Seele."

Selten wurde ein Urteil aus erster gründlicher revidiert. Mit dem simplen Faktum, daß Karasek und Henrichs inzwischen für denselben Konzern arbeiten, ist das kaum zu erklären.

Ewig fast währte im Zeit-Feuilleton die Ära des unseligen Raddatz, der schließlich doch über seine Inkompetenz stolpern mußte. Zum Nachfolger wählten die Redakteure aus ihrer Mitte Ulrich Greiner, ein seltsamens Exemplar, das irgendwie nicht von dieser Welt ist oder mindestens aus einem anderen Jahrhundert. Vor kurzem noch wollte Greiner uns einen neuen literarischen Kanon aufnötigen, denn "wo keine Verbindlichkeit mehr herrscht, gähnt die geschichtsvergessene Leere". Einmal ließ man ihn nach Moskau. Der dortige Taxifahrer, meldete er empört, "spricht nicht Deutsch noch Englisch, auch sonst keine gesittete Sprache", sondern nur Russisch. Wenn er jemanden daran erinnern wollte, daß man sich eines Nachts zufällig in der U-Bahn getroffen habe, dann las sich das so: "Seinerzeit begegneten wir uns durch Zufall nächtlings in der Metro." Neuerdings plädiert Greiner für eine Poetik der Erleichterung: Dichter brauchen nicht notwendig das Vermögen, in Worte zu bannen, was sie schauen und empfinden - wenn ihre Empfindung nur wahr und tief genug ist und ihre Schau recht visionär. Damit will er verhindern, daß eine drakonische Regelpoetik, die sich weigert zu erahnen, was der Dichter nicht sagen kann, große Teile des Botho Straußschen Werks verloren gibt.

Greinern folgte Arno Widmann. Wer ist das gleich nochmal? War früher Redakteur der taz, heißt es, also einer der vielen im Rudi-Dutschke-Haus, die desto öfter auf die Uhr schauen, je energischer der kleine Zeiger dem Feierabend entgegentickt: "Scheiße! Bald halb vier, und ich bin noch immer bei der taz! Heute wird die Gräfin Dönhoff wohl nicht mehr anrufen." Widmanns Telefon aber schellte irgendwann doch. Es fehlte ihm der rechte Wille zur Macht, sagt man, und Henrichs und die Seinen lachten. Frustriert zog Widmann ab.

Nun die Löffler.

Daß sie, wenn sie will, durchaus fies werden kann, ahnt schon der Zuschauer des Literarischen Quartetts, und er ist froh, sie nicht persönlich zu kennen. Wird sie endlich mit dem selbstgefälligen Kulturklüngel aufräumen, oder wird Harry Rowohlt demnächst das Feuilleton regieren? Geht Henrichs zum Tagesspiegel oder zur Berliner Zeitung, die alles einkauft, was einen Füller halten kann?

Spannend ist das Leben auf dem Medienplaneten. Obwohl: Ich für meinen Teil pflege Henrichs' Artikel ja gar nicht zu lesen. Und in welchem Blatt ich sie nicht lese, ist mir eigentlich egal.