Neuss’ Testament

Gesammelte Werke vom Mann mit der Pauke - auch ein Längsschnitt durch die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte

Irgendwann holt die Wirklichkeit dann doch immer die Satire ein. Für den Satiriker ist das eingermaßen betrüblich, weil der sich einmal mehr mit dem längst Vorausgesagten herumschlagen muß und sich dabei langweilt. Wenn er Glück hat, segnet er früh das Zeitliche - eben bevor sich das virtuelle Zerrbild vor seinen Augen materialisiert. Wolfgang Neuss gehört in gewisser Weise zu diesen Glücklichen. Er stirbt kurz vor der Wiedervereinigung, muß also nicht mehr realiter miterleben, was er bereits 1964 weiß - daß der Wessie zum Kolonialherren avanciert: "Wenn ich gute Laune habe, schmeiß ick 'ne Mark in den weißen Sand. Hei, ist das 'ne Balgerei. Quasi hab ick drei Diener: einer aus Chemnitz trägt mir das Handtuch ans Meer, einer aus Parchim trocknet mir ab, und gestern hat mir sogar ein Funzenär aus Frankfurt/Oder eine Strandburg geschippt. Die hab ick aber gleich wieder eingerissen, der hat mir zu sehr auf Frankfurter Allee gebaut ... Gestern hat sich Helga maniküren lassen. Aber an die Füße. Von zwei Kunststudenten aus Leipzig. Sie sieht jetzt den Osten mit janz andere Hühneraugen."

Natürlich reagiert man im Westen, wo man längst wieder wer ist und mit gönnerhafter Fürsorge das allmonatliche "Päckchen nach drüben" schickt, sich mithin rührend um die Brüder und Schwestern in dern sogenannten "DDR" kümmert, mit gespielter Empörung auf solche Sottisen. Ein vergleichsweise harmloser Affront - ohne Nachspiel.

Ganz ehrlich ist die Empörung, als Neuss dem deutschen Wirtschaftswundervolk den verdienten wöchentlichen Francis-Durbridge-Krimi-Spaß verdirbt, um die Stubenhocker für seinen zweiten Spielfilm "Genosse Münchhausen" in die Kinos zu holen. Er gibt ein Zeitungsinserat auf und entlarvt kurzerhand den "Halstuch-Mörder" als Dieter Borsche. Ein echter Skandal. Die Springer-Presse hetzt gegen den "Spielverderber" und "Verräter der Nation" und mag Neuss auch nicht als mildernden Umstand anrechnen, daß er nur (richtig) geraten hatte. Spätestens beim Feierabendfernsehen hört für die junge Bundesrepublik der Spaß auf. Neuss: "Na, weißte. Geh du mal übern Kudamm und hinter dir sagt'n Arbeiter, ernsthaft und ohne Spaß: 'Da geht ja die Verrätersau!' Na, danke. Da biste satt."

Für großes Aufsehen sorgte auch sein Ausschluß aus der SPD unmittelbar vor der "Großen Koalitze", weil er für eine - allerdings recht illusorische - Vereinigung der "Linken" optierte: "DFU - gehört für mich dazu." Einige Jahre zuvor hatte er bereits die lasche Oppositionspolitik der SPD mehr als nur bedauert, deren Transformation zur "Volkspartei" infolge des Bad Godesbergers Programms kujoniert - und dabei auch gleich den eigenen Ausschluß hellsichtig vorweggenommen: "Wer nicht haargenau wie die CDU denkt, fliegt glatt aus der SPD".

Neuss war einigermaßen gekränkt; trotz seiner Einwände und notorischen Invektiven gewährte ihm diese Partei die politische Erdung, die er damals offenbar benötigte. Entsprechend verletzt, und geradezu um eine Wiederaufnahme buhlend, reagiert er denn auch - freilich ohne zu Kreuze zu kriechen. Die harsche Kritik an der SPD nimmt Neuss keineswegs zurück. "Noch mal: Es ist keine Schande, wenn die SPD zur DFU hält! Ekelerregend ist, wenn eine Arbeiter- und Volkspartei und deren politische Führung sich immer mehr um die bräunlich schimmernden Ledernacken ... windet."

Dann ist er mit den Studenten marschiert, ließ sich berauschen von den revolutionären Theoretikern (und Sprücheklopfern), demonstrierte und agitierte fleißig gegen den Vietnam-Krieg und sammelte mit dem schlechten Gewissen eines heimlichen Pazifisten für die Tet-Offensive. Aber schon bald ödet ihn der Dogmatismus und die völlige Humorlosigkeit der Revolutionäre an. Nicht zu vergessen: Der terminologische Einheitsbrei, in dem seine kabarettistischen Kapriolen zu versinken drohen. Neuss auf einer Demo: "'Jeder, der den Springer liest, auch auf Vietnamesen schießt', tönte es von vorn. Gerade wollte ich den Spruch aufnehmen, kam schon ein neuer: 'Amis raus aus Vietnam!' Ich dachte den Satz zu Ende. 'Springer raus aus den Amis', schrie ich. 'Wirrkopf', sagte ein dicker Herr am Straßenrand."

Wenn die Kunst für tot erklärt wird (Kursbuch, 15/1968), ist eben auch der Kleinkünstler arbeitslos. Neuss zieht sich nach und nach aus der Öffentlichkeit zurück - verschwindet hinter Haschisch-Rauchwolken. Kontemplation bei 265 Mark Sozialhilfe. Und nebenbei beliefert er die Tunix-Bewegung mit flotten und manchmal auch flachen Sprüchen. Erst Anfang der achtziger Jahren beginnt er wieder regelmäßig zu produzieren. Die taz richtet ihm eine Kolumne ein, die in schöner Neuss'scher Tradition schon bald für Furore sorgt, u.a. weil er auch gegen einstige linke Weggefährten heftig stänkert. Zu einem eher skurrilen TV-Comeback kommt es noch einmal 1983 in der SFB-Talkshow "Leute", wo er einigermaßen stoned den kommenden Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker über den Haufen redet: "Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen."

Noch vor dem 75. Geburtstag, den Neuss im nächsten Jahr gefeiert hätte, erscheinen nun endlich die längst überfälligen "Gesammelten Werke". Volker Kühn, ein langjähriger Weggefährte, hat neben Zeugnissen zur Wirkungsgeschichte und Texten über den Künstler die lesenswertesten Satiren, Gedichte, Dialoge, Glossen, Sprüche, Interviews etc. zusammengestellt - und zwar aus allen fünf Jahrzehnten, die Neuss kabarettistisch überhöht, vielmehr erniedrigt hat. Die antifaschistischen und - nicht zu vergessen - antikommunistischen, eben "staatsreligiösen" Fünfziger-Jahre-Capriccios, von denen er sich später distanziert, werden ebenso dokumentiert wie Neuss' Anfänge als Schmierenkomödiant beim Militär, wie die später verfilmten Satiren "Wir Kellerkinder", "Genosse Münchhausen", die durchaus literarischen Fran ç ois-Villon-Adaptionen, die widerständigen Nummern aus den Sechzigern und natürlich die verhaschten Texte der siebziger und achtziger Jahre.

Vieles ist ˆ jour geschrieben. Die spärlichen, jedoch konzisen Kommentare Kühns erhellen zwar manche Pointe, die sich im Laufe der Jahrzehnte verflüchtigt hat, können aber natürlich nicht ihren einstigen Witz wiederbeleben. Wenn man erst einen Gag erklären muß ... Zudem ist Neuss vor allem ein Mann des gesprochenen Worts. Ohne die Pauke und den lauten, pampigen Vortrag des Advocatus Diaboli versagt doch so mancher Scherz. Allerdings bleibt dem Leser dann immer noch die symptomatische Lektüre. Neuss ist ein Phänotyp; er ließ sich mitreißen von den jeweiligen Zeitläuften und hat sich auf alles einen Reim gemacht. Seine "Gesammelten Werke" geben somit auch einen kurzweiligen Längsschnitt durch die deutsche Nachkriegsgeschiche ab.

Wolfgang Neuss: Der totale Neuss. Gesammelte Werke. Hrsg. von Volker Kühn. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 1997,
956 S., DM 33