Glotzen, kiffen, kalben

Heute: Moers. Von Michael Ringel

Mit dem Beitrag von Michael Ringel setzen wir unsere Serie "Öde Orte" fort. Autoren porträtieren Städte, die Sie weiträumig umfahren sollten. Die Texte erscheinen im Februar 1998 in dem von Jürgen Roth und Rayk Wieland herausgegebenen Buch "Öde Orte. Ausgewählte Stadtkritiken von Aachen bis Zwickau" bei Reclam in Leipzig.

Moers kommt von Moor, Moos, Morast - nicht nur etymologisch. In früheren Zeiten, als der Rhein noch kein festes Bett hatte, überschwemmte er regelmäßig die flache Landschaft auf seiner Westseite, so daß sich die zotteligen Ureinwohner mit ihrer Habe auf die wenigen trockenen Inseln im Fluß flüchten mußten, weshalb noch heute jeder verwarzte Huckel am linken Niederrhein ein Berg ist: Asberg, Essenberg, Scherpenberg ... - das Piz-Palü-Syndrom des Flachländers. Und der Rest ist Sumpf, ist Moers.

Ausgerechnet Odysseus, der offenbar auf seinen Irrfahrten nebenbei die halbe Welt erschuf, soll um 1000 v.u.Z., nach der im Jahr 98 u.Z. verfaßten Germania des Tacitus, "Asciburgium", den späteren Stadtteil Asberg, gegründet haben, der tatsächlich ab 11 v.u.Z. ein Römerlager beherbergte. Alle sind sie im Laufe der vergangenen 2 000 Jahre durch Moers gezogen: Römer, Spanier, Oranier, Franzosen, Belgier, Amerikaner Ö - doch keiner ist geblieben, bis auf die Preußen, die sich beim schollentreuen Moerser als einzige wohl fühlten.

Die ehemalige Grafschaft Moers liegt zwischen Rhein und niederländischer Grenze nördlich von Düsseldorf und ist auf Grund ihrer 106 000 Einwohner (Stand 1996) die kleinste Großstadt Deutschlands, wie die Behörden verdächtig oft betonen. Denn mit dem Status einer Großstadt sind finanzielle Zuwendungen aus der Landeskasse Nordrhein-Westfalens verbunden, weshalb man keinem Zahlenspiel aus dem Weg geht und sich gern mal was zurechtbiegt. Um nicht unter die Hunderttausender-Marke zu rutschen, produziert denn auch der obrigkeitsgetreue Moerser soviel "Blagen" wie möglich. Wahrscheinlich wird nirgendwo in Deutschland so fleißig gekalbt, überall rabääähen "Osel" aus ihren Plastikwindeln heraus in die Winkel und Gassen der klein gebliebenen Stadt.

Auf ewig eingebrannt in das Gedächtnis des Moersers aber ist die Furcht vor dem Fluß, obwohl der seit Jahrhunderten kilometerweit entfernt fließt, so daß nur in einer besonders stillen Nacht die dunkel warnenden Schiffshörner zu hören sind, mit deren Tuten man den Kindern auch heute noch ihre heimatliche Sprache austreiben tut: "Tuten tun tut nur der Rheinschiffer."

Alles Fließende, Neue, Fremde ist dem bewegungsfaulen Moerser ein Greuel, wobei er die "Escheks" oder "Spalucken", wie er Ausländer nennt, nicht einmal dumpf ablehnt, sondern lieber unerbittlich assimiliert. Der polnische, italienische oder türkische Bergarbeiter mußte sich in der Meerbecker Zechensiedlung dem stadteigenen Rhythmus anpassen und trägt deshalb nach Schichtende mit Ledersandalen, kurzer Cordhose und Feinrippunterhemd längst die ortsübliche Feierabendkleidung, wenn er im Campingstuhl auf seinem teppichglatt gemähten Vorgartenrasen sitzt oder durch die Sehschlitze der bereits am Nachmittag herabgelassenen Jalousien wie nur ein Moerser das Straßenbild überwacht.

Um aber dem immerwährenden Kommen und Gehen wenigstens ein Bollwerk entgegenzustemmen, wird seit zirka 2 000 Jahren SPD gewählt, die sich als unverrückbar regierende Partei dankbar eingerichtet hat in einem Morast aus Kommunalbürokratie, evangelischen und sozialdemokratischen Interessen - was fortlaufend ein derart preußisch-protestantisches Provinzklima erzeugt, daß sich noch nie ein über die Region hinaus irgend beachtenswerter Gedanke zu entfalten vermochte. Manche Moerser Figur mag man noch kennen: den pfiffig seichten WDR-Fußballreporter Wilfried "Fifi" Luchtenberg; den stets gequält dreinschauenden, weil offensichtlich von seinen Kirchengeschäften vollkommen zerrütteten, ehemaligen Bundesjustizminister und EKD-Ratsvorsitzenden Jürgen Schmude; den meist englisches Deutsch nuschelnden Hippie-Musikanten und lebenslangen Dylan-Imitator Danny "Ada" Dziuk; oder den erzensten aller Erzschurken, den sumpfdummen Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch, der sich in den sechziger Jahren zum "schwarzen Schaf vom Niederrhein" verklärte, um in den Neunzigern für diese dreiste Gesinnungsattitüde nicht nur die höchste Auszeichnung der Stadt, den Goldenen Ehrenring, zu erhalten, sondern auch einen quasi für ihn ausgelobten und mit 20 000 Mark dotierten AOK-Preis des Kreises davonzutragen - ins domkatholische Köln, wo das Ex-Schaf mittlerweile als teilzeitseniler Hirte lebt und auf Einladung diverser Kirchen von Kanzeln herab predigt.

"Moers - keiner stört's" ist denn auch der Wahlspruch des Ortsansässigen, der, statt zu denken, tunlichst seine Lieblingshaltung annimmt: Glotzen. Und so steht er die meiste Zeit des Tages an seinem angestammten, wenn nicht bereits gemieteten Platz in der Fußgängerzone: mit breit geöffnetem Maul, die Einkaufstüten unter die Achseln geklemmt, damit er die Finger zum Popeln oder Fuchteln frei hat. So stiert es sich leichter in den Strom der Passanten. Und sollte mal ein "Kaaskopp" aus Holland nach dem Weg fragen, wird wortreich die falsche Richtung gewiesen, denn die erste Tugend des Moersers lautet: Er weiß nichts, kann aber alles erklären.

Flieht angesichts solcher Verhältnisse ein hier beheimateter Jugendlicher nicht sofort nach Erreichen der Volljährigkeit aus der Stadt, muß er zum bemoosten Alt-Hippie werden, der sich ganz dem klassischen Freizeitsport des Niederrheiners verschreibt: dem Haschischrauchen. "Die Wohn- und Einkaufsstadt mit Flair" (Eigenwerbung) liegt nämlich wegen ihrer Nähe zu den Niederlanden in einer der breitesten Drogeneinfuhrschneisen des Westens. Jeder ranzige Fusselkopf hat seine "Connections" nach Venlo, Nijmwegen oder Amsterdam, wo man als Heranwachsender traditionell zum Kiffer ausgebildet wird, falls man es nicht im nahegelegenen Homberg bei Freunden aus dem Kifferschinderheim, äh: Schifferkinderheim gelernt hat.

Und so fällt denn einmal im Jahr zu Pfingsten für vier Tage und Nächte eine Horde von 50 000 Menschen in die Kleinbürgerhölle ein, um das seit 1972 installierte "New Jazz Festival" zu besuchen. Am Rande des großen Festivalzeltes im Schloß- beziehungsweise Freizeitpark entsteht dann eine riesige, von "Jatzern" bevölkerte Campingstadt, die spätestens samstags dank des pünktlich zu Pfingsten einsetzenden Dauerregens im Schlamm versinkt und sich zur verkrusteten, von Räucherstäbchen, Fußschweiß und Gras ("echt Kolumbien") eingenebelten Zentrale des Muffs entwickelt. Seit 26 Jahren ist das "New Jazz Festival" laut Eigenwerbung "trendsettender Dauerbrenner", weil es immer wieder gelingt, mit seltsam quietschenden und knarzenden Instrumenten ausgerüstete Jazz-Musiker aus aller Welt in das Städtchen zu locken, die denn auch vielerlei Zinnober hervorbringen: Für 1997 zum Beispiel war laut Programminformation "Commander Brenken mit seiner militärischen Eingreiftruppe" angekündigt, der gemeinsam mit dem WDR "einen Luftangriff auf die irdischen Radiohörer startet. 'In the air' - das heißt aus zehn Heißluftballons" rabauken und rabustern "Ghettoblaster und Transistoren live über den Sender, der sich ..." - aus Haß? Wut? Verzweiflung? - " ... aus Liebe zum Moerser Publikum mit diesem Hör- und Sehspektakel zu diesem bisher aufwendigsten Projekt in der Festival-Geschichte entschied". Da das von der zuständigen Anstalt betreute "Projekt" wegen der Pfingstgewitter in letzter Minute scheiterte, durften in einem eigens auf dem Festivalgelände festgezurrten "Projektzelt" alle Arten privaten Schnickschnacks veranstaltet werden - bis der Moerser rauchte vor Begeisterung und selbst den New Yorker Saxophonisten James Chance beklatschte, dessen Laufbahn mit dem Ende der Punk-Ära zwar längst ihrem Ende zugegangen war, der hier aber sein verspätetes und nur um so dankbareres Provinzpublikum fand: "Nach 15 Jahren taucht der Komet des Punk-Jazz wieder in den Orbit ein. Und der Orbit heißt in diesem Jahr Moers." Vom Sumpf in den Orbit - eine steile Karriere. Respektive wie man im regionaltypischen Slang zu sagen pflegt: Wat enne dampfende Kack.

Doch um nicht ungerecht zu sein - Moers hat oder hatte vielmehr auch immer schöne Seiten, nachgerade bezaubernde Plätze und Menschen: so das Naturschwimmbad Bettenkamper Meer mit seinen landalten Holz-Umkleidekabinen, in denen nach geläufiger Sitte die erste Liebe schwitzt. Oder den zentral gelegenen Busbahnhof Königlicher Hof, von welchem aus man Moers zu jeder Zeit verlassen kann.

An erster Stelle wäre da allerdings das eigentliche Zentrum der Stadt, ein Ort von nahezu mystischem Rang: das in der Homberger Straße gelegene Hopfenhaus, eine altgediente, schon zu Resopalzeiten betriebene Stätte bürgerlichen Trunkes, in der eine resolute, von ihren Gästen nur liebevoll "Witwe Bolte" genannte Wirtin seit Jahrzehnten regierte. Ab vier Uhr nachmittags standen am Holztresen Arbeiter, Handwerker, Angestellte, Beamte, Staatsanwälte, Rentner und andere verdiente Kräfte des Stadtlebens beieinander. Für zwei, drei Stunden tranken sie jeweils etwa 17 Gläser Bier bis "Deckel auf". Denn Witwe Bolte, die ihr Trinkgeld meist dem auf der Theke stehenden kleinen Holzschiff des Seenotrettungsdienstes überantwortete, zapfte nach alter niederrheinischer Art: Ist nur noch ein Boden Bier im Glase, kommt sofort und rapido ein neues - solange der Gast nicht widerspricht; will oder kann er nicht mehr, legt er den Bierdeckel drauf.

Nie durfte es dem Gast an Bier mangeln, sei's am regional althergebrachten und weiblichen Alt, sei's am vermeintlich moderneren und männlichen Pils. Während in der darüberliegenden Etage der lokale Fußballverband sein oft beklagtes Unwesen trieb und Schiedsrichter für die Wochenendpartien der Kreisklassen zuteilte, wurden im Schankraum nicht nur die Geschäfte des "Sparklubs" verhandelt, sondern vor allem die hiesigen Zustände: "De' Hein, de' kommt gar nich' mehr. Wat macht de' für Spökes? Is' der wieda im Krankenhaus?" - "Im Krankenhaus hab' ich g'rade 'nen holländischen Lastwagenfahrer verhaftet, weil der auf der Autobahn gewendet hat. Volltreffer: eine tote Frau".

Kurz vor sechs Uhr endlich sprang die Tür auf, und das Ereignis selbst betrat die Gaststätte: "Tach zusammen!" Otto Bolte schlurfte herein. Ein Denk-, ja Mahnmal von einem Wirt, mit einem Bauch in Bierfaßgröße, den seine Gäste unter Hallogeschrei begrüßten, während er still kopfnickend die Huldigungen entgegennahm. Ein Mann, ein Raum. Zunächst bedachte Otto Bolte seine Frau mit einem liebevollen Kuß, dann übernahm er die Macht hinterm Tresen, und die Welt war endgültig gerettet. Nie zapfte einer schöner und schneller Bier - bis vor einiger Zeit die schreckliche, tieftraurige Nachricht in der Stadt verbreitet wurde: Bolte tritt von seinem Amt zurück und nimmt die ewige Witwe mit in den Ruhestand.

Und wo war er, der Aufschrei des Entsetzens? Dem sonst so verquakten Moerser verschlug es die Stimme. Nie mehr Hopfenhaus, die letzte Insel inmitten des Sumpfes ist untergegangen, der Tresen auf ewig verwaist. Otto und die Witwe Bolte - all ihre Geschichten werden verloren sein in der Zeit wie Tränen im Regen.

Michael Ringel lebt in Berlin und ist Redakteur der Wochenzeitung Freitag.

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