Süßer Hauch des Todes

In Antonio Tabucchis Kriminalroman "Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro" spielt die Stadt Porto nur eine Nebenrolle.

Wer einmal wirklich den Hauch des Todes spüren möchte, sollte in der nordportugiesischen Stadt Porto die 68 Meter hohe "Ponte D. Lu'z I." überqueren. Auf der von einem Gustave-Eiffel-Schüler um die Jahrhundertwende erbauten, stählernen Brücke rasen pausenlos Autos an Fußgängern vorbei, die, ihrerseits nur eine Armlänge von den Fahrzeugen entfernt, gegen den heftigen Meereswind ankämpfen. Das Heulen des Windes mischt sich mit einem entsetzlich metallischen Knirschen, wenn die Radkappen der Autos an den Bordsteinkanten des Gehsteigs entlangschrappen. Um dem gefährlich nahekommenden Verkehr auszuweichen, muß man sich an das viel zu niedrige Geländer klammern und blickt auf den in der Tiefe dahinfließenden Rio Douro.

Am rechten Ufer liegt die Ribeira, das kasbah-artig verwinkelte Altstadtviertel, am linken der Portweinhafen von Vila Nova de Gaia, mit den großen Kellereien Sandeman, Taylor oder Ca'lem. Vor den Kais ankern unter vollen Segeln die Rabelos, als sollten die alten Portweinbarken mit ihren schwarzen Eichenfässern an Deck im nächsten Moment ablegen und mit einer Ladung Särge nicht den Douro, sondern den Styx in Richtung Hades hinabsegeln. Hinter den Kellereien und den bei Nacht erleuchteten Namenszügen der Portweinhändler laufen Junkies mit Spritzen im Arm geschäftig durch ihre Gasse. Glücklich auf der anderen Seite angelangt, sollte man denn auch, um die angeschlagenen Nerven zu beruhigen, in einem der Ufercafés ein Gläschen weißen Port zu sich nehmen - am besten bei Sandeman.

Das ist natürlich nur ein Klischee, produziert von einem Nordeuropäer, der vielleicht zu viele viktorianische Romane gelesen hat, in denen der süßliche Portwein jedesmal dann aufgetragen wird, wenn die nächste Leiche zum Dessert vorliegt. Doch trifft dieses Klischee eher zu als jenes vordergründig auf realistisch getrimmte Bild der Stadt Porto, wie es der italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi in seinem (ersten) Kriminalroman entworfen hat. Ausgangspunkt des Romans war eine Zeitungsnotiz über eine Leiche ohne Kopf. Ein Mord, der tatsächlich am 7. Mai 1996 in Lissabon geschehen ist. Schon das Datum zeigt, wie schnell Tabucchi geschrieben haben muß oder bereits Vorhandenes auf den dann gefundenen Anlaß zugeschnitten hat. Schnell genug jedenfalls, daß der Roman rechtzeitig zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse mit dem Schwerpunktthema "Portugal" auch auf Deutsch vorliegt. Tabucchi lehrt an der Universität von Siena portugiesische Sprache und Literatur, und viele seiner Erzählungen und Romane sind in Portugal angesiedelt wie etwa "Wer war Fernando Pessoa?" aus dem Jahr 1992 oder "Lissabonner Requiem" von 1994.

"In Porto wird gearbeitet, und in Lissabon gelebt", sagt ein portugiesisches Sprichwort. Die Stadt Porto, die nach Lissabon "ewige Zweite" im Land, ist trotz des historischen Ambientes, das die UNESCO zum "Patrim-nio Mundial", zum schützenswerten Weltkulturerbe erklärt hat, eine moderne vom Hafen und den Überseeverbindungen geprägte Handelsstadt mit Banken und Reedereien sowie einem Internet-Café, das aussieht wie eine verkleinerte Kopie des NASA-Raumfahrtzentrums. Doch kann die betriebsame Handy-Atmosphäre kaum das katholisch-morbide Wesen der Stadt verbergen, das in Europa allenfalls noch im italienisch-österreichischen Triest seine Entsprechung findet, weshalb es keine schlechte Entscheidung von Tabucchi war, seinen Kriminalroman "Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro" nach Porto zu verlegen.

Am Ufer des Douro findet Manolo "El Rey", der König der Zigeuner, beim morgendlichen Wasserlassen eine Leiche ohne Kopf. Vom Chefredakteur der kleinen Lissabonner Boulevardzeitung Acontecimento wird der junge Reporter Firmino nach Porto geschickt, um den Fall zu recherchieren. Firmino haßt Porto, das im Winter neblige und im Sommer schwüle Klima, und besonders das Speisenangebot, das - in diesem Roman - ausschließlich aus Innereien, Kutteln und Kaldaunen, besteht (Reisende wissen es besser). Der Reporter kommt in einer kleinen Pension bei Dona Rosa unter, die jeden kennt und ihm bei seiner Recherche hilft, vor allem aber zu einem dicken Anwalt schickt, den man in Porto aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem englischen Schauspieler Charles Laughton nur "Loton" nennt. Firmino spürt einen Freund des Toten und die Firma auf, in der Damasceno Monteiro beschäftigt war. Die Ex- und Importfirma "Stones of Portugal" handelt nicht nur mit Marmor, sondern schmuggelt auch Drogen aus China nach Porto. Ein Geschäft, von dem hauptsächlich die "Grüne Grille", ein korrupter Polizeioffizier, profitiert, dem der kleine Ganove Monteiro in die Quere kam.

Alles in allem eine eher unsolide Handlung, in der der Täter schnell auszumachen ist und bald jede Spannung verloren geht. Tabucchi hat denn auch versucht, die dünne Kriminalerzählung mit allerlei literarischer Diskussion anzureichern. Der am Werk des deutsch-jüdischen Rechtsphilosophen Hans Kelsen geschulte Anwalt Loton interessiert sich als Humanist für mehr als nur die Juristerei, zitiert ausgiebig Kafka und verwickelt den jungen Reporter, der, statt als Journalist zu arbeiten, lieber ein Buch über den Einfluß der italienischen Neorealisten auf die portugiesische Nachkriegslitertur schreiben möchte, in schier endlose Dialoge über die Romantheorie von Georg Luk‡cs. In diesen vorgeblich dialektischen Disputen kommt uns der Literaturwissenschaftler Tabuccchi derart banal daher, daß man fast an eine Parodie glauben möchte. Wenn Tabucchi Luk‡cs ins Spiel bringen will, läßt er prompt seinen Anwalt sagen: "Und hier können wir vielleicht auch ihren Luk‡cs ins Spiel bringen." Und der literaturbegeisterte Nachwuchsjournalist muß so präzis wie möglich fragen: "Luk‡cs?" "Realismus, antwortete der Anwalt, Realismus, ich würde mich nicht wundern, wenn sie ihn heute abend trotz allem gut gebrauchen können." Denn am Abend recherchiert der naive Firmino im Rotlichtmilieu. Mit Luk‡cs ins Bordell, eine verdrückte Pointe!

Auch gelingt es Tabucchi nicht, mehr als nur eine Porto-Kulisse entstehen zu lassen. Sicherlich kennt der Autor die Stadt und hat recherchiert, es unterläuft ihm kein Fehler, wenn er seinen Helden auf Exkursion schickt. Und vielleicht ist es eine besondere Form der Ironie, wenn Tabucchi den Protagonisten mit einem Reiseführer durch die Stadt laufen läßt und den Autor Helder Pacheco lobt, der "nicht nur eine enorme Sachkenntnis besaß, sondern auch eine grenzenlose Liebe zu Porto an den Tag legte". Doch erscheint die Stadt wie am Reiseführer entlanggeschrieben: Hier wird ein berühmtes Café umständlich verschlüsselt, dort die zentrale Einkaufsstraße angedeutet, und selbstverständlich muß ein Anwaltsbüro in einer der schönsten historischen Straßen Portos liegen. An jeder Stelle wird die Absicht deutlich, gerade noch genug Informationen auszugeben, um einen Hintergrund entstehen zu lassen, gleichzeitig aber die weltbekannten, vor allem von Touristen angesteuerten Orte zu umkurven. Sobald etwas geschieht, flüchtet Tabucchi an den Rand der Szenerie, die meisten Handlungsorte liegen an der Peripherie: Die Leiche wird draußen vor der Stadt in einem Wald gefunden; die Firma, die den Drogenschmugglern als Tarnung dient, hat ihren Sitz auf der anderen Seite des Douro in der Schwesterstadt Vila Nova; der Drogenumschlagplatz ist eine Bar abseits der Stadt an einer Promenade. Eine Strategie, die im Bemühen Klischees zu vermeiden, die banalsten Klischees erzeugt.

Man sollte einem Autor nicht vorwerfen, daß es in einem Kriminalroman, der sich um Rauschgiftschmuggel dreht, merkwürdig clean zugeht. Aber vorwerfen sollte man ihm, daß er das Drogenmilieu Portos an die stadtferne Strandpromenade verlegt und zwar in eine Bar mit dem selten dämlichen Namen "Puccini's Butterfly": "Das ist der richtige Ort, wenn man sich ein wenig down fühlt, oder nicht? Das ist der richtige Ort, um sich aufzumuntern." Denn nur wo "Puccini-Melodien" erklingen, da ist Portos Drogenzentrale, in der der Held minutenschnell alles über die Halb- und Unterwelt erfährt: "La Bohème ist genau das richtige, kicherte er, das ist die richtige Musik, um wieder in Fahrt zu kommen." Ja, man sieht es vor sich, wie sich der Junkie-Bohemien zu "Che gelida manina" seine Nase pudert - was für einen Quark hat Tabucchi in vollkommener Ahnungslosigkeit, oder schlimmer noch, bewußt für die sicherlich anstehende Verfilmung hier eigentlich angerührt?

Am 22. September dieses Jahres gesteht in Lissabon ein Polizist die (reale) Tat, die zum Ausgangspunkt für den Roman wurde. Er habe während eines Verhörs einen Drogenabhängigen erschossen, dessen Kopf abgetrennt und den Körper vergraben. Ganz so wie ihm Roman beschrieben. Die italienische Presse jubelte. "Der Killer, der Tabucchi die Ideen gab, gesteht", schrieb die Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera, die sich völlig überrascht zeigte ob der Tatsache, daß ein an realen Fakten orientierter Kriminalroman dieser naheliegenden, möglichen Lösung des Falls vorgreift. Überraschender ist da schon, daß Tabucchi wenigstens einmal im Roman den wirklichen Gegebenheiten nicht ausweichen kann, wenn er den Anwalt Loton sagen läßt: "Wußten sie übrigens, daß Portugal in den Verkehrsunfallstatistiken an erster Stelle liegt? Die Portugiesen fahren offenbar wie die Verrückten". Tatsächlich - der Versuch, in Porto eine Straße zu überqueren, ist ein echtes Todesspiel, auf jeden Fall spannender als Tabucchis Versuch, einen Kriminalroman zu schreiben.

Antonio Tabucchi: Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro. Hanser, München 1997, 251 S., DM 39,80