Buletten für die Moderne

Die Meistersatiren des türkischen Autors Aziz Nesin

Wenn ein satirischer Autor als "moralische Instanz" und intellektuelles Gewissen" der Nation gilt, wird man natürlich mißtrauisch. Wenn es dann noch heißt, er kämpfe ausgerechnet und originellerweise "gegen Heuchelei, Intoleranz und Ignoranz", so klingt das verdächtig nach dem üblichen Kabarett- und Satiriker-Schema F. Aber: Was in Deutschland heute wie eine Pose wirkt, kann anderswo tatsächlich politisch richtig, notwendig und entsprechend selbstgefährlich sein - in der Türkei zum Beispiel. Der Satiriker Aziz Nesin, der 1995 achtzigjährig starb, wurde unzählige Male verhaftet, verbrachte fünfeinhalb Jahre im Gefängnis, und die Zeitungen, die seine Satiren druckten, wurden immer wieder verboten.

In der Türkei ist er populär. In Deutschland kennt man höchstens seinen Namen, denn der ging im Juli 1993 durch die Presse, als islamische Fanatiker ein Hotel in der anatolischen Stadt Sivas anzündeten. 37 Menschen starben, Nesin entkam über die Feuerleiter. Weil er den religiösen Fundamentalismus bekämpfte und für Meinungsfreiheit inkl. Salman Rushdie eintrat, fand Nesin hierzulande einiges Medieninteresse. Sein Werk weniger.

Zu Unrecht, denn Nesins Satiren sind - bis auf ein paar Ausnahmen - keine altmodischen, altorientalisierenden Schwänke und Fabeln, sondern zeitbezogen. Er selbst bezeichnet seine Geschichten als "Gülmece", als "Satire und Humor in einem", und wirklich decken sie die Bandbreite von der augenzwinkernden Schilderung allgemeinmenschlicher Schwächen bis zum Spott auf politische und gesellschaftliche Übel ab - ohne daß dabei strafende Satire und humoristisches Einverständnis stets kristallklar zu unterscheiden wären.

Fünfzig Jahre Türkei zwischen orientalischen Traditionen und westlicher Orientierung kann man in Nesins Texten nachvollziehen. Man lernt die Sitten ebenso kennen wie die deutschen Geschäftsleute, die nicht zum Geschäftemachen kommen, weil sie von den gastfreundlichen Frauen ihrer türkischen Partner gemästet werden bis zum Platzen. Man lernt Redensarten kennen wie "mit der Taube nach der Ente werfen" und Begriffe wie die "Waisenration", d.i. eine besonders üppige Portion. Oder den "falschen Mann", der schon als Kind nicht weiß, welcher der Drillinge - Cetin, Ilkin oder Metin - er ist und dessen ganzes Leben sich als ein einziger Irrtum darstellt. Oder der strenggläubige Bekir Hodscha, der sich ahnungslos betrinkt und dem ganz neue Erfahrungen zuteil werden - eine groteske, an Wilhelm Busch erinnernde Geschichte und nicht nur eine einfache Satire auf eine weltfremde Geistlichkeit. Eben Gülmece.

Nesin beeindruckt - wie in dieser Geschichte - immer dann am stärksten, wenn er die alte Welt mit der Moderne konfrontiert und seine Lust an der Übertreibung ausagiert. Einen solchen Höhepunkt seiner komischen Kunst markiert auch die Geschichte über "Die Verordnung für fliegende Frikadellenverkäufer", die von elf völlig fachfremden Angestellten der Stadtverwaltung ausgearbeitet wird. Ein Ex-General beharrt auf Uniformen für die Verkäufer auch in der Freizeit; ein ehemaliger Orthopäde verlangt ein Attest über den makellosen Knochenbau der Händler, und ein Maler denkt sich Verordnungen über die Farbe der Frikadellen aus - bis am Ende eine 117 Artikel umfassende Verordnung auf dem Tisch liegt. Man sieht: Die Türkei ist offenkundig ein modernes Land. Moderne Autoren hat sie auch.

Aziz Nesin: Ein Verrückter auf dem Dach. Meistersatiren aus fünfzig Jahren. Hrsg. und aus dem Türkischen übersetzt von Yüksel Pazarkaya. Beck, München 1996, 312 S., DM 46