Dorfkino

Meine Familie war in der Filmfrage völlig uneins. Opa und ich liebten Filme, meine Eltern gingen ins Kino, weil sonst nichts los war, während Oma der Filmbranche ablehnend gegenüberstand. Sie äußerte sich dahingehend, daß die Leute nur auf dumme Gedanken kämen; beispielsweise sei Küssen auf dem Lande früher völlig unbekannt gewesen und eine brotlose Kunst, und jetzt stünden die Knechte und Mägde herum und knutschten sich ab, statt zu arbeiten. Oma fand Sexualität ein notwendiges Übel und hatte ein ausgeprägtes, wenn auch nicht gerade fortschrittliches Klassenbewußtsein.

Einmal im Monat, am Sonnabendnachmittag, kam in einem graublauen Lieferwagen der Filmmann ins Dorf. Im kalten Saal der Gaststätte, nur ein bißchen erwärmt durch die rechts und links eingebauten Kuhställe, gab es nachmittags einen Kinderfilm und abends einen für Erwachsene, mit anschließendem Tanz. Was für Filme gezeigt wurde, war egal. Wenn es schon grönländische Underground-Filme gegeben hätte, wäre man dort auch hinmarschiert. Die Filme hießen meistens "Grün ist die Heide" oder "Die Dritte von rechts".

Mein erster Film war "Das Dschungelbuch", in einer alten amerikanischen Fassung. Danach bekam ich Alpträume wegen des Waldbrandes, und meine Eltern entschieden, daß ich das nächste Mal mit Opa hingehen sollte. Opa und ich weinten gemeinsam über das Schicksal von Bambis Mutter (obwohl Opa Ortsgruppenleiter gewesen war, oder auch weil, hatte er nahe am Wasser gebaut) und meistens hielt er mir die Augen zu, weil da auch ein Waldbrand drin vorkam. Draußen standen schon die Erwachsenen und warteten auf Sonja Ziemann und Rudolf Prack. Angelika, die Tochter des Schlachters - der Vater hieß Amandus und war auch für die Schulspeisung verantwortlich -

trug ihr Ballkleid auf einem Bügel vor sich her, damit jeder, auch wenn er den anschließenden Ball nicht besuchte, neidisch werden konnte. Das Kleid war lang und hatte einen sehr weiten Rock. Es heiße "Nju Luck", sagten die Frauen, die alle nur ihre kurzen Kriegskleider hatten oder umgearbeitete Brautkleider. Sie sagten außerdem, daß Angelika ein sowohl leichtes als auch spätes Mädchen sei (sie war 28) und wahrscheinlich ein Techtelmechtel mit einem Verheirateten hätte.

Wenn ich heute in einem Kino sitze, wo es warm ist, wo die Lichter langsam ausgehen, wo die Leute ganz normal angezogen sind und wo mitten im Film keine Kühe anfangen zu brüllen, dann denke ich immer, daß irgendwas nicht ganz richtig ist.