Goldhagen erfolgreich verdrängt

Der Begriff "Endlösung" im Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus

Der kürzlich erschienene dritte Band des "Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus" bietet einen Artikel zur "Endlösung" aus Kurt Pätzolds Feder. Durch seinen Einsatz in der Goldhagen-Debatte hat sich dieser den zweifelhaften Ruhm eines "Ost-Mommsen" (Matthias Küntzel u. a.) eingehandelt. Wer erwartet, daß Pätzold einen weiteren Beitrag zu Goldhagen liefert, sollte sich nicht vom Literaturverzeichnis, das Goldhagen nicht nennt, enttäuschen lassen: Er wird in Pätzolds Texttheater voll auf seine Kosten kommen, braucht aber etwas Geduld. Erst in der abschließenden "Zivilisationsbruch"-Szene taucht (der Name) "Goldhagen" im Laufe einer "Festaktrede" auf, als Gespenst eines traditionsmarxistischen Alptraums.

Im Artikel "Auschwitz" kritisierte Detlev Claussen Pätzolds Ansatz aus der Perspektive Kritischer Theorie als "Reduktion der konkreten historischen Erscheinung auf allgemeine rationalistische Erklärungsformen", die "in Subjektivismus und Personalisierung" umschlage. Nun werden eben diesem Ansatz siebzehn Spalten eingeräumt. Unter einem Stichwort, das, den Verweisen in den Artikeln "Auschwitz" und "Antisemitismus" im ersten Band nach zu urteilen, 1994 gar nicht vorgesehen war. Die Aufnahme des Begriffs "Endlösung" ist nach den Kriterien des Herausgebers, Wolfgang Fritz Haug, nicht unproblematisch. Berücksichtigung fanden neben den klassischen marxistischen Begriffen auch solche, "die den marxistischen Klassikern oder selbst den marxistischen Traditionen unbekannt waren oder zumindest noch kein Heimatrecht in diesen Traditionen gefunden haben", insofern sich in ihnen "Probleme der Epoche" artikulieren. Historische Ereignisse sollten behandelt werden, wenn sie "zu Begriffen geworden sind, in denen sich strategische Probleme und deren Reflexionen verdichten". Was hieße das bezüglich "Endlösung"? Zumal der Artikel feststellt, "eine Geschichte des geschichtsmaterialistischen Denkens über die E" sei "ein Desiderat geblieben".

Zunächst resümiert Pätzold auf fünfzehn Spalten nazistische Begriffsgeschichte, Genesis der Endlösung und Werdegang der historischen Forschung. Peinlich knapp und die Peinlichkeit des Sachverhalts verdoppelnd, fallen die Ausführungen zur marxistischen Analyse aus. Man habe "zur Geschichte des deutsch-faschistischen Antisemitismus, zu Judenverfolgung und -mord mehrfach publiziert". Doch "eine grundlegende Darstellung der E wurde (...) bisher nicht vorgelegt". Pätzold beklagt schlechte methodologische Voraussetzungen und verschweigt, worin sie bestanden.

Pätzolds Ausführungen zur Singularität der Endlösung bestätigen Claussens Kritik an der ML-Literatur und die Position derjenigen Linken, die - gestützt auf Goldhagen - den Reduktionismus des linken Mainstreams beklagen, den deutschen Antisemitismus funktionalistisch zu interpretieren und ihn als bloßes von "denen da oben" eingesetztes Mittel zum Zweck mißverstehen: "Die Einzigartigkeit der E ist nicht allein darin zu sehen, daß Machthaber eines Staates beschlossen, eine Gruppe von Menschen restlos auszurotten, diese Untat befahlen, organisierten, kontrollierten, ausführen ließen und derart ein (sic) geschichtlich beispiellose Untat, ein Verbrechen gegen die Menschheit, ein Ganzes in seiner Vielheit, ins Werk setzten; sie besteht zugleich in der Hypertrophierung einer imperialistischen Politik der Eroberung, Vernichtung und Ausrottung. Sie besaß ihre Vorläufer, doch verkörperten sich in ihr Kontinuität und Bruch." Nicht nur gibt es in dieser wortreichen Bestimmung unterhalb der "Machthaber", die "ausführen ließen", keine Täterinnen und Täter, die vollstreckten. Ebenso schwer wie diese entlastende Auslassung wiegt, daß Pätzold in seiner Bilanz des "Ganzen in seiner Vielheit" die Opfer ausklammert - es rächt sich, daß das Stichwort zur nazistischen "Endlösung der Judenfrage" einfach nur "Endlösung" heißt.

Auf dieser Grundlage nimmt Pätzold den Begriff "Zivilisationsbruch" auf. Der Begriff sei "mehrdeutig" und könne "in die Irre" führen, habe aber einen Vorteil: Er könne "einer überspitzt isolierenden Bestimmung der E als ein auschließliches Ereignis deutscher und jüdischer Geschichte entgegenwirken". Da ist es wieder: das unerträgliche und zu vermeidende "No Germans - No Holocaust". Und tatsächlich ist dank einer abstrusen philologischen Operation "Goldhagen" nicht weit.

Pätzold führt den Begriff "Zivilisationsbruch" nicht auf seinen Urheber, den Historiker Dan Diner, zurück. Auch verfolgt er den Begriff nicht zurück auf die Debatte um Götz Alys und Susanne Heims These von der "Ökonomie der Endlösung", in der Diners Überlegungen zum Zivilisationsbruch einen Gegenpart übernahmen. Die von Wolfgang Schneider herausgegebene Dokumentation der Debatte muß bei Pätzold nur pauschal - und damit falsch - als Beleg für die Positionen herhalten, die rationale Analyse der Endlösung bilde "eine Barriere zur Trauer". Nein, auch diese kritische Debatte zum Begriff "Zivilisationsbruch" umgeht Pätzold. Er führt den Begriff mit der Behauptung ein, daß er "Eingang in Festaktsreden fand (Habermas 1997, Festrede zur Auszeichnung von Goldhagen, ND, 13.3.1997)." Wie in einem psychoanalytischen Lehrbuch-Beispiel bildet das Verdrängte ein Symptom, in editorischer Pendanterie im Personenregister fixiert - die Wiederkehr des Verdrängten, in diesem Fall eine verzwickte symptomatische Auslassung (im doppelten Sinn).

Wolfgang Fritz Haug (Hg): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 3. (Ebene bis Extremismus) Argument, Hamburg 1997, DM 129 (Subskriptionspreis); DM 169