Tragic Anatomies

"Sensation - Young British Artists". In London stellen die YBAs aus

"Was würden Sie wohl von einem großen weißen Raum halten, in dem sich vier alte Frauen, ein stabiler Eichentisch, ein Fleischer-Beil und eine Stoppuhr befinden?" So lautete 1988 ein Themenvorschlag des damals 23jährigen Kunststudenten Damien Hirst für einen Workshop mit Jugendlichen und Rentnern, der im Rahmen der von ihm initiierten Ausstellung "Freeze" abgehalten werden sollte. Aus diesem Workshop wurde zwar nichts, dennoch gilt das damalige Spektakel von Hirst und 15 seiner Mitstudenten und -studentinnen in einer alten Londoner Lagerhalle an den Docks als Kult.

"Freeze" wird heute als Geburtsstunde der YBAs, der Young British Artists, angesehen, als die Auferstehung der britischen Kunst dreißig Jahre nach der Pop Generation - cool, ironisch, distanziert. Inzwischen, neun Jahre nach der legendären Ausstellung, haben die YBAs es endgültig geschafft, sich zu etablieren. Mit einem Plakat, auf dem eine Zunge die Spitze eines Bügeleisens berührt, wirbt die Royal Academy of Arts in London für die Ende September eröffnete Austellung "Sensation - Young British Artists from the Saatchi Collection". Daß dabei die Sammlung des größten Einzelsammlers der Insel, Charles Saatchi, eine schöne Wertsteigerung erfährt, ist vermutlich nur ein Nebeneffekt. Der Ansturm ist enorm. Neun der Absolventen des Goldsmith College in New Cross, im Südosten von London, die schon 1988 in "Freeze" zu sehen waren, sind hier wieder vertreten.

Zwischenzeitlich rumorte es in den Mauern des eher für einen gründlich-historischen Blick auf kanonisierte Künstler wie Goya, Manet und Giacometti bekannten Kunstvereins. Ausgelöst wurde die Aufregung durch Marcus Harveys Gemälde "Myra". Aus der Ferne betrachtet, handelt es sich um das auf knapp drei mal vier Meter aufgeblasene Polizeifoto der Kindermörderin Myra Hindley aus den sechziger Jahren. Erst bei genauerem Hinsehen wird die Struktur des bearbeiteten Bilds deutlich. Es besteht aus unzähligen Abdrücken von Kinderhänden. "Harvey hat den Schmerz in den Pointillismus gebracht", pathetisierte ein Kritiker.

Als ein Gericht Myra Hindleys Gefängnisstrafe heruntersetzte - kurz nach Eröffnung der Ausstellung -, liefen empörte Briten Sturm und bespritzten das Bild mit Farbe. Die Taten einer Kindermörderin dürften nicht Gegenstand der Kunst sein. Von dem Skandal um dieses Bild profitierte die Ausstellung. Keine PR-Agentur hätte eine öffentlichkeitswirksamere Kampagne erfinden können.

Ein besonderer Reiz von "Sensation" entsteht durch den Kontrast zwischen den viktorianischen Räumen der Royal Academy und den ironischen Bildern der Ausstellung, insbesondere den spektakulären Installationen. Damien Hirst zeigt mit Formaldehyd gefüllte Vitrinen mit eingelegten Tieren: ein riesiger Tigerhai ("The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living"), zwei zerschnittene Kühe und ein zerlegtes Schwein ("Some Comfort Fained from the Acceptance of the Inherent Lies in Everything" und "This Little Piggy Went to Market, this Little Piggy Stayed at Home"). Dinos und Jake Chapman stellen miteinander verwachsene Kinderschaufensterpuppen aus, die Nase durch einen Penis ersetzt, anstelle des Munds ein Anus. Sie sind nackt bis auf ihre Fila-Turnschuhe ("Tragic Anatomies", "Zygotic Acceleration, Biogenetic, Desublimated Libidinal Model"). Von den Chapmans stammen auch die an einen Baumstamm gefesselten männlichen Figuren mit verstümmelten Geschlechtsorganen - ein hyper-realistisches Goya-Zitat ("Great Deeds Against the Dead").

Mitten in einer riesiger Halle befindet sich auf einem niedrigen Podest der heimliche Mittelpunkt der Ausstellung - Ron Muecks "Dead Dead", eine Reproduktion von Muecks totem nacktenVater, detailgenau bis aufs Schamhaar. Der tote Vater ist kaum einen Meter groß, ein toter Baby-Papa. Die Besucher kommen wieder und wieder, weil sie sich der Wirkung nicht entziehen können. Eine kulinarisch-medizinische Video-Installation stellt Mona Hatoum vor: Ein Tisch, ein Gedeck und im Tellerboden ein Monitor - eine Mini-Kamera verfolgt den Weg der Nahrung vom Mund bis in den Magen der Künstlerin ("Deep Throat"). Mary Quinn hat sich fünf Liter Blut abgezapft und daraus eine Kopie ihres Kopfes angefertigt ("Blood Head"), nun bei minus neun Grad Celsius auf den nächsten Stromausfall wartet.

Selbstbilder solcher Art ziehen sich durch "Sensation", viele Künstler kehren ihr Inneres buchstäblich nach außen, machen sich zum Gegenstand ihrer Kunst. Auch deshalb gelten Gilbert & George als Paten der YBAs. Darauf angesprochen, antworteten sie, unbescheiden wie sie sind: "Sehr viele Leute sagen, daß wir einen sehr großen Einfluß auf alle jungen Künstler haben. Aber wir möchten anmerken, daß unsere Haltung nichts mit der ihrigen zu tun hat. Denn unsere Kunst ist emotional. Wir wollen die Leute zum Weinen bringen. Das ist der Unterschied. Sie, die jungen Künstler, sind zutiefst gegen die Emotion." Das allerdings beschreibt nur einen Teil der Exponate.

Die andere Hälfte der Ausstellung besteht aus eher unspektakulären Arbeiten, wie die nicht besonders aufregenden Erkundungen vergessener Räume von Rachel Whiteread, die beispielsweise ein altes viktorianisches Zimmer als steinernes Negativ, als Raumabdruck, vorstellt ("Ghost"), oder 100 Leerräume unter Stühlen nachbildet, die verblüffend an angelutschte Bonbons erinnern ("Untiteled. One Hundred Spaces"). Sichtbar werden so zwei widersprüchliche Tendenzen innerhalb der britischen Gegenwartskunst: "Sensation" bewegt sich zwischen spektakulär-aggressiven und unauffällig-kontemplativen Arbeiten. Doch rührt vermutlich gerade daher der Erfolg als Gruppe der in der Saatchi-Sammlung vereinten Künstler. Obwohl, oder vielleicht eben gerade weil ihre Werke hinsichtlich Stil, Material, Methode, Umsetzung wenig Gemeinsamkeiten aufweisen, bieten sie vereint ein abwechslungsreiches Spekakel: Bei Hirst schocken lassen, bei Whiteread erholen.

Aufgewachsen im Großbritannien der siebziger Jahre, als kultureller und politischer Idealismus langsam aber sicher verschwand, hängt diese Künstlergeneration einer Ideologie der Anti-Ideologie an. Sie glaubt weder an absolute Wahrheiten noch an die Fähigkeit des Künstlers, Einfluß auf die Gesellschaft ausüben zu können. Mark Sladen erklärt: "Der Gedanke, daß alle Kulturprodukte von einer zugrundeliegenden sozialen und ökonomischen Struktur erzeugt werden, ließ dich mit dem Gefühl zurück, daß das Individuum weitestgehend der Ausdruck einer Maschine ist, über die sie oder er keine Kontrolle haben."

Folgerichtig verkaufen die YBAs keine Ideen oder gar Visionen einer besseren Welt, sondern sich und ihre Werke. Sie bedienen sich eines häufig ironischen Hyper-Realismus, wobei ihnen jedoch ebenso häufig schöne, wenn auch manchmal sehr einfache Metaphern gelingen. Sie erzielen schnell Erfolg und Massenwirksamkeit durch visuelle Effekte - und zahlen dafür den Preis der zuweilen fehlenden Komplexität. "Einfach wie ein Pop-Song", schrieb ein Kritiker. "Gucken, verstehen, mögen." Dennoch: Der individuelle Eklektizismus ist reflektiert, ist mehr als eine zufälliges Arrangement des Gewöhnlichen.

Nachdem sie in Rekordzeit fast alle Widerstände ausgeräumt haben, sind YBAs und Markt ein unzertrennliches Paar. Vielleicht waren sie nicht die ersten, die sich nicht gegen diese Umarmung gewehrt haben. Aber sie zeigen auch keine Spuren von Scheu mehr, offensiv (und erfolgreich) zur Selbstvermarktung überzugehen.

"Sensation - Young British Artists from the Saatchi Collection". Royal Academy of Arts, London, Piccadilly. Bis 28. Dezember; am 25. Dezember ist die Ausstellung geschlossen.