Vorstadt mit Vorsatz

Eine Kindheit in Köpenick.

Die Stadtporträts erscheinen im Februar in dem von Jürgen Roth und Rayk Wieland herausgegebenen Band "Öde Orte. Ausgewählte Stadtkritiken von Aachen bis Zwickau" bei Reclam Leipzig.

Ah ja: So wacker und so vital-jovial also, so schlicht und aber auch so unfähig, einen halbwegs geraden Satz aufzusagen, muß er wohl traditionsgemäß auftreten, der von Amts wegen das Bezirksoberhaupt verkörpern darf in dieser Vorstadt, die "natürlich stolz darauf ist, seinerzeit von dem doch recht einfältigen falschen Hauptmann Vogt übertölpelt und der kompletten Stadtkasse - 4 000 Mark und 37 Pfennig waren darin - beraubt worden zu sein, und die dem fabelhaften Hochstapler erst unlängst ein Denkmal setzen ließ: dem eigenen Klein- und Untertanengeist zum ewigen Ruhme. Die es dabei aber auch nicht belassen kann, sondern außerdem ein "Hauptmann-Museum", "Stadtführungen, auch mit dem Hauptmann von Köpenick" und alljährlich das "Hauptmannspektakel" auf dem traditionellen Köpenicker Sommer ein- bzw. ausrichtet, auf daß die Kunde von der fortdauernden Subalternität der Stadtteilführungskräfte den herbeigelockten Besuchern bärengroß auf die Nase gebunden werde.

Die überdies nicht umhin konnte, eine Grundschule nach der vermaledeiten Figur zu benennen, den heftigen Protesten der Elternschaft zum Trotz, die es nicht hinnehmen mochte, daß ihre Kinder in einer Einrichtung festsitzen sollten, die unter dem Namenspatronat eines notorischen Kleingauners steht. Und die obendrein - man glaubt es nicht und will's schon gar nicht wissen - diesem zähen und albernen Renommierdreck noch die sogenannten "Köpenicker Weltwunder" meint beifügen zu müssen, die sieben an der Zahl und von wahrlich weltverwunderlicher Spaß-, Spieß- und Spukhaftigkeit: "1) Das Gefängnis befand sich in der Straße mit dem Namen 'Freiheit'. 2) Der Ratskeller befand sich im Obergeschoß. 3) Eine Frau, Adelheid von Flemming, gründete in Köpenick einen Jungmännerverein. 4) Im Jahre 1882 begann der Lehrer Maximilian Dummer seinen Schuldienst. 5) Als Arzt hielt ein Doktor Adolf Todt 28 Jahre lang den Köpenickern die Treue. 6) Das Krankenhaus stand an der Friedhofsmauer. 7) Seit 1871 hieß der Bürgermeister Gustav Borgmann, der zum Pensionsantritt eine wohlgefüllte Stadtkasse übergab." Ein Glück fürwahr, daß es nur sieben klassische Weltwunder und nicht 140 gibt, zweifellos hätten die komischen Köpenicker noch 133 weitere Minimirakel vorzuweisen. Denn so dubios-kurios und skrupulös weltbewegend geht's und ging's hier nämlich, über Jahrhunderte schon, immer zu und ab und jedem auf die Nerven. D. h. natürlich nicht jedem, sondern bloß manchen bzw., bei Licht besehen, den wenigsten - ja, Gott sei' s geklagt, kaum einem.

Nichts gegen die Köpenicker, einige meiner besten Freunde und nächsten Anverwandten sind durchaus Ächtung, äh: Achtung heischende Respektspersonen, doch der große Rest des Vorstadtschlages, nach jahrelanger Inspektion sei's kundgetan, ist allerdings komplett am Arsch und blöd. Menschen, die sich entschlossen haben, die Nachteile des Stadtlebens mit den Nachteilen der semiprovinziellen Abgeschiedenheit zu verbinden, und die alltäglich über eine Stunde "nach Berlin" und wieder zurück kutschieren müssen, um trinkbaren Wein und tragbare Schuhe einzuholen, können kaum auf Absolution hoffen, zumal sie's noch mit dem ominösen Stolz des vermeintlich Privilegierten tun. Das sogenannte richtige Leben im Falschen, nach Adorno noch den allermeisten im real existierenden Spätkapitalismus verwehrt, hier scheint's irgendwie doch vonstatten zu gehen. Richtiger lebt wohl niemand im Falschen als die richtigen Köpenicker in ihrem falschen Bezirksrevier. Falsch ist in der Tat alles, was sie haben und worauf sie "natürlich stolz" sind: vom oben erwähnten Schuster-Hauptmann bis zum Image von der "grünen Lunge" Berlins, die offenbar der völlig zerlatschte, überrannte und mehr und mehr versteppende Müggelwald vorzustellen hat. Falsch auch die Fischerkatenkiez-Romantik, welche bloß die unzumutbare Wohnqualität in den paar Häuserchen am Spree- und Dahmeufer kaschieren soll; ebenso falsch die Legende vom Künstler- und Dichterbezirk, die gepflegt wird wie sonst nur der älteste Hut, weil um die Jahrhundertwende ein paar Freunde des künstlichen Satzbaus (Bölsche, Hille) versehentlich in Friedrichshagen gelandet sind und weil nach dem Krieg Johannes Bobrowski die kümmerliche Tradition - vergeblich - fortzusetzen gedachte. Bekanntlich gibt's zwei Sorten Dichter und Künstler - diejenigen, die nach Köpenick kommen und folglich keine sind, und diejenigen, die aus Köpenick kommen und es demzufolge sehr, sehr schwer haben - wie z. B. ich -, die erlittenen Demütigungen späterhin durchzuarbeiten und sich der fatalen Prägung, die sie dem öden Stadtstrich verdanken, zu entledigen.

Ich wuchs auf bzw. wurde großgezogen im weltbekannten Allende-Viertel, einer kalt gekachelten und rechtwinklig zusammengestellten Neubausiedlung, die 10 000 Menschen Quartier bot - auf einem Platz, der für hundert Kleinfamilien nicht zu groß gewesen wäre. Die nicht eben weitläufigen Freiflächen zwischen den Häuserkästen belegten ein paar Schulen und Kindergärten, Frisör und Blumenladen, außerdem Kaufhalle, Clubgaststätte und Post - allesamt ausschließlich dem Utilitarismus verpflichtete Baueinheiten, die den Monokosmos bildeten, in welchem ich, umgeben von Vollzeitalkoholikern und enervierenden Nachbarn, verfolgt von harschen Lehrerinnen und hinterhältigen Hausmeistern und verprügelt von den mißratenen Schülern der älteren Klassenstufen, heranzureifen hatte. Ein Entkommen war nur möglich in Richtung der paar erbärmlichen Kiefernschonungen hinter den großen Parkplätzen oder in die verrottete Altstadt, die jedoch nach und nach abgerissen und durch immer verstopfte Hauptverkehrsstraßen ersetzt worden ist. O, Ohnmacht der jungen Seele, uh, Unort der Kindheit! Wenn nicht zwei Gerechte unter einem Dach leben können, wie dann 10 000 Ungerechte in dieser schönen neuen Plattenwelt? Wo die Wände nicht nur Elefantenohren hatten, sondern noch weitere Ausscheidungsorgane, durch welche Mensch und Haustier der oberen Stockwerke ihre Fäkalien auf die weiter unten durchregnen ließen - wofür sich diese wiederum revanchierten, indem sie Ratten und Mäusen freies Geleit nach oben sicherten. Mögen andere von ihrer güldenen Heimstatt sprechen, ich spreche von meiner güllenen - nein, das tue ich lieber doch nicht. Denn hier sollen nicht kleinbürgerliche Privatscharmützel und kummervolle Kindheitserinnerungen herhalten, den Ruf des in Rede stehenden Stadtbezirks zu blamieren.Dies muß auch ernsthaft nicht mehr extra erwogen und bewerkstelligt werden. Denn wenn Köpenick jemals irgendwas zu bedeuten, eine Art Ruf hatte, dann nicht als "Urlaubsparadies" (Eigenwerbung), Dichter-und-Denker-Heimstatt oder Weltwunderplatz, sondern als: Arbeiterbezirk. Nachdem aber ab 1989 nahezu alle ansässigen Großbetriebe stillgelegt und museal drapiert wurden - auf dem riesigen Gelände des ehemaligen Kabelwerks Oberspree (KWO), der Industrieruinen, ein ominöser japanischer Garten -, ist es Asche damit. Köpenick, speziell Schöneweide, der Arbeiterbezirk Berlins, existiert nicht mehr, ist praktisch ausgelöscht, weg. Und hat aber noch, im Gegensatz zu Kathargo, das nach dem dritten Krieg nicht mehr auffindbar war, oder Pompeji, das Generationen von Archäologen mühsam wieder freipinseln mußten, relativ gut erhaltene und teilweise bewohnte historische Anlagen vorzuweisen, die eine ausgiebige Besichtigung verlohnten. Doch eher landet eine Sonde auf dem Mars, als daß sich Pfadfinder hierher bemühen, die verbliebenen Gehäuse und ihre Bewohner zu beschauen.

Indes wäre es freilich nicht schade darum, wenn der Stadtteil ganz von hinnen ginge, ohne daß ein Aufheben davon gemacht wird. Ich würde es begrüßen, wenn nicht sogar fordern, allein schon einer Geschichte wegen, die all das bündelt und verdichtet, was diesen Stadtteil so unerträglich macht, und die vielleicht am Ende doch nicht vergessen sein sollte. Es handelt sich um den wohl gräßlichsten Verkehrsunfall des Zeitalters, bei dem ein Mann im Auto von einer Straßenbahnschiene perforiert wurde, die sich aus der Straße gelöst und Fahrzeugboden, Fahrersitz und Eingeweide des Opfers durchbohrt hatte. Ich stand dabei, zehn Jahre alt, in der Müggelheimer Straße, und sah die gespenstische Pfählung mit eigenen Augen. Tags drauf wurde die Schiene wieder festgeklebt, und alles fuhr, als wäre nichts geschehen, routiniert drüber weg. Nicht fort von diesem Unheilsort auf Nimmerwiedersehen. Nein, nur immer hin und her und raus und wieder rein. Rund um die Uhr, pausenlos, bis heute.

Nur ich hab's dann - und bin recht froh drum - doch vorgezogen, anderweitig abzuleben.

Rayk Wieland ist Redakteur der Monatszeitschrift konkret und lebt in Hamburg.

In der nächsten Ausgabe schreiben Eckhard Henscheid über die mittlere Oberpfalz und F. W. Bernstein über Berlin-Steglitz.