Ernst H. auf der Couch

Angeklagter will sich nicht an die Ermordung der Juden von Israilovka erinnern

Quälend schleppt sich die Befragung von Ernst H. dahin. Der 75jährige muß sich seit Dienstag vergangener Woche vor dem Kölner Landgericht wegen Beihilfe zum Mord an etwa 65 Juden und Jüdinnen und 20 sogenannten Mischlingskindern verantworten. Weil der ehemalige Kolchosarbeiter zum Tatzeitpunkt 19 Jahre alt war, wird vor der Jugendkammer verhandelt, vermutlich bis ins nächste Jahr hinein.

Zwei Tage lang versuchen Paul Schwellenberg und seine beiden Richterkolleginnen, Ernst H. zu Aussagen über die Ereignisse des Sommers 1942 im ukrainischen Israilovka zu bewegen. In einem verbalen Ringkampf mit dem Beschuldigten bemühen sie sich, Antworten zu finden, Geschehnisse zu rekonstruieren, Erinnerungen wachzurufen, zu begreifen. Ernst H. hilft bei diesem Bemühen kaum. In dürren Worten schildert er seinen Lebensweg. In den zwanziger Jahren wandern seine Eltern mit ihm und seinen vier Geschwistern von Westpreußen nach Israilovka aus. "Ein Judendorf", sagt er. Es klingt nicht abfällig, nur scheint für H. die Welt damals einfach gestrickt gewesen zu sein: Das "Judendorf", zwölf Kilometer entfernt ein "deutsches Dorf", ein "Ukrainerdorf", und auf der anderen Seite des Flusses das "Weißrussendorf". Die Familie H. lebt als Teil der "volksdeutschen" Minderheit - insgesamt sechs Familien - unter Juden und Jüdinnen. Unter jenen jüdischen Menschen, die später ermordet wurden und bei deren Ermordung Ernst H. den Mördern als Wachposten geholfen haben soll. Als Kind spielte H. mit den jüdischen Kindern des Dorfes, drückte mit ihnen die Schulbank in der jüdischen Schule. Erst als diese unter Stalin verboten wurde, besuchte er die ukrainische Dorfschule. "Dann ging's ans Arbeiten", berichtet er. In der Kolchose half er beim Pflügen, Eggen und Säen.

Die "Katastrophe", die ihn jetzt vor die Schranken der bundesdeutschen Justiz gespült hat, kam mit der deutschen Wehrmacht, die Mitte 1941 die Sowjetunion überfiel und schon im August Israilovka überrollt hatte. Danach heißt der Ort bis zu seiner Befreiung durch die Sowjetarmee "Steintal". Der 18jährige Ernst H. wird für eine Polizeischutztruppe rekrutiert und im nahegelegenen Bezirksstädtchen Ustinova stationiert. Im Juli 1942 erhält er mit seinen Schutzmannschaftskollegen den Befehl, ins sieben Kilometer entfernte Heimatdorf zu marschieren. Die verbliebene und bis dahin noch nicht ermordete jüdische Bevölkerung, etwa 65 Jugendliche und Frauen werden zusammengetrieben und abtransportiert. "Zur Arbeit" sei gesagt worden - daran erinnert sich der Angeklagte. Erst "Tage danach" habe er von deren Ermordung "durch die Blume erzählt bekommen". Daß auch die Kinder aus christlich-jüdischen Familien aus den Häusern geholt, ihren Muttern aus den Armen gerissen und in einer Mulde außerhalb des Ortes ermordet wurden, davon will er nichts gewußt haben. "Nein, nein", antwortet er auf die eindringlichen Fragen von Paul Schwellenberg, der immer wieder bei der Vernehmung sein Entsetzen und seine Fassungslosigkeit über das damals Geschehene ausdrückt.

Den einsilbigen, zähen Einlassungen stehen zahlreiche Zeugenaussagen von früheren Bewohnern von Israilovka entgegen. Alle sprechen davon, daß zwar der junge H. "nicht geschossen" habe, aber sowohl beim Abtransport als auch bei der anschließenden Erschießung der "Mischlingskinder" aus den jüdisch-christlichen Familien als Wachposten zugegen war. Der in sich zusammengesunkene Mann nimmt die Bedeutung dieser Aussagen augenscheinlich nicht wahr. Er reagiere wie ein "störrischer Esel", so Schwellenbergs Eindruck. "Sie wissen doch nicht, wie es damals war", entgegnet H. seinem Jugendrichter. Paul Schwellenberg insistiert: "Überlegen Sie noch einmal, vielleicht fällt es Ihnen wieder ein." "Da kommt nichts mehr, wenn Sie ihn auf die Kinder ansprechen", springt Verteidiger Walter Schönberger H. bei. "Der läßt das nicht an sich heran", erläutert er, "auch wenn er das im nachhinein als furchtbar empfindet."

Schwellenberg redet von Verdrängung, bemüht sich, die psychischen Mechanismen zu erläutern, die einen Menschen ein Ereignis aus dem Gedächtnis "verdrängen" lassen. Er baut dem pensionierten Lagerarbeiter goldene Brücken. Ernst H. betritt sie nicht. Als sei er nicht sein Richter, sondern sein Psychotherapeut, versucht Schwellenberg, H.s Vertrauen zu gewinnen. Er versichert ihm gar: "Niemand sieht in Ihnen einen Mörder." Schweigen. Der Richter wiederholt: "Wenn jemand ein Herz hat, und Sie haben doch zweifellos eines, dann will er sich manchmal nicht mehr daran erinnern, wenn so etwas Furchtbares passiert ist. Vielleicht hilft es Ihnen, darüber zu reden." Zögerlich und leise sagt der rundliche Mann: "Das war schon schlimm." Und quälende Minuten später: "Das war mehr als schrecklich, da habe ich heute noch Magenschmerzen."

Viel mehr läßt sich dem Vater zweier Töchter offenbar nicht entlocken. Akademisch gebildete Menschen reden im Saal 112 des Kölner Landgerichts auf den Beschuldigten Erich H., Jahrgang 1922, ein. Sie reden "von ihm" und "über ihn", aber es gelingt ihnen trotz allem zur Schau getragenen Einfühlungsvermögen nicht, "mit ihm" zu sprechen.