Rhein in Flammen

Bonn.

Die Stadtporträts erscheinen im Februar in dem von Jürgen Roth und Rayk Wieland herausgegebenen Band "Öde Orte. Ausgewählte Stadtkritiken von Aachen bis Zwickau" bei Reclam Leipzig.

Bonn, so teilen mir helle Köpfe mit, sei eigentlich nicht der Rede wert, und sich auf diesen Satz zu beschränken, stehe einer Bonn-Beschimpfung gut zu Gesicht. Die Häufigkeit jedoch, mit der solch ein Befund auch durch minder helle Köpfe Verbreitung findet, läßt ihn schon wieder suspekt werden. Bonn, so scheint es, ist die Stadt, die am hartnäckigsten nicht der Rede wert ist, der am ausführlichsten ihre Mediokrität und Langweiligkeit bestätigt, die am ausdrücklichsten der Mißachtung preisgegeben wird.

Mittelmäßigkeit, ja "Mittelmaß" (H. M. Enzensberger) und Langeweile - was soll einem anderes einfallen zu einer urbanen Siedlung, die auf der deutschen Städterangliste Platz 21 belegt (293 000 Einwohner), einer Beamten-, Rentner- und Studentenversammlung, in der sich Wohlstand mit dröger Wohlanständigkeit paart, eingerahmt von städtebaulichen Ensembles, die atmosphärisch nahe am bürgerlichen Wohnzimmer angesiedelt sind. Hier hat man seine Jugend verratzt, und das war's.

Trotzdem: Was heißt eigentlich "Bonn" bei näherem Hinsehen? Und "wo ansetzen?" (G. Grass)

Bonn liegt landschaftlich gediegen, ummantelt von Schlafstädten mit Namen wie Sankt Augustin oder Meckenheim, aus denen die arbeitenden Massen ins Stadtgebiet eindringen, und gen Köln hingestreckt, wo alles größer, interessanter und 20 Pfennig teurer ist. Bonn bietet Bürgerhäuser mit Schöner-Wohnen-Charme, auf deren Fensterbrettern Getreidemühlen-Sammlungen prangen, Altbauwohnungen, in denen fettbesprenkelte Topfpflanzen ihre Wurzeln durch Resopaltischplatten schlagen, und Wohnkomplexe, in denen soziale Konflikte mittels lindgrünen Fassadenanstrichs gebannt werden. Hier sucht man es nicht umsonst, das für deutsche Städte unentbehrliche Paulaner-Stübl, hier kann man sie studieren, die Gesetze des Dönerladen-Rotationssystems, und angesichts zahlloser geheimnisvoll verschlafener Registrierkassencenter, Getriebeölhandlungen und Copyshops darüber grübeln, ob hinter deren Schaufensterscheiben nicht bereits russische Mafiabanden ihren Geschäften nachgehen.

Breite Radwege führen zu ausgedehnten Grünflächen- und Parkbank-Assemblagen: Es herrscht Kontemplationszwang, und jene Gelassenheit wird eingeübt, die früher mal Wurschtigkeit hieß. Den Alltag reißen Rasenmähermänner an sich, Lehrerehepaare mit eingebautem Theater-Abo, odierende Karnevalsvereinsangehörige und obsttütenbepackte Matronen, die unartige Radfahrer vor dicke Busse schieben. Die Fähigkeit, Kölsch zu trinken und Stadtzeitungen zu lesen, gilt als guter und gangbarer Weg der Integration ins lokale Milieu. Dort angekommen ist die Bonner Jugend: 22jährige Cappuccino-Kenner, die, in grüne Cordjacken gegossen, scheitelschnittig signalisieren, daß sie jederzeit bereit sind, sich wie 50jährige aufzuführen; schnöselige Gymnasiastenseelen, die ihre gedrehten Zigaretten mit Prittstift verleimen; patinierte Körper, an denen zwecks Lebensgefühlssteigerung Hochplateauschuhe und Reflektorbrillen angebracht sind; sowie haltlose Jugendliche, die man "Szene" nennen und samt Obdachlosen, Junkies und anderen Freizeitparkbesuchern deshalb getrost polizeilich zur Räson bringen darf.

Will man Bonn wohl, dann beschaue man dieses Häuflein von Stadt am besten während einer Busfahrt - und lasse Bilder über Bilder vorbeiziehen: als Abglanz des betörend trivialen, fast schon verwehten Bonner Lebens. Und damit könnte das Thema Bonn erledigt sein.

Doch Bonn sträubt sich, wehrt sich gegen seine Erledigung. Bonn ist nicht nur jenes Problem, das viele andere Städte gleichfalls sind, es hat auch noch eins. Dieses Problem ist der vage Wunsch nach mehr - und die Unfähigkeit, diesem wahnsinnigen Wunsch zu entsprechen.

Der Wunsch existiert, seit Bonn die Ehre widerfuhr, Bundeshauptstadt sein zu sollen; von da ab sah sich Bonn mit der Häme ganzer Heerscharen ungenierter Journalisten, Politiker und Schriftsteller konfrontiert. Bonn, so tönte und dröhnte es Jahr um Jahr, könne den an eine Bundeshauptstadt gestellten Erwartungen nicht gerecht werden, Bonn könne gar nichts, sei "Provisorium" (J. le Carré), unechte Kapitale, ihr fehle das Metropolitane, die herrschaftliche Ausstrahlung, Bonn sei in seiner runden Mäßigkeit überhaupt eine ziemliche Zumutung, BONNDORF KUHDORF, Schluß! Aus.

Wobei, wäre hinzuzufügen, solchen Vorwürfen weniger die Kritik an der glanzlosen Dumm- und Verlorenheit Bonns als vielmehr reaktionäres und nur notdürftig sublimiertes Machtstreben der Kritiker zugrunde lag, die anstelle Bonns eine Hauptstadt der Prachtstraßen, Siegesalleen und Paläste imaginierten, eine Hauptstadt monumentaler Inszenierungen, in Stein gemeißelter Glorie und deutsch-nationaler Großkotzigkeit.

In Bonn nahm man's sich freilich zu Herzen, und just das Haltlose jener Anwürfe brachte das erbarmungswürdige, mühsam tarierte Bonner Leben aus dem Gleichgewicht. Der Wunsch nach Größe, der Traum, etwas (und wurscht was) zu gelten, sie beherrschen seither das Bonner Denken. Die Stadt sieht sich in eine fast manische Hin- und Hergerissenheit zwischen Verzweiflung und Selbstverteidigung, Unterwürfigkeit und Trotz, Wohl und Wehe versetzt: Wo soll es langgehen? Und warum? Wer bist du, Bonn?

Man weiß und wußte es nicht, und doch versuchte man sich gelehrig zu zeigen. Man buhlte um den Respekt und die Zuneigung der Lästerer und tat, was wohl getan werden mußte. Also schmückte und schminkte man das Antlitz der Stadt und ließ Staatsoberhäupter vor einem staatsmännisch grinsenden Bürgermeister aufmarschieren; man gab sich kulturbeflissen und baute Kulturtempel, Kulturbahnhöfe und eine postmodernisierte Museumsmeile; man gab sich weltoffen und gewandt, zerrte die im Stadtgebiet lebenden Diplomaten auf internationale Straßenfeste, förderte mit paternalistischer Generosität "alternative Projekte" und feierte die in Straßencafés herumlungernden Spitzbärte als Bonner Bohème. Man ersann das Wort "Erlebniswert" und entwickelte zwecks Steigerung just dieses "Erlebniswertes" neue "Events", schuf den "Bonner Sommer", erfand "Rhein in Flammen", "Rheinkultur" und Rheinschiffahrt und ortete in Bonn jene rheinische Fröhlichkeit, die irgend etwas mit dem französischen Savoir-vivre zu tun haben sollte.

Als dann Bonns Regierungsfunktion wegfiel, hätte das ganze Theater eigentlich mit einem Schlag aufhören können, mußte man doch nicht mehr sein, was man noch nie war. Indes, die Sehnsucht nach großstädtischem Glanz schien mittlerweile in eine wahre Religion übergegangen zu sein: Jeder Zweifel an der liebgewonnenen Liturgie wurde nun mit immer hysterischeren Glaubensbekundungen pariert.

Und so werkeln und zimmern diverse Ingenieur- und PR-Büros weiter unverdrossen an der Stadt herum, werben und planen, entwerfen "Entwicklungszentren" und "Business-Trainee-Programme", die Professorenschaft revitalisiert den Universitätsdünkel, gründet Forschungszentren wie ZEF, ZEI, CAESAR und Zumtata, und flankiert wird das Ganze von dem sehr gescheit und zukunftssicher in jede noch so vorbeigelaufene Kamera hineinschauenden Gesicht der neuen Oberbürgermeisterin. Aus diesem und anderen public faces schallt dem Kritikasterpack mit Wucht und Verve die neue Parole entgegen: Bonn sei und werde immerhin "Bundesstadt", "Wissenschaftsstadt", "supranationales Innovationszentrum", "Kulturwerkstadt"; und wenn dies alles nicht, dann wenigstens "europäische Telekommunikationshauptstadt" (R. Sommer) und "Sexmetropole Europas" (H.-Chr. Schmitz).

Doch auch solch lauttönender Elan bleibt wie alles Bonner Tun und Machen eitel, begleitet vom sicheren Scheitern und einem beinahe bonnontologischen Kleinmut, der sich besonders dann nachdrücklich meldet, wenn offenkundig wird, daß die eigenen mannigfachen Selbstüberschätzungen und größenwahnsinnigen Phantasieschloßbauten ein Ding der ganz unmöglichen Unmöglichkeit sind.

So etablierte sich in all den Jahren als verläßlicher Partner der Allmachtsphantasie die trotzige Regression auf das Gegebene. Wenn Bonn schon nicht eine "große, weltoffene Stadt" (H. Böll) sein konnte, mußte man eben die Bonner Wurzeln ausgraben: Sonderbewußtsein ist Sonderbewußtsein. Flugs wurde die durch nichts zu überspielende Bonner Ödnis zur Gemütlichkeit erklärt, pries man jedes in der Stadt herumstehende Fachwerkhaus als Standortvorteil, erspähte man glückliche Heimatumstände auf Wochenmärkten und ließ im Rheinpromenaden-Caprieisessen die Rheinpromenaden-Rheinromantik wiederaufleben. Schließlich ward ein Hefegebäck namens "Berliner" noch einmal erfunden und "Bonner" getauft.

Ach ja, der Bonner, übrigens, er ist pathologisch-reziprok mit seiner Stadt aufs innigste verwoben. Zur steten Aufgabe wurde ihm, zu betonen, er kenne kaum eine fadere Stadt als die seine, und, beleidigt und echauffiert, will er doch nichts davon hören. So wird er - im Gegenzug - niemals müde, den ihm recht artgemäßen Zustand bodenständiger Langeweile und "Langweiligkeit" (S. Lenz) zu rechtfertigen mit Hilfe von Projektionen aller Art, zu begründen durch empirische Datenfülle, zu verteidigen unter Hinweis auf schöne Impressionen - wieder und wieder, bis er ehrlich und verzagt leise insistiert: Wenigstens sei es doch "irgendwie schön in Bonn", und: "Außerdem habe ich schließlich Freunde hier".

So wird Bonn doch noch Hauptstadt, Metropole der von existentieller Leere gequälten Beredsamen, der sich mißmutig an der eigenen Bedeutungslosigkeit Abarbeitenden, die - mit einem letzten Anflug von Stolz - ihren Kritikern zuletzt entgegenhalten: Bonn nun also sei, tatsächlich, man könne es nicht leugnen, immerhin: "nicht der Rede wert".

Thomas Roth studiert Geschichte und Soziologie in Bonn.

In der nächsten Ausgabe schreibt Hans Zippert über Oberursel.