Von Berlin nach Jerusalem

Vor 100 Jahren wurde der jüdische Religionsphilosoph Gershom Scholem geboren

"Der Freund Walter Benjamins, nicht wahr", hört man zumeist von Linken, wenn der Name Gershom Scholem fällt. In der Tat sind Leben, Werk und Werküberlieferung Benjamins untrennbar mit dem Namen Scholem verbunden - man lese Scholems "Walter Benjamin. Geschichte einer Freundschaft" und den Briefwechsel. Dabei hat sich Scholem nicht nur Freunde gemacht. Marxisten, die "ihren" Benjamin entdeckt hatten, warfen ihm vor, Benjamin um seinen Marx zu bringen. Viel mehr wußte die Linke mit Scholem nicht anzufangen. Was sollte man mit einem Autor, der sich der historisch-philologischen Analyse jüdischer Mystik verschrieben hatte? Immerhin hätte man in Scholems "Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen" lernen können, daß in den antinomistischen Konsequenzen der Lehre des Kabbalisten Issak Luria die Denkfiguren und Antriebe der dialektischen Philosophie antizipiert wurden.

Gerhard Scholem, so sein Geburtsname, wurde am 5. Dezember 1897 als vierter Sohn einer assimilierten bürgerlichen Familie geboren. Wie in den Jugenderinnerungen "Von Berlin nach Jersusalem" nachzulesen, läßt sich sagen, "daß die verschiedenen Entwicklungen, die wir vier Brüder nahmen, für die Welt des jüdischen Bürgertums typisch waren und zeigten, wie wenig doch eine anscheinend gemeinsame Umwelt für den Weg junger Menschen im Einzelfall bedeutet". Noch als Achtzigjähriger meinte der Älteste, 1938 nach Australien ausgewandert, er sei Deutschnationaler, der sich seine Anschauungen nicht von Hitler vorschreiben lasse. Der zweite Bruder war zeitweise Mitglied des "Demokratischen Klubs". Der Bruder Werner schloß sich 1912 der Sozialdemokratischen Arbeiterjugend an - er wurde 1940 in Buchenwald ermordet. Gerhard Scholem konnte sich trotz der Bemühungen Werners, der ihm den historischen Materialismus "am liebsten einprügeln wollte", dafür nicht begeistern. Unpolitisch war er nicht. Sein "jüdisches Erwachen" ging einher mit der entschiedenen Ablehnung der deutschen Kriegsbegeisterung von 1914.

Der "deutsch-jüdischen Symbiose" stand Scholem damals schon skeptisch gegenüber. Er wandte sich dem Zionismus zu. Indes nicht, "weil mir die Errichtung eines jüdischen Staates (...) als Hauptziel der Bewegung dringlich und durchaus einleuchtend war. Diese Seite der Sache hat für mich wie für viele andere bis zur Vernichtung der Juden durch Hitler nur eine sekundäre, oder auch gar keine Rolle gespielt. Der rein politische und völkerrechtliche Aspekt der Bewegung war für so viele, die sich ihr anschlossen, nicht ausschlaggebend. Sehr einflußreich waren dagegen Tendenzen, die auf die Besinnung der Juden auf sich selbst, auf ihre Geschichte und eine mögliche Wiedergeburt geistiger und kultureller, vor allem aber auch gesellschaftlicher Natur gerichtet waren."

Scholem lernte Hebräisch und vertiefte sich in die jüdische Tradition. Er studierte Mathematik, um sich in Palästina nützlich machen zu können. 1923 ging er nach Jerusalem, wo er zunächst Direktor der judaistischen Abteilung der Hebräischen Universität, 1933 schließlich Professor für Kabbalistik wurde. Scholem verfaßte zahlreiche Essays, die unter dem Titel "Judaica" in vier Bänden bei Suhrkamp erschienen sind. Sein zweites Hauptwerk neben der Studie zu den Hauptströmungen der jüdischen Mystik ist die 1957 vollendete, auf deutsch erst 1992 (im Jüdischen Verlag) erschienene voluminöse Geschichte des mystischen Messias Sabbatai. Scholem starb am 20. Februar 1982 in Jerusalem.

Indem Scholem wiederholt die Asymmetrie der deutsch-jüdischen Beziehungen deutlich machte, versetzte er gerade auch den aufgeklärten Teilen der bundesdeutschen Öffentlichkeit einen "Schock" (Habermas). Heute, wo die deutsche Abwehrfront gegen Goldhagens These vom tief in der deutschen politischen Kultur verwurzelten eliminatorischen Antisemitismus die "deutsch-jüdische Symbiose" als Gegenargument beschwört, wird Scholems Intervention gerne vergessen: "Die Emanzipation", hieß es in der Rede "Juden und Deutsche" (1966), "brachte die entschlossene Verleugnung der jüdischen Nationalität als eines Partners in (der deutsch-jüdischen) Auseinandersetzung mit sich,eine Verleugnung, die ebensosehr von den Deutschen gefordert wie von der Avantgarde der Juden und ihren federführenden Sprechern ebenso entschlossen zugestanden wurde".