Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch

Offener Brief an Manfred Schlösser,den Herausgeber von "Auf gespaltenem Pfad. Zum neunzigsten Geburtstag von Margarete Susman".

Sehr geehrter Herr Schlösser,

Ihre Einladung zu einer Festschrift für Margarete Susman ehrt mich im selben Maße, wie sie mich in die entschiedenste Verlegenheit versetzt. Ich sehe keinen anderen Weg, als Ihnen, und damit vielleicht den Lesern der von Ihnen geplanten Festschrift selber, die Natur dieser Verlegenheit zu erklären. Denn in der Ankündigung dieser Schrift, die Sie mir freundlicherweise haben zugehen lassen, heißt es, daß die Festschrift "nicht nur als Huldigung, sondern auch als Dokument eines im Kern unzerstörbaren deutsch-jüdischen Gespräches zu verstehen sein" soll. Niemand könnte über eine solche Ankündigung bestürzter sein als ich. Denn so bereit ich mich finde, der verehrungswürdigen Erscheinung Margarete Susmans zu huldigen, mit der mich Tieferes verbindet als Meinungen, in denen wir übereinstimmen oder auseinandergehen, so entschieden muß ich mich der Einladung versagen, jener mir unfaßbaren Illusion von einem "im Kern unzerstörbaren deutsch-jüdischen Gespräch" Nahrung zu liefern, der diese Schrift nach ihrer Bestimmung dienen soll. Gestatten Sie mir, mich darüber näher zu erklären.

Ich bestreite, daß es ein solches deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem echten Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat. Zu einem Gespräch gehören zwei, die aufeinander hören, die bereit sind, den anderen in dem, was er ist und darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwidern. Nichts kann irreführender sein, als solchen Begriff auf die Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Juden in den letzten 200 Jahren anzuwenden. Dieses Gespräch erstarb in seinen ersten Anfängen und ist nie zustande gekommen. Es erstarb, als die Nachfolger Moses Mendelssohns, der noch aus irgendeiner, wenn auch von den Begriffen der Aufklärung bestimmten, jüdischen Totalität her argumentierte, sich damit abfanden, diese Ganzheit preiszugeben, um klägliche Stücke davon in eine Existenz herüberzuretten, deren neuerdings beliebte Bezeichnung als deutsch-jüdische Symbiose ihre ganze Zweideutigkeit offenbart.

Gewiß, die Juden haben ein Gespräch mit den Deutschen versucht, von allen möglichen Gesichtspunkten und Standorten her, fordernd, flehend und beschwörend, kriecherisch und auftrotzend, in allen Tonarten ergreifender Würde und gottverlassener Würdelosigkeit, und es mag heute, wo die Symphonie aus ist, an der Zeit sein, ihre Motive zu studieren und eine Kritik ihrer Töne zu versuchen. Niemand, auch wer die Hoffnungslosigkeit dieses Schreis ins Leere von jeher begriffen hat, wird dessen leidenschaftliche Intensität und die Töne der Hoffnung und der Trauer, die in ihm mitgeschwungen haben, geringschätzen. Der Versuch der Juden, sich den Deutschen zu erklären und ihre eigene Produktivität ihnen zur Verfügung zu stellen, sogar bis zur völligen Selbstaufgabe hin, ist ein bedeutendes Phänomen, dessen Analyse in zureichenden Kategorien noch aussteht und vielleicht jetzt erst, wo es zu Ende ist, möglich werden wird. Von einem Gespräch vermag ich bei alledem nichts wahrzunehmen.

Niemals hat etwas diesem Schrei erwidert, und es war diese einfache und ach, so weitreichende Wahrnehmung, die

so viele von uns in unserer Jugend betroffen und uns bestimmt hat, von der Illusion eines Deutschjudentums abzulassen. Wo Deutsche sich auf eine Auseinandersetzung mit den Juden in humanem Geiste eingelassen haben, beruhte solche Auseinandersetzung stets, von Wilhelm von Humboldt bis zu George, auf der ausgesprochenen und unausgesprochenen Voraussetzung der Selbstaufgabe der Juden, auf der fortschreitenden Atomisierung der Juden als einer in Auflösung befindlichen Gemeinschaft, von der bestenfalls die einzelnen, sei es als Träger reinen Menschentums, sei es selbst als Träger eines inzwischen geschichtlich gewordenen Erbes rezipiert werden konnten. Jene berühmte Losung aus den Emanzipationskämpfen: "Den Juden als Individuen alles, den Juden als Volk (das heißt: als Juden) nichts" ist es, die verhindert hat, daß je ein deutsch-jüdisches Gespräch in Gang gekommen ist. Die einzige Gesprächspartnerschaft, welche die Juden als solche ernstgenommen hat, war die der Antisemiten, die zwar den Juden etwas erwiderten, aber nichts Förderliches. Dem unendlichen Rausch der jüdischen Begeisterung hat nie ein Ton entsprochen, der in irgendeiner Beziehung zu einer produktiven Antwort an die Juden als Juden gestanden hätte, das heißt der sie auf das angesprochen hätte, was sie als Juden zu geben, und nicht auf das, was sie als Juden aufzugeben hätten.

Zu wem also sprachen die Juden in jenem vielberufenen deutsch-jüdischen Gespräch? Sie sprachen zu sich selber, um nicht zu sagen: sie überschrien sich selber. Manchen war dabei unheimlich zumute, viele aber taten so, als ob alles auf dem besten Wege sei, in Ordnung zu kommen, als ob das Echo ihrer eigenen Stimme sich unversehens in die Stimme der anderen verwandeln würde, die sie so begierig zu hören hofften.

Die Juden waren immer große Lauscher, eine edle Erbschaft, die sie vom Berge Sinai mitgebracht haben. Sie haben auf vielerlei Stimmen gelauscht, und man kann nicht sagen, daß es ihnen immer gut bekommen ist. Als sie zu den Deutschen zu sprechen dachten, da sprachen sie zu sich selber. Niemand als Juden selber ist etwa von der jüdischen Produktivität eines Denkers wie Simmel angesprochen worden. Und Simmel ist in der Tat eine wahrhaft symbolische Erscheinung für all das, wovon ich hier spreche, weil eine Erscheinung, die die Substanz des Judentums noch höchst sichtbar an einem Manne zeigte, bei dem es auf dem reinen Nullpunkt völliger Entfremdung angelangt war. Ich versage es mir, jenes erschütternde Kapitel abzuhandeln, das durch den großen Namen Hermann Cohens bezeichnet ist, und die Art, in der diesem unglücklich Liebenden, der den Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen nicht gescheut hat, geantwortet worden ist.

Die angeblich unzerstörbare geistige Gemeinsamkeit des deutschen Wesens mit dem jüdischen Wesen hat, solange diese beiden Wesen realiter miteinander gewohnt haben, immer nur vom Chorus der jüdischen Stimmen her bestanden und war, auf der Ebene historischer Realität, niemals etwas anderes als eine Fiktion, eine Fiktion, von der Sie mir erlauben werden zu sagen, daß sie zu hoch bezahlt worden ist. Die Deutschen hat diese Fiktion, ausweislich einer nur allzu reichen Dokumentation, meistens ergrimmt und bestenfalls gerührt. Kurz bevor ich nach Palästina ging, erschien Jakob Wassermanns Schrift: "Mein Weg als Deutscher und Jude", gewiß eines der ergreifendsten Dokumente dieser Fiktion, ein wahrer Schrei ins Leere, der sich als solchen wußte. Was ihm erwidert hat, war teils Verlegenheit, teils Grinsen. Vergebens wird man nach einer Antwort auf der Ebene des Redenden suchen, die also ein Gespräch gewesen wäre. Und wenn es einmal, direkt vor dem Einbruch der Katastrophe, in der Tat zu einem Gespräch in Wechselrede gekommen ist, dann sieht es so aus wie jenes Gespräch zwischen den Exwandervögeln Hans Joachim Schoeps und Hans Blüher, bei dessen Lektüre noch heute dem Leser die Haare zu Berge stehen. Aber wozu Beispiele häufen, wo ja eben das Ganze jenes gespenstischen deutsch-jüdischen Gespräches sich in solchem leeren Raume des Fiktiven abspielte? Ich könnte unendlich davon sprechen und bliebe doch immer auf demselben Punkt.

Es ist wahr: daß jüdische Produktivität sich hier verströmt hat, wird jetzt von den Deutschen wahrgenommen, wo alles vorbei ist. Ich wäre der letzte zu leugnen, daß darin etwas Echtes - Ergreifendes und Bedrückendes in einem - liegt. Aber das ändert nichts mehr an der Tatsache, daß mit den Toten kein Gespräch mehr möglich ist, und von einer "Unzerstörbarkeit dieses Gespräches" zu sprechen, scheint mir Blasphemie.

Ihr Gershom Scholem

Jerusalem, den 18. Dezember 1962

Erschienen in: Gershom Scholem:
Judaica II. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1970. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages