Gebt ihnen mehr Geld!

Die streikenden Studierenden empfehlen sich für den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Die Fachschaft Sonderpädagogik der Universität Dortmund hat ein Flugblatt verfaßt, aus dem hervorgeht, daß die in der Fachschaft Sonderpädagogik organisierten angehenden Pädagogen nicht einverstanden sind mit einem kürzlich verabschiedeten Gesetz, "welches vorsieht, daß ReferendarInnen künftig mehr selbständigen und unbeaufsichtigten Unterricht, d.h. ohne die Anwesenheit und Unterstützung von erfahrenen LehrerInnen (MentorInnen), halten müssen".

Es ist dies eine Klage, mit der nicht einverstanden zu sein nicht nötig ist, um einzusehen, daß das Elend der dem Berufsleben entgegenstehenden Schwierigkeiten den Schluß auch auf dasjenige eines weitgehend sorgenfreien zuläßt. Man wäre dann also Lehrer, man ließe sich nach BAT oder was auch immer bezahlen, man hielte die Lose-Blatt-Sammlung "Steuertips für Lehrer" stets auf dem neuesten Stand.

In dem Moment aber, in dem das Elend, einen Beruf ergreifen zu müssen, durch das größere, noch nicht einmal das problemlos zu können, abgelöst wird, erscheint es als erstrebenswertes Gut. Und nur selten schimmert es noch so nackt und kläglich durch wie in dem Flugblatt der Dortmunder Sonderpädagogen: "Außerdem erfordert der oft zitierte und notwendige Strukturwandel (von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft) in zunehmenden Maße qualifizierten Nachwuchs. Diese Bildungspolitik ist somit in höchstem Maße kontraproduktiv, nicht zukunftsorientiert und eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland."

Die streikenden Studenten ähneln in gewisser Weise streikenden Arbeitern, die mehr Lohn oder mehr Arbeitsplätze fordern und die erst dann, wenn sie Arbeit und Geld genug hätten, sich fragen könnten, was sie denn der Wirtschaftsstandort angeht, der Strukturwandel und die Dienstleistungsgesellschaft - und wieso sie eigentlich die ganze Zeit schuften sollen.

Doch die streikenden Studenten stellen sich geschickter an. In Hannover verteilen sie "kostenlose Bildungsplätzchen" an die Delegierten des SPD-Parteitags. In Trier wienern sie Autofenster und verursachen einen "Bildungsstau". In Berlin strecken sie Passanten ihre nackten, mit der Parole "Bildung am Arsch!" bemalten Hintern entgegen. Das ist so derb wie ein Benetton-Plakat. Überhaupt geht es in den ASten und USten, in den AGs und auf den VVs derzeit zu wie in einer Werbeagentur kurz vor Projektschluß.

Sie sind kreativ, originell, innovativ. Sie erfüllen exakt die Anforderungen, denen eine aufstrebende Führungskraft genügen muß. "Viele der Studenten sind genauso, wie Politiker und Personalchefs sie sich wünschen", schreibt die Berliner Zeitung. Sollten sich die Studienbedingungen tatsächlich so verschärfen, daß viele von ihnen den Abschluß nicht schaffen, dann sollten sie dem Personalchef statt dessen ein Zertifikat vorlegen, das ihnen eine führende Rolle beim Streik bescheinigt. Ginge es mit rechten Dingen zu, würden sie die promovierte Konkurrenz damit problemlos aus dem Felde schlagen.

Ihre Verlautbarungen aber, ihre Diskussionspapiere, Pressemitteilungen und Flugblätter lesen sich, als klopften hier die Jung-Sozialdemokraten an die Parlamentstür. Nächtelang müssen sie über Gesetzestexten gebrütet und die Grundlagen der Bildungspolitik gebüffelt haben. Kinderleicht liest sich das jetzt: "Hochschulrahmengesetz", "fehlende Personal- und Finanzmittel", "organisierte Mängelverwaltung", "handlungsunfähige Studierendenvertretungen".

Die Studenten der Justus-Liebig-Universität Gießen haben ihrem Forderungskatalog fast grundgesetzliche Würde verliehen und eine "Präambel" vorangestellt. Vor der "Präambel" stehen noch ein paar Sätze, in denen genau erklärt wird, welches der noch so jungen und schon so verkalkten Streik-Gremien wann mit welcher Mehrheit welche Änderungen im Text beschlossen hat. Gefordert werden dann unter anderem eine "Demokratische Umstrukturierung und Autonomisierung der Hochschulen", etwa durch Einführung eines "Kreuzwahlverfahrens" nach einem "Berliner Modell". Oder eine "ausreichende Finanzierung der Bildung", denn "schließlich nimmt die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Anteil der Bildungsausgaben am Gesamtbudget aller öffentlichen Haushalte unter 18 erfaßten westlichen Industrieländern nach einer OECD-Studie von 1996 nur noch den 16. Platz ein".

Doch sie wollen mehr als nur mehr Geld. Und es ärgert sie, daß das kaum jemand weiß. In einem "Offenen Brief zur Art der Berichterstattung in den Medien" werfen fünf ASten aus Nordrhein-Westfalen der Presse "mangelnde Recherche zu hochschulpolitischen Inhalten" vor. Sie verweisen auf Arbeitsgruppen, "die sich mit der Novellierung des HRG beschäftigen, mit dem Vergleich zwischen altem und neuem HRG, mit den Zielen des Streiks im gesamtpolitischen Kontext, mit Studierenden und Arbeitswelt, mit Strukturen und Finanzen der jeweiligen Universitäten".

Sie verstehen da etwas falsch. Es gibt in den Medien nur wenig Menschen, die vom Hochschulrahmengesetz Ahnung haben, von Novellierungen, von Strukturen und Finanzen. Diese Menschen sitzen in den Wirtschaftsredaktionen und berichten über die Steuerreform, die Pflegeversicherung und das Rentensystem, über Studentenproteste berichten andere. Die freuen sich über Autobahn-Blockaden und bemalte nackte Ärsche. Und wenn sie über Forderungen berichten sollen, dann sollte darin der antiimperialistische Befreiungskampf vorkommen. Oder die Revolution. Oder die freie Liebe. Es ist seltsam, aber wahr: Vernünftige Forderungen machen Redaktionen oft so sprachlos, daß sie unredigiert in Druck gehen.

Daniel, 20, Erstsemester an der Freien Universität Berlin: "Wir wollen keine Revolution - der Begriff ist uns viel zu abgedroschen." Kommilitone Lennart, 21: "Einer wie Dutschke hätte heute keine Chance mehr. Wir sind doch alle viel zu sehr Individualisten, als daß wir uns jemanden vor die Nase setzen ließen." Die beiden sollten sich das noch einmal überlegen. Man muß die Revolution ja nicht machen. Niemand erwartet das. Dutschke ist zwar gestorben, aber die meisten von denen, die sich ihn vor die Nase setzen ließen, haben schließlich noch einen prima Studienabschluß hinbekommen.

Viel zu vage klingt es da, wenn die Marburger Vollversammlung beschließt, "einen Schulterschluß mit sozial benachteiligten Gruppen zu suchen... Der Protest richtet sich gegen die Ausweitung von Wettbewerb, Konkurrenz und Ellenbogenmentalität auf allen Ebenen." So diffus muß man wohl formulieren, wenn man um des lieben Friedens mit der Linken Liste willen dem Klassenfeind, nein, der "Ellenbogenmentalität" den Krieg erklärt. Wären tatsächlich Tausende von Marburger Studenten gegen "die Kürzung von Leistungen für Arbeitslose, Sozialhilfeberechtigte und AsylbewerberInnen", dann sollten sie nicht die Universität besetzen, sondern Arbeitsämter, Sozialämter, Ausländerbehörden.

Aber selbst wenn es ihnen nur ums Geld ginge, hätte der Streik etwas merkwürdig Fehlgeleitetes. Studenten, die die Lehre lahmlegen, weil ihnen zu wenig beigebracht wird - das ist, als ob Sozialhilfe-Empfänger aus Protest gegen die geringe staatliche Unterstützung ganz auf sie verzichteten. Als ob Ausländer aus Protest gegen die verweigerte Aufenthalts-Genehmigung freiwillig das Land verließen. Man könnte auch an RAF-Gefangene denken, die sich aus Protest gegen tödliche Haftbedingungen zu Tode hungern.

Wenn es ihnen nur ums Geld ginge, dann sollten die Studenten eine "AG Banküberfall" gründen. Bei guter Planung und ausreichender Bewaffnung dürfte da schon etwas zu holen sein.

Die Forderung nach mehr Geld ist übrigens vorbehaltlos zu unterstützen. Angenommen, jede Hochschule bekäme zehn Milliarden Mark. Die Seminarräume würden mit exotischen Hölzern ausgekleidet. Um die weisen, rauschebärtigen, in lange Seidengewänder geshüllten Professoren würden sich nicht mehr als fünf Studenten scharen, auf wunderbar weichen Kanapees sich lümmelnd und der wohlgesetzten Rede des Weisen ergriffen lauschend. Ein jeder von ihnen bekäme ein Grundgehalt von 10 000 Mark. Betriebswirtschaft und Jura wären natürlich verboten. Dafür lernten sie nach und nach, im Lauf der Jahre und Jahrzehnte, den "Mann ohne Eigenschaften" auswendig. Die "Ästhetische Theorie". "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Das "Passagen-Werk".

Jeder wäre willkommen. Sie bräuchten nie zu arbeiten. Sie hätten unendlich viel Zeit. Doch es würde gar nicht solange dauern, und sie kämen auf ein paar sehr vernünftige Forderungen. Vielleicht würden sie dann einen ziemlich heftigen Rabatz machen.