Ekelhafte Welt

Gustav Jacobsens Geschichten über San Francisco

Nicht anders als um die hohe, die betrieblich sanktionierte Literatur ist es um jene des sog. Undergrounds bestellt. Ein Großteil ihrer Produkte folgt dem ungeschriebenen Gesetz, einmal herausgebildete Formen stillschweigend und verbindlich anzuerkennen. So gleichen sich die in nach wie vor zirkulierenden hektographierten und gehefteten Blättern publizierten Texte oft bis aufs fehlende Komma.

Ohne Zweifel übersteigt mittlerweile die Zahl der Autoren gerade im subkulturellen Milieu des "Social Beat" den Umfang ihrer Lesergemeinde. Intendiert werden mag seitens eifriger Mitteilungspoeten durchaus ein dem Kegelverein nachempfundener Zusammenhalt von Gleichgesinnten. Man veranstaltet Bierabende mit Spontandichtung, liest sich gegenseitig die neuesten Episteln um die Ohren und hofft im übrigen, doch einmal entdeckt zu werden. Verachtenswert ist ein solches Prozedere mitnichten. Dennoch strengt das etwa in Magazinen wie Krachkultur und Kopfzerschmettern dokumentierte und zwischen Präpotenzgehabe und verdruckster Tagebuchnotiz, zwischen politischer Mahnung und ostentativ zur Schau gestellten Vitalitätsposen changierende Getue maßlos an, ein Gestus, der gleichermaßen von Selbstzufriedenheit wie von Lustlosigkeit zeugt.

Thema ist meist: die ekelhafte Welt. Es wird stark gelitten, Frau lief davon, Bier alle. Des weiteren stinkt's an jeder Ecke. Dagegen kommt "Tiefe" zum Einsatz: Entrüstung, direktes, unverstelltes Sprechen, eine Rhetorik des Zorns, verschwitzte Dichterhemden und aufgewühlte Bettlaken. Einer derart ausgereiften poetischen Existenz gerät dann leider der Gegenstand des ganzen Theaters aus dem Blick. Wo sie, die Underground-Halodris, "Bedeutung" suggerieren, erreichen sie nur den brackigen Grund ihres eigenen ungehemmten Schreibantriebs. Mit Bukowski, dem meistgenannten Stammvater, hat das wenig gemein, selten auch mit Kerouac oder Ginsberg.

So dürfte nicht falsch liegen, wer von der Warte des Kunstrichters herab behauptete, es geschehe in der wie immer politisch oder ästhetisch begründeten literarischen Subkultur rein gar nichts von Belang. Deren gesellschaftliche Anfänge gehen auf die allgemeine Verfügbarkeit des Kopierers zurück. Hans Magnus Enzensbergers emphatische Ansprache vor der Klasse aller aus dem Stand heraus publizistisch reaktionsschnell und pointiert handelnden politischen Akteure war schon vergessen, als sich Mitte der siebziger Jahre das Literatur-Fanzine zu etablieren begann. Produziert werden konnte billig, schnell und nach Bedarf. Wer was geschrieben hatte, rannte in den Copy-Shop und verteilte hernach rare Lyrik auf hinkenden Versfüßen. Allerorten war nun von einem "Ich" zu hören, dessen vermeintliche Authentizität allein genügte, daß man's in endlosen Jeremiaden beschwor.

Gegen dieses parallel zur Hochkultur aufgestellte Subkulturmaschinchen hebt sich seit einigen Jahren zum Teil der im selben Kontext entstandene Heidelberger Cracked Egg Verlag ab. Willem van Dijk ediert unter dem Titel "Xerox-Reihe" fotokopierte Hefte, die konfuses Prittstift-Layout meiden und optische Eleganz anstreben. Seit 1991 erschienen dort zwölf jeweils 40 Seiten umfassende Broschüren des Erzählers Gustav Jacobsen, die nun in neuer, den thematischen und formalen Konnex hervorhebender Ausstattung zur Gesamtausgabe "Crack America" zusammengefaßt wurden. Van Dijk tat gut daran, mit dieser nicht nur buchästhetischen Renovierung Jacobsens fälschlicherweise immerzu dem Underground zugerechnete Prosa endlich als Literatur zu präsentieren, die keiner Szene-Anbindung bedarf.

Obgleich manche der in San Francisco entstandenen und um die Metamorphosen des Westküstenmekkas kreisenden Texte den Charakter von Skizzen, ab und an mit knarzenden Katachresen gesegneten Bruchstücke haben, stellt "Crack America" weit mehr als eine Sammlung im großen und ganzen "stimmiger" Kurz- und Kürzesterzählungen dar. Um ein weder in forscher Ich-Laune noch programmatischer Verlautbarung ausgeplaudertes thematisches Zentrum ordnen sich literarische Experimente an, deren Gestus die Bescheidenheit ist: Jacobsen bildet ohne das Pathos des Elendskitschiers die Welt der Outlaws ab, als habe sie sich zur unverrückbaren Tatsache verfestigt.

Sein stiller Protagonist, ein aus dem gesellschaftlichen Nichts auftauchender Bohemien, streift durch die Straßen und Cafés San Franciscos und begegnet dort wenig Spektakulärem. Weit davon entfernt, mit der modisch gewordenen Haltung des schultergepolsterten Flaneurs die Leiden der zur lumpenproletarischen Masse mutierten Aids-Kranken, Paranoiden, Gescheiterten zu notieren, konstruiert er den naturwüchsigen Zustand ewig gleicher Gebrechen und Nöte als Anordnung verschiedener Textverfahren, die zwischen spontaneous writing, antikisierender Syntax, Cut-up und szenischen Halluzinationen bewußt auf den Stilbruch zusteuern. Da andere, um ihr Ich besorgt, Sentimentalität und moralische Entrüstung zur Schau stellen, reiht sich hier parataktisch Satz an Satz, folgen Bewußtseinsprotokolle auf Dialogfetzen. Das erzählerische Ich als funktionale Leerstelle, um die eine elende Welt rotiert, in der sich wenig anderes bewegt außer der je einzelne ins Krankenhaus, zur Peep-Show, zur Toilette oder ins Grab, sammelt soziale Kontingenzen ein.

Stehen die Texte und ihre Motivketten für ein konzeptionelles Ganzes, das, - ähnlich wie Gilbert Sorrentinos Prosasammlung "Steelwork - Ein Brooklyn-Roman", - "Frisco-Roman" genannt werden könnte, so suspendieren ein Blick, der auf die erstarrte Welt gerichtet ist, und mit ihm die Gestik des Zeigens das Plädoyer des Realismus, den stofflichen Reichtum als gestaltete, geordnete Fiktion zu präsentierten.

Weil das geschilderte Leben sich allein in seiner miserablen Bedeutungslosigkeit darstellen läßt, bleibt die sprachlich rhythmisierte Oberfläche zurück, wo immer wiederkehrende Beobachtungen jeden Anklang an eine über Spannungsbögen verlaufende Erzählweise tilgen: "Ich ging aus dem Haus und stieg in den Bus, vom Bus in die BART, ich fuhr zum Civic Center. Ich muß jedesmal treppauf und entlang der Aidszelte, dann links die täglich längere Schlange der Armen, die stehen in Lumpen wie irre Gespenster, teils in Rudeln unter dem tiefblauen Himmel, braun und krank von der Sonne."

Da "hier alle häßlich sind... im Café la Bohème... jedenfalls arm! abhängig von Jobs und Food Stamps", wird kein Zusammenhang erheischt, der über die assoziative Verknüpfung von Ausschnitten hinausreicht. Schließlich geht jeder gegen jeden vor, es herrscht der Bellum omnium contra omnes.

Jacobsen schielt nicht auf den womöglich verkaufsfördernden Ausweis von Würde für jene, die nur einstecken müssen. "Sprache", heißt es, sei "sinnlos". "Lächerlich ist Sprache." Wenigstens in der literarischen Subkultur wird er somit fürderhin kaum (mehr) unterkommen.

Gustav Jacobsen: Crack America. Gesamtausgabe, 12 Bändchen im Schuber, je 40 S. DM 78; über Crack Egged Verlag, Untere Badstraße 32, 69412 Eberbach oder den Buchhandel zu beziehen