Was sie will

Der Paragraph 218 ist Bevölkerungspolitik und dient auch der Eugenik.

"Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine!" oder "Mein Bauch gehört mir!" hieß es in den siebziger Jahren, aber auch noch auf den Demonstrationen in Memmingen. Jede Frau, so die Aussage, habe das Recht (oder soll es haben), selbstbestimmt darüber zu entscheiden, ob sie schwanger werden oder sein oder bleiben will. Abgetrieben zu haben, galt als eine moralisch höchst zweifelhafte Angelegenheit und trug den Beigeschmack eines lotterhaften Lebens. Fast jede hatte es irgendwann einmal getan - illegal, und es war strafbar, teuer, lebensgefährlich und mußte fast konspirativ, oft im Ausland, geschehen. Die Selbstbezichtigungskampagnen ("Ich habe abgetrieben") prominenter Frauen haben dazu beigetragen, den Umgang mit der bis dahin verschwiegenen Tat zu verändern.

Damals behaupteten die Abtreibungsgegner unter anderem, sie wollten ja auch die Gesundheit der Frauen schützen. Dieses Argument war so weit gar nicht hergeholt, denn die illegal durchgeführten Abtreibungen kosteten nicht wenige Frauen das Leben oder führten zu bleibenden Gesundheitsschäden. Heute hat sich die Argumentationslinie verändert und den medizinischen Fortschritten angepaßt. Allein die Tatsache, daß die Überlebenschancen von Frühgeburten rasant gestiegen sind, schafft neue ethische Probleme. Bereits die im sechsten Schwangerschaftmonat Geborenen haben eine Chance zu überleben - gleichzeitig erlaubt die medizinische Indikation in diesem Stadium der Schwangerschaft den Abbruch.

Die Frauenbewegung ist mit diesen Entwicklungen defensiv umgegangen: Statt sich den neu entstehenden Fragen zu stellen, wurden sie verdrängt. Sorgsam wurde vermieden, die Problematik einer Entscheidung, bei der es um Leben und Tod geht, anzuerkennen und ihrer Dramatik gemäß zu behandeln. Bei einigen Konflikten erwies sich das als unmöglich, z.B. als die US-Amerikanerin Barbara Katz Rothman Ende der achtziger Jahre nachwies, daß Schwangere, die sich einer Pränataluntersuchung unterzogen hatten, aufgrund der Angst vor dem Ergebnis die Kindesbewegungen um Wochen später spürten als andere Schwangere.

Das, was noch vor wenigen Jahren eine Ausnahme war, ist heute bei uns die Regel: Frauen über 30 unterziehen sich - mehr oder weniger vom Frauenarzt gedrängt - komplizierten Untersuchungen, mit denen angeblich festgestellt werden kann, ob der Fötus gesund ist. Das Prozedere nennt sich "Pränataldiagnostik"; oft ist es verbunden mit einer eugenischen Beratung. Allerdings hat diese vorgeburtliche Diagnose Folgen und bedeutet mehr, als das Wort suggeriert: Besteht der Verdacht einer Anomalie, ist Abtreibung die beinahe zwangsläufige Folge. Und im Gegensatz zu anderen Schwangerschaftsunterbrechungen ist in diesem Fall sogar eine Trauerarbeit zugelassen. Die Systematik jedoch ist fast perfekt: Es gilt als völlig normal und selbstverständlich, daß eine Frau auch zu einem sehr späten Zeitpunkt der Schwangerschaft abtreibt und abtreiben soll, wenn sie ein eventuell behindertes Kind erwartet.

In einigen Staaten der USA erhalten Mütter, die sich dem verweigern, bereits keine Kostenerstattung durch die Krankenkassen für die medizinischen Hilfen, die das Kind benötigt. Kürzlich machte bei uns ein Bundesverfassungsgerichtsurteil Schlagzeilen, nach dem ein Arzt, der in der Pränataldiagnose keinen Befund feststellen konnte, schadensersatz- und unterhaltspflichtig für das behindert geborene Kind gemacht werden kann. Es ist zu erwarten, daß derartig eugenische Aussonderungspraktiken noch mehr um sich greifen.

Wo aber liegt die Grenze zwischen dem verständlichen Wunsch nach einem gesunden Kind und des Abtreibungszwanges für Schwangere, deren Leibesfrucht dem nicht genügt? Diese Grenze herauszufinden ist dringlich. Die Argumente für liberale Abtreibungsregelungen waren immer eugenisch beeinflußt: Schon in den zwanziger Jahren wurde - von den Wohlfahrtsorganisationen, aber auch im Umfeld der Linken - von gesunden Frauen- und Volkskörpern geträumt, und selbst die "soziale Indikation" der siebziger Jahre hatte den Beigeschmack von "asozial" und nicht "Selbstbestimmung" zur Grundlage. Das, was als "freies Recht" der Frau postuliert wurde, hieß in den Fachkreisen "Rassenhygiene", "Sozialmedizin" oder "sexuelle Hygiene". Ob Helene Stöckers "Bund für Mutterschutz" oder Magnus Hirschfelds "Weltliga für Sexualreform" - sie hatten "Geburtenregelung im Sinne verantwortungsvoller Kinderzeugung" auf ihre Fahnen geschrieben. Es war der Beginn dessen, was wir heute unter Bevölkerungspolitik verstehen, der Versuch der Herrschenden, mal wohlmeinend, mal ausmerzend, Einfluß zu nehmen auf Geburtenzahl und Volkes Sitten rund ums Gebären. Selbst im Nationalsozialismus war Abtreibung von vermutlich behinderten Föten erlaubt. Und bedauerlicherweise war die Bevölkerungspolitik und Abtreibungspraxis der gewesenen Sowjetunion nicht sehr viel anders.

Vermischt wird und wurde das immer, jedenfalls in den fortschrittlicheren Kreisen, mit einem postulierten Recht der Frau auf "Glück" - was sie nicht erringen könne, wenn sie nicht Einfluß habe auf ihre Gebärfähigkeit. Doch auch der Frauen Glück ist eine waghalsige und recht veränderliche Angelegenheit. Christina Thürmer-Rohr nannte das individuelle Streben nach Glück ein bürgerliches Recht, das ideell - und keineswegs für alle - behauptet wurde, ein Stück patriarchale Freiheitsidee, die nicht unbedingt nachahmenswert sei, da sie zu brutalem Konkurrenzkampf und Bereicherung auf Kosten von anderen führe. Die Vorstellung von "Selbstbestimmung" aber baut genau darauf auf und mißachtet die Realitäten von Unrecht und Zusammenhängen, von Einflüssen und Zwängen, denen jedermann und auch jedefrau unterliegt. Wahrscheinlich ist eine ernsthafte und ernstzunehmende Auseinandersetzung mit weiblicher Eugenik, Abtreibung und Mutterschaftsideologie nur möglich, wenn die Frauen sich trauen und trauen dürfen, die gesellschaftliche Bedeutung ihrer individuell und schicksalhaft empfundenen Täterinnenschaft einzugestehen und anzuerkennen.

Barbara Katz Rothman: Schwangerschaft auf Abruf. Metropolis, Marburg 1989

Christina Thürmer-Rohr: Befreiung im Singular. Zur Kritik am weiblichen Egozentrismus. In: Verlorene Narrenfreiheit. Orlanda Frauenverlag, Berlin 1994