Der Feind unterm Regenschirm

Während sich mit Emile Zolas "J'accuse" die Rolle des Intellektuellen in Frankreich grundlegend wandelte, haben sich deutsche Denker vom Anti-Intellektualismus niemals emanzipiert.

Ausgerechnet aus Anlaß des 100. Jahrestages der Veröffentlichung von Emile Zolas "J'accuse" fallen Staatsschreiber über "die Intellektuellen" her. Der Vorwurf: Kumpanei mit dem Kommunismus. Denn der, so wird mit dem "Livre noir du communisme" großzügig vorgerechnet, sei für 100 Millionen Opfer verantwortlich. Wer von Nazismus, eliminatorischem Antisemitismus und dem Holocaust als "german national project" (Goldhagen) schweigen will, der plaudere munter vom Kommunismus, lautet die Devise.

Und das anläßlich des 100. Jahrestages der Veröffentlichung von "J'accuse". Ulrich Raulff schafft es in der FAZ, von der Dreyfus-Affäre zu sprechen, ohne auch nur ein einziges Mal den Antisemitismus beim Namen zu nennen. Nur nebenbei erwähnt er, daß es sich bei dem zu Unrecht wegen Spionage verurteilten Alfred Dreyfus um einen jüdischen Hauptmann handelte. Raulffs Kontrahenten aus der deutschen Linken, nur ihrem Selbstverteidigungsreflex gehorchend, beteiligen sich an diesem Schweigen.

Irgend etwas an der mutigen Anklageschrift Zolas, der durch Inkaufnahme eines Prozesses die Wende in der Dreyfus-Affäre einleitete, scheint hierzulande besonders nervös zu machen. Im Zuge der Intervention Zolas erlebten "die Intellektuellen" ihre Taufe, ihre Rolle in der Öffentlichkeit wurde zwar nicht erfunden (da hatte Voltaire Vorarbeit geleistet), aber wirkungsvoll institutionalisiert. Und zwar gegen eine starke antisemitische Stimmung auf den Straßen und in den politischen und militärischen Apparaten. Genau dies macht im deutsch-französischen Vergleich ein Defizit der politischen Kultur in Deutschland deutlich.

Um es auch im Hinblick auf ein fadenscheiniges Argument der deutschen Abwehrfront gegen Goldhagen zu formulieren: Antisemitismus gab es tatsächlich nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in anderen europäischen Ländern, nicht zuletzt in Frankreich; doch dort wurde durch die Mobilisierung der Dreyfusards dem Antisemitismus nach langem Kampf erfolgreich Widerstand entgegengesetzt, und diese Erfahrung war für die französische Linke bis hin zur Volksfront der dreißiger Jahre prägend.

Walter Mehring schilderte die deutsche Misere im Vergleich zum Nachbarland 1930 mit bitterer Ironie. Deutschland habe sich an das Frankreich der Dreyfus-Affäre assimiliert, so an "die Diktaturreklame des Boulangisme". Deutschland teile "den Haß gegen Juden und Freidenker, auch (Ö) das Renommieren mit la nation. Es laufen lauter Doubles herum, geheimnisvolle Generäle, die nur einen Feind brauchen, um das Vaterland zu retten (Ö); fehlt leider bloß eine Kleinigkeit: ein Zola." Die Gelehrten in Deutschland verstanden sich gerade nicht als dem Universalismus und den Menschenrechten verpflichtete Intellektuelle, sondern als Hüter deutscher Besonderheit und des deutschen "Geistes". Deutsche Mandarine standen gegen französische Intellektuelle. Drastische Auswirkungen hatte dies beim ersten Griff Deutschlands nach der Weltmacht, als Schreibtischtäter die "Ideen von 1914" propagierten.

So sind Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" (1918) ein nicht enden wollender Amoklauf gegen Dreyfusards diesseits und jenseits des Rheins, Zivilisation, "Zivilisationsliteraten", Demokratie, die Idee des Fortschritts, Humanität (statt deutscher Menschlichkeit/ Männlichkeit) usw., garniert mit Invektiven gegen "die Juden". Hinter all dem lauert "das Geschlecht", das Weib: "Man versteht sich kaum auf die Demokratie, wenn man sich auf ihren femininen Einschlag nicht versteht." Gefahr droht von "cancanierender Gesittung", sprich: Frauen, die die Röcke heben. Manns "Betrachtungen" sind der wort-

reiche Traum vom Ausbruch aus dem "bürgerlichen Sicherheits- und Regenschirmstaat", hin zu einer heroischen und männlichen, mit Hans Blüher männerbündisch gedachten, Existenz. Mann präzisiert dies später in "Der Zauberberg" anhand seines Naphta: "Naphta verachtete den bürgerlichen Sicherheitsstaat. Er nahm Veranlassung, sich darüber zu äußern, als man im Herbst auf der Hauptstraße ging und bei beginnendem Regen plötzlich und wie auf Kommando alle Welt Regenschirme über den Kopf hielt. Das war für ihn ein Symbol für die Feigheit und die ordinäre Verweichlichung, die das Ergebnis der Zivilisation seien. (Ö) Überhaupt immer die größte Empörung, sobald die 'Sicherheit' bedroht scheine. Das sei jämmerlich und reime sich in seiner humanitären Schlaffheit recht artig auf die wölfische Krudität und Niedertracht des wirtschaftlichen Schlachtfeldes, das der Bürgerstaat darstelle. Krieg, Krieg! Er sei einverstanden, und die allgemeine Lüsternheit danach scheine ihm vergleichsweise ehrenwert."

"Der Zauberberg" (1924) ist bereits das literarische Dokument für Manns Abkehr von der "Konservativen Revolution", spektakulär vollzogen in der Rede "Von deutscher Republik" (1922), in der er die homoerotische Männerbündelei im Gefolge Walt Whitmans, des schwulen Sängers der US-amerikanischen Demokratie, demokratisch umpolte. Die explosive Mischung aus zivilisationsfeindlicher Kriegslüsternheit, Männerbündelei und Intellektuellenfeindschaft wurde auch von anderen angerührt. Alfred Baeumler knüpfte in seinem Vortrag "Das akademische Männerhaus", den er zusammen mit seiner Berliner Antrittsvorlesung als Richtlinie nazistischen Philosophierens 1934 in seinem Buch "Männerbund und Wissenschaft" publizierte, daran an. Alfred Baeumler feierte jene Männer, die, statt zu reflektieren und zu argumentieren, "Kräfte organisiert" haben; "sie haben nicht nur deliberiert, sondern gehandelt. Wie unscheinbar ist der Auszug Jahns in die Hasenheide, und doch war es die Gründung eines Reiches. Wie unscheinbar war die Windjacke der Jugendbewegung - und doch war sie der sichtbare, lebendige Protest gegen den Regenschirm, gegen das bürgerliche Bedürfnis nach Sekurität."

Gewiß gab es Opposition gegen die gelehrten Kriegstreiber von 1914. Um nicht zum x-ten Male den Topos der feindlichen Brüder zu bemühen, soll hier nicht von Heinrich Mann die Rede sein. Dietz Bering führt in seiner Studie "Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes" (1978) Hugo Balls im Schweizer Exil verfaßtes Antikriegs-Buch "Zur Kritik der deutschen Intelligenz" (1919) als einen von insgesamt zwei Belegen an, die das Wort "Intellektuelle" positiv besetzen und für die Festlegung definitorischen Rang beanspruchen. Ball schreibt über ein professorales Kriegspamphlet: "Dreiundneunzig Intellektuelle beweisen durch ein bombastisches Manifest, daß sie als Intellektuelle nicht mehr zu zählen sind."

Doch genaue Lektüre Balls offenbart die deutsche Misere, gerade weil Ball zu den seltenen Befürwortern eines kritischen Intellektuellen-Verständnisses gehört. Dazu muß man freilich auf die Originalausgabe zurückgreifen, denn die Ausgabe bei Rogner & Bernard (1970) und die in der Bibliothek Suhrkamp (1980) sind, ohne daß die Kürzungen kenntlich gemacht würden, entschärft. Mit Thomas Mann verbindet Ball mehr als nur postalischer Irrtum, den Mann pedantisch im Tagebuch notiert: "Aus der Schweiz ein pazifistisches Buch des Literaten H.Ball mit handschriftlicher Widmung an Heinrich. Mißgriff, geht zurück." Trotz der entgegengesetzten Haltung zum Krieg hätten sich Mann und Ball bestens verstehen können, denn Ball schreibt seinerseits Betrachtungen eines Unpolitischen - nur mit umgekehrten Vorzeichen. Beider bisweilen recht kruden "geistes"-geschichtlichen Herleitungen des Deutschtums speisen sich nicht nur aus den gleichen Quellen, vorneweg Dostojewski. Beider Argumentationen werden zusammengehalten von einer bei Dostojewski anders angelegten Verschwörungstheorie. Der sah Deutschland von zwei Seiten bedroht, von einem schwarzen Jesuitenheer im Dienste Roms und der westlichen sozialistischen Bewegung, denen eine Organisationsform zu eigen sei: die Verschwörung.

Bei Mann treten an diese Stelle Freimaurer und Illuminaten: "Die Geschichtsschreibung wird lehren, welche Rolle das internationale Illuminatentum, die Freimaurer-Weltloge, unter Ausschluß der ahnungslosen Deutschen natürlich, bei der geistigen Vorbereitung und wirklichen Entfesselung des Weltkrieges der 'Zivilisation' gegen Deutschland gespielt hat." Da in verschwörungstheoretischer Paranoia noch Vorurteile zum Argument für den eigenen privilegierten Zugang zur Wahrheit erhoben werden können, fährt Mann fort: "Was mich betrifft, so hatte ich, bevor irgendwelches Material vorlag, meine genauen und unumstößlichen Überzeugungen in dieser Hinsicht." Das ist bei Mann an herausragender Stelle, nämlich in der "Einleitung", zu lesen und wird durch kleinere Einsprengsel im Text weiter bestärkt, doch die zahlreichen Kommentare der akademischen Mannologie übergehen dies (wie alles Unangenehme in den "Betrachtungen"), mit Ausnahme eines Artikels von Klaus Urner. Die Ikone des "anderen Deutschlands", eine Rolle, die der sich als "Repräsentant" verstehende Mann während der Nazizeit gerne spielte, darf nicht angetastet werden. Statt dessen schrecken Mannologen nicht davor zurück, Manns Übernahmen der politischen Zoologie Dostojewskis über den "menschlichen Ameisenbau" und des "menschlichen Bienenstocks" zur Vorwegnahme der Totalitarismustheorie zu deklarieren.

Auch Balls "Kritik" wird von einer Verschwörungstheorie zusammengehalten: "Ich fand und suchte zu dokumentieren: Eine Konspiration der protestantischen mit der jüdischen Theologie (seit Luther) und eine Konspiration beider mit dem preußischen Gewaltsstaat (sic! A.S.) (seit Hegel), die nicht nur die Unterwerfung Europas und die Weltherrschaft erstrebte, sondern die gleichzeitig ausging auf die universale Zerstörung von Religion und Moral. Diese Konspiration ist tiefer und stärker verwurzelt, als man gemeinhin glaubt; ihre Unterschätzung aber liegt weder im Interesse der Menschheit, noch im Interesse des deutschen Volkes." Ball halluziniert eine "deutsch-jüdische Konspiration zur Zerstörung der Moral", beim Gewaltstaats-Hegel wittert er den "Geist des Talmud", Lassalle und Marx seien Teil einer "deutsch-jüdischen Verschwörung". Was nutzt es da, wenn Ball beteuert, daß es ihm "fernliegt, dem Antisemitismus und der Sozialistenhetze im geringsten Material zu liefern"?

Die tief verwurzelte Kombination aus Nationalismus, Anti-Intellektualismus, Frankreich-Feindschaft (teilweise gesteigert durch verschwörungstheoretischen Wahn), für die Mann nur ein Beispiel ist, und das Fehlen einer wirklichen Gegenposition, die nicht selbst antisemititsch durchsetzt ist, hatten fatale Folgen. So konnte nicht nur die Rolle des dem Universalismus und den Menschenrechten verpflichteten Intellektuellen in der politischen Öffentlichkeit nicht institutionalisiert werden; dieser nach französischem Vorbild denkbare Widerpart zum antisemitischen Diskurs wurde nicht realisiert.

In Kontinuität der "Ideen von 1914" und bestärkt durch Agitation gegen "Versailles" lebte der antiintellektuelle Affekt in Symbiose mit Frankreich-Feindschaft fort. Und zwar, wie Michael Nerlich in einem zu wenig beachteten Beitrag zur Goldhagen-Debatte darlegte, in enger Verflechtung mit dem sich radikalisierenden Antisemitismus. Hitler setzte Frankreich in "Mein Kampf" mit dem Judentum gleich, Frankreich bleibe "der weitaus furchtbarste Feind": "Was Frankreich, angespornt durch eigene Rachsucht, planmäßig geführt durch den Juden, heute in Europa betreibt, ist eine Sünde wider den Bestand der weißen Menschheit und wird auf dieses Volk dereinst alle Rachegeister eines Geschlechts hetzen, das in der Rassenschande die Erbsünde der Menschheit erkannt hat."

Diese Geschichte von hundert Jahren "J'accuse" ist heute hierzulande nicht opportun. Wenn Intellektuelle wie Raulff die Zentenarfeier der Intellektuellen zum Vorwand nehmen, mit den "Verstrickungen der Intellektuellen in die Totalitarismen des Jahrhunderts" abzurechnen, dabei mit Ernst Nolte auf den "Kampf der Intellektuellen gegen die Intellektuellen" verweisen und geflissentlich übersehen, was dieser mit Antisemitismus zu tun hatte (was selbst Nolte, wenn auch verquast, bemerkt), beweisen sie, daß sie als Intellektuelle nicht mehr zu zählen sind.