Flieger, grüß mir den Bertolt

Robert Wilsons Nachtflug mit Brecht, Müller und Dostojewski

Flugzeuge sind Maschinen, mit denen man in ziemlich kurzer Zeit ziemlich lange Wege schaffen kann. Das ist aber nicht alles. Man kann sogar innerhalb von zwei Stunden einen dramatischen Bogen von Brecht über Heiner Müller zu Dostojewski schlagen. Auszuprobieren im Berliner Ensemble, wo sich niemand anschnallen muß, nur weil vorne "Der Ozeanflug" drauf steht. Es ist dies die offizielle Inszenierung zum 100. Geburtstag Bertolt Brechts an seinem offiziellen Theater. Trotzdem hat das Stück in der Regie von Robert Wilson keine pompöse Schwere. Ganz im Gegenteil: Witzig, verspielt und bedeutungszart geht der Nachtflug vonstatten.

"Der Ozeanflug" von Bertolt Brecht ist ein "Radiolehrstück für Knaben und Mädchen" aus den Jahren 1928/29. Charles Lindbergh gelang 1927 mit dem Flug von New York nach Paris die erste Atlantik-Überquerung. Auch Brecht, stets begeistert von technischen Neuerungen und Großtaten, war fasziniert. Als jedoch Lindberghs Faschismusnähe und sein enthusiastischer Bericht über "die Unbesieglichkeit der Nazi-Luftwaffe" bekannt wurden, verlangte Brecht, daß der Name gestrichen und durch "Die Flieger" ersetzt werden sollte. Am Berliner Ensemble hat man sich trotzdem für die frühe Version entschieden.

Die Inszenierung beginnt fast im Dunkeln. Sie wird auch so enden. In einer Reise durchs Licht zeigt sie den Kampf des Homo sapiens gegen die Naturgesetze. Ein alter Mann (Heinrich Buttchereit) steht mit dem Rücken zum Publikum und blickt reglos in einen schwachen Lichtkegel. Er tut das, als sei das die einzige natürliche Tätigkeit auf Erden.Dagegen tritt ein schneidiger junger Mann im Anzug an (Stefan Kurt) und macht sich zur Ozeanüberquerung bereit. Er trägt Lederhandschuhe bis zum Ärmel und kämpft für den Fortschritt. Wie zur Erinnerung an Ikarus und dessen Traum vom Fliegen läuft ein goldbemalter Nackter durch das statische Figurenarrangement und bringt es in Bewegung.

Der Flieger, allein gegen die Natur, hat es schwer. Der Nebel (die Stimme des greisen Bernhard Minetti) droht ihm, weil er seine Lufthoheit stört, mit Rache, Vereisung, Sturmböen. Ohne Erfolg. Plötzlich ragt ein hell erleuchteter Tragflügel senkrecht auf. Davor tanzt der ausgelassene Pilot gegen die Grenzen des Möglichen: "Like the hell, I will!" Und fällt auf die Schnauze. Und taucht wieder auf, strampelt in azurener Höhe an einer fliegenden Kombination aus Schreibtisch und Einrad. Die siegreiche Technik verspricht Freiheit für alle.

Wilson führt den Gedanken mit Heiner Müllers Endzeit-Vision "Landschaft mit Argonauten" (1982) weiter. Doch da vernichtet sich das bei Brecht noch so vehement ersehnte Maschinenzeitalter bereits fast selbst wieder. Auf der Böcklins "Toteninsel" nachgebauten Bühne zerrt eine Schauspielerin einen Staubsauger herum, eine lagert manieriert auf dem schwarz-weißen Sofa, eine kauert an der Rampe und faucht wie ein Raubtier. Nach einer Viertelstunde fällt das erste Wort.

In der absurden Choreographie wird so lange allerlei Bedeutendes aufgeblasen, bis die Sinnhülle platzt. Dank dieser Methode und der ästhetisch bestechenden, zweck- wie sinnfreien Bildkompositionen in hochstilisierter Formensprache galt Wilson als Müllers Lieblingsregisseur. Den outet er nun als verkappten Komödianten und übersetzt einen Satz wie

"Hunger kaut das Zahnfleisch Salz die Lippen / Zoten stacheln das einsame Fleisch" als Slapstick-Chor aus gebrüllten Schlagworten: "Lippen", "Stacheln", "Zoten". Bei Wilsons Spielwitz wirkt selbst Müllers Text gewichtslos. Wilson ist eine hochachtungsvolle Müller-Verarschung gelungen. "Der Rest ist Lyrik" (Müller).

Als "Kommentar aus der Vergangenheit zu den Apokalypsen der Zukunft" bezeichnet der Dramaturg Holger Teschke im Programmheft die "Aufzeichnungen aus einem toten Winkel" (1864). Diese Collage nach einer Erzählung Dostojewskis beendet den Höhenflug zwischen den Extremen am Nullpunkt der Geschichte, im toten Winkel eines leeren Zimmers am Rande der Stadt. Dorthin hat sich ein flügellahmer, resignierter Beamter zurückgezogen und entwickelt eine technik- und fortschrittsfeindliche Philosophie mit kuriosen Axiomen: "Ich habe Schmerzen, aber ich lasse mich aus Bosheit nicht behandeln." Für die abstruse Geschichte findet Wilson surreale Bilder aus einem Schattenkabinett zwischen Magritte und de Chirico. Angesichts der universellen Hirnlosigkeit wiederholt der Erzähler minutenlang, die Arme angestrengt vorgereckt: "Und deshalb bleibt nur der eine lächerliche Ausweg, mit schmerzenden Fäusten gegen die Wand zu hämmern, wieder und wieder." Gleichzeitig schlüpfen aus dem schmalen schwarzen Turm, einer von Wilsons magischen Bühnenbauten, brav dressierte Angestellte, marschieren nach gebrochenen Rhythmen und schwenken dazu ihre Lederköfferchen. Im Hintergrund trägt jemand eine Leiter vorbei. "Man kann über die Weltgeschichte sagen, was man will, aber eines kann man nicht sagen: daß sie vernünftig ist."

Dann fällt unsichtbar etwas schreiend zu Boden. Im Zwielicht kehren die Personen an ihre Ausgangspositionen im "Ozeanflug" zurück, jedoch in umgedrehter Richtung. Der goldige Nackte verschwindet im Rückwärtsgang dort, wo er ursprünglich hergekommen war. Der alte Mann beginnt erneut in die fahle Weite zu starren. Der Flieger ist abgestürzt, aber er steht auf beiden Beinen. Er trägt nur noch einen Handschuh und schaut über die Schulter ins Publikum. Dann senkt sich der Vorhang, auf dem in kalligraphischen Lettern neben dem Stücktitel auch ein Glückwunsch gemalt ist: "Happy birthday Bertolt Brecht". Was ja auch wieder sehr gut paßt.

Bertolt Brecht: "Der Ozeanflug". R/B: Robert Wilson. Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1. Nächste Vorstellungen: 21. bis 24. Februar