Linke auf dem Zaun

Greifen die USA Bagdad an? Vielleicht haben sie es schon getan, wenn diese Zeilen erscheinen. Will Clinton mit dem Befehl zu einem Bombardement gegen mutmaßliche Waffenlager Saddam Husseins von der Lewinsky-Meineid-Affäre ablenken? Mag sein. Würde ein stufenweise eskalierter, aber letztlich begrenzter Militärschlag, der nicht zu einem echten Krieg werden soll und dennoch in jedem Fall Opfer unter der irakischen Zivilbevölkerung fordern wird, Saddam Hussein die Macht kosten? Nein, sagen - wohl zu Recht - alle Kommentatoren, die professionell mit Weltpolitik befaßt sind. Warum beschäftigt sich die Linke mit solchen und ähnlichen Fragen? Weil sie keine eigenen mehr stellen kann.

In dem Maße, in dem sich seit Ende der achtziger Jahre der berechtigte Ekel vor einem völkisch angefeuerten Antikolonialismus, vor einer national gepolten Friedensbewegung, vor einem am ehrlichen Arbeiter orientierten Antikapitalismus, vor einer vom Blut-und Boden-Mythos fanatisierten Ökologiebewegung unter denkenden Linken Ausdruck verschafft, ist erstaunlicherweise die Fähigkeit zur Analyse verschwunden. Wo ehemals der nach wie vor richtige Gedanke vorherrschte, Politik, Geschäft und die dazugehörige Gewalt aus den Konstellationen und dem Widerstreit sozialer Interessen zu erklären, herrscht heute Romantik. Beispielhaft der Streit, den neulich zwei Autoren in der Jungle World über die Vorherrschaft von Mord und Totschlag in Algerien führten. Der eine, Al Amry, sieht die Schuld beim alten Establishment aus Militär und Staatsbürokratie und schließt seine Betrachtung mit einer Vision, die noch vor wenigen Jahren das Programm jeder K-Gruppe zierte: "Wie lange werden die mehr als eine Million organisierten Arbeiter und Arbeiterinnen, Beschäftigten, die militanten Frauen- und Jugendorganisationen noch zusehen, wie ihr Land ruiniert wird?" Der andere, Justus Wertmüller, zimmert sich die Grundlage seiner Betrachtung ziemlich esoterisch zurecht: "Politiker und Intellektuelle, die Algerien besuchen, sind sich einig, alle Interviews mit der Bevölkerung bestätigen es, die Urheber der Massaker an der Zivilbevölkerung sind islamische Banden." Die Lösung sei eine "bewaffnete Volksfront mit Militär und Staatspartei gegen die Barbarei".

Exemplarisch an beiden Positionen ist der Drang, sich in dem betrachteten Szenario zu positionieren. Auf der einen Seite die linkstraditionelle und national akzentuierte Sehnsucht nach einem Aufstand der Massen, auf der anderen Seite die Solidarisierung mit den vermeintlichen Repräsentanten einer nach europäischem Muster aufgeklärten und zivilisierten Gesellschaft. Ein Positionierungswahn mit ähnlichen Grundmustern war seit dem Golfkrieg auch im Falle des Iraks zu beobachten: Saddam Hussein als antiimperialistischer Vorkämpfer da, die Hoffnung auf den Volkswiderstand gegen den Diktator dort, die US-Streitkräfte als Vollstrecker einer zivilisiert-bürgerlichen Ordnung hier. Einschätzungen, die - abgesehen von der praktischen Forderung, Israel um jeden Preis vor dem Beschuß durch irakisch-deutsche Giftgasraketen zu schützen - an halluzinativer Emphase kaum zu übertreffen war.

Die einen sind der folgenlosen Hoffnung auf die Revolution zum Wohle der Nation treu geblieben, die traditionsskeptische Linke hat sich weiterentwickelt. - Zum Zaungast der internationalen Großpolitik, der überall seinen Senf dazu gibt, stets pragmatisch auf der Suche nach dem kleineren Übel, aber nach dem vollständigen Verlust der eigenen Analyse- und Interventionsfähigkeit immer im Rahmen der Optionen, die Diplomaten, Generalstäbe und Chefredakteure vorgeben. Für den Gang der Welt ist das unerheblicher als die rechte Lust an Clintons Hosenschlitz. Warum die USA aber womöglich ausgerechnet jetzt den Irak bombardieren wollen, weiß ich auch nicht. Man müßte das mal analysieren.