Lob des Renegatentums

Bertolt Brecht und die Klassenverräter.

Von Bertolt Brecht zu reden ist nicht erst seit diesen Tagen recht müßig, wo die bekannten Meinungsfreunde, Literaturbetriebsleiter und Feuilletonhelden seinen 100. Geburtstag zum Anlaß nehmen, sämtliche Gemeinplätze, Vor- und Geschmacksurteile erneut durchzukaspern. Seit ca. 70 Jahren läuft, von Alfred Kerr über Kurt Tucholsky, Friedrich Luft bis nunmehr John Fuegi, die Veranstaltungsreihe mit den immergleichen Einlagen und Nummern, die hier nicht wiederholt werden müssen. Ihnen gegenüber steht seit fast der gleichen Zeitspanne die Schar der Adepten und Verehrer, welche in Brecht zwar den Kommunisten bzw. auch und gerade den Kritiker der Kommunisten, aber vor allem den großen Dichter rühmte und sich in der Regel auf dessen humanitäre und kritisch-parteiliche Lyrik kaprizierte. Der Streit zwischen den beiden Lagern, der in den fünfziger Jahren, als Brecht in der Bundesrepublik boykottiert wurde, noch einen Gegenstand hatte, ist inzwischen abgetan und Angelegenheit von Deutschlehrern.

Ebenfalls recht müßig scheint das Unterfangen, den "wahren Brecht" gegen die bundespräsidialen und CSU-seitigen Vereinahmungsambitionen zu verteidigen, die sich abzeichnen: Dichter sind nur z.T. für ihre Rezeption verantwortlich zu machen, und die Nationalfeierlichkeiten aus Anlaß des Todestages reklamieren eher die Autorität des Toten für das Ansehen Deutschlands, als daß sie eine Zeile des Werkes aufführten. Das Werk ist sowieso passé. Selbst Literaten und Theaterleute geben heute auf Brecht nicht mehr sehr viel, er figuriert bei ihnen als eine Art früher Müller oder roter Benn. Allenthalben gilt das Îuvre, abgesehen von den frühen und späten Gedichten, als didaktisch und schablonenhaft, überholt, weltanschaulich erledigt, menschlich diskreditiert und nur bedingt spielbar.

Diese Herabsetzung betrifft vornehmlich den Marxisten Brecht, und sie widerfährt ihm von Intellektuellen, deren großer Teil ihm vermutlich vormals bedingungslos nacheierte und nun anderweitig untergekommen ist. Der Vorgang verdient Interesse deshalb, weil er auch in Brechts Werk eine größere Rolle spielt und leitmotivisch wiederkehrt: das Verhältnis des Marxismus zu bürgerlichen Intellektuellen bzw., was dasselbe ist, zu Renegaten und schwindelhaften Ideologen. Die Gleichsetzung ist weniger polemisch, als man denkt, und vielleicht sind ein paar grundsätzliche Vorerwähnungen dazu nicht unwillkommen.

Renegaten befinden sich nicht erst in der Welt, seitdem es kommunistische Parteien gibt, die sie zu solchen erklären; Renegation bedeutet ursprünglich Abfall vom Glauben. Im Feudalismus, dessen hierarchisches System auf personalen Beziehungen zwischen Lehnsherrn und Vasallen, Herren und Knechten gegründet war, fiel der Verrat an Menschen mit dem an einem gesellschaftlichen Ensemble zusammen. Hierfür existiert ein klassisches Beispiel, das des Connetable de Bourbon, des obersten Feldherren des Königs von Frankreich, der 1525, mitten im Krieg, König Franz I. im Stich ließ, um in habsburgische Dienste zu treten - dieser Verrat ist in der Geschichte des europäischen Feudalismus nie vergessen worden und hat Generationen von Machthabern sozusagen traumatisiert. Verfolgt oder mit dem Tode bestraft wurde in dieser Zeit, wer weltlich oder geistlich konvertierte, was der Lukrativität von derlei Dissidenz eher abträglich war. Wolf Biermann hätte seinerzeit wohl nicht nur nicht überlebt, es hätte ihn gar nicht gegeben.

In der bürgerlichen Gesellschaft war der Mensch nicht mehr lehnsmäßig gebunden, sondern frei und gleich im kapitalistischen Produktionsprozeß. Die personalen Beziehungen zwischen Herr und Knecht verdinglichten und verwandelten sich in die zwischen Kapitalisten und Proletariern. Verrat und Renegatentum waren hier konstitutiv geworden: Das System der freien Konkurrenz verlangte quasi permanentes Renegatentum. Den Betrieb zu wechseln, dorthin zu gehen, wo einem mehr geboten wird, nach persönlichem Gutdünken zu handeln usf., erschien jetzt als eine bzw. als die Tugend - nicht jedoch für die heraufkommende Arbeiterbewegung. Ihre historische Mission ergab sich Marx zufolge aus dem Umstand, daß ihren Mitgliedern nicht an bloßem egoistischen Fortkommen gelegen ist, sondern ihre Emanzipation nur mittels ihrer Emanzipation als Klasse vonstatten gehe. "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Allerdings hat die Solidarität, die von der Arbeiterklasse hier eingefordert wird, keinen hinreichenden ökonomischen Grund. Der Appell richtet sich an eine durchaus moralische Vernunft. Ihre Stärke ist das nicht eben. Inmitten der warenproduzierenden und -tauschenden Gesellschaft nehmen somit die von der Theorie ergriffenen Massen eine vorbürgerliche Haltung ein. Sie sind solange nicht käuflich, bis sie gekauft werden.

Brecht war seit jeher fasziniert von diesem Dilemma und speziell von Sachverhalten der Unsolidarität und des Egoismus. Ein Lob des Renegatentums zu schreiben, hat er zwar unterlassen und eher, die "Gedichte an einen ehemaligen Genossen" zeigen es, das Gegenteil proklamiert. Doch bereits in einem seiner ersten Stücke "Trommeln in der Nacht" zeichnet Brecht einen klassischen Renegaten, den Kriegsheimkehrer Andreas Kragler, der nicht daran denkt, sich der Revolution anzuschließen, und die Firma, die Braut und das weiche Bett den Genossen vorzieht. Und er zeichnet ihn, wie viele Male später, mit Sympathie.

In "Heilige Johanna der Schlachthöfe" demonstriert Brecht am Beispiel der Frau Luckerniddle, deren Mann bei der Arbeit in eine Maschine geriet, die Büchsenfleisch präpariert, daß in äußerster Not ein paar Mahlzeiten genügen, um von berechtigten Forderungen abzusehen. In "Fatzer" ist es Egoismus, in "Die Maßnahme" sind es sozusagen Unvermögen und Unwissenheit, die zum Verrat führen. In den "Sieben Todsünden des Kleinbürgers" und im "Guten Menschen von Sezuan" werden die Protagonisten sogar, indem sie sich gleichsam aufspalten, zu Renegaten ihrer selbst. Um ein Renegatenstück handelt es sich auch bei dem "Leben des Galilei". Hier ist es zum einen die Wissenschaft, welche die Abkehr (von der Kirche) motiviert, zum anderen Weisheit, welche den Renegaten abschwören und zum Re-Renegaten werden läßt. Die Figur des Arturo Ui im gleichnamigen Stück hat im wesentlichen die Aufgabe, die Geschäfte der Herrschenden mit revolutionären Phrasen zu exekutieren. Es gibt im Grunde keinen Text von Brecht (auch nicht "Die Tage der Kommune"), in dem das Bündnis zwischen Intellektuellen (in seiner späteren Terminologie "Tuis") und dem Proletariat funktionieren würde.

Das Problem streifen auch Marx und Engels im "Kommunistischen Manifest", dort heißt es lapidar: "In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, so grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt. Wie daher früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie ging, so geht jetzt ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Teil der Bourgeoisideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben."

Diese Passage ist nicht eben sehr überzeugend. Bei Brecht, der im amerikanischen Exil den Versuch unternahm, das "Manifest" als "Lehrgedicht" in Hexametern zu übertragen, klingt sie freilich noch sonderbarer: "Ferner, wie einzelne Adlige übergegangen zur jungen / Adelbekämpfenden Bourgeoisie, so verlassen jetzt manche / Diese, ein Schiff, noch nicht sinkend, doch kompaßlos schon und gefüllt mit / Wild sich zerfleischender Mannschaft. Sie bringen ihr Können und Wissen." Die gequälten Verse signalisieren ein Unbehagen. Brecht mag den bürgerlichen Konvertiten keineswegs den Rang zubilligen, den ihnen die Autoren des "Manifests" noch konzediert hatten. Für ihn sind es lediglich Ratten, die nützlich sein können. Man ist nicht auf sie angewiesen. Sie laufen auch nicht aus "theoretischem Verständnis" zum Proletariat über, sondern aus Opportunismus.

Brechts Entschiedenheit in der Sache ist prekär. Denn ohne diese rattenhaften Renegaten würde die Arbeiterbewegung, deren Theoriegebäude ein von Renegaten ersonnenes und deren Massen von Renegaten geführte waren, gar nicht existieren.

In seinem letzten Stück "Turandot oder der Kongreß der Weißwäscher" kommt der Intellektuelle nur mehr als Schwätzer vor, zu dessen Gewerbe eben Speichelleckerei und Weißwäscherei gehören. Vorbilder dieser "Tuis" waren - neben den Expressionisten und Thomas Mann, den Hausfeinden - Horkheimer und Adorno, deren großbürgerliche Existenz und Kommunistenphobie Brecht außerordentlich mißbehagte. Es ist angemerkt worden, daß er auch selber unter dieses Verdikt falle.

Aus bürgerlichem Hause stammend, war Brecht niemals Mitglied der Kommunistischen Partei und in Sachen Marxismus bei den Renegaten Karl Korsch und Fritz Sternberg in die Schule gegangen. Mit dem Parteitheoretiker Georg Luk‡cs über "Sozialistischen Realismus" und dem Parteidichter Johannes R. Becher über "Deutsche Nationalkultur" lag er im Dauerstreit. Seine Verehrung der "Weisheit des Volkes" hatte sozialromantische Züge und blieb nur plausibel als Replik auf die Anmaßungen der Intellektuellen. In dem Gedicht "Verjagt mit gutem Grund" schreibt er über seinen Werdegang: "Ich bin aufgewachsen als Sohn / Wohlhabender Leute. Meine Eltern haben mir / Einen Kragen umgebunden und mich erzogen / In den Gewohnheiten des Bedientwerdens / Und unterrichtet in der Kunst des Befehlens. Aber / Als ich erwachsen war und um mich sah / Gefielen mir die Leute meiner Klasse nicht / Nicht das Befehlen und nicht das Bedientwerden / Und ich verließ meine Klasse und gesellte mich / Zu den geringen Leuten." Derlei Renegatum erfolgt heute, wenn überhaupt, kaum mehr freiwillig; freiwillig geht's eher in die andere Richtung. Es wäre aber verdächtig, wenn es nicht so wäre. Das Schiff muß sinken, wenn die Ratten kommen sollen.