Der Regisseur B.K. Tragelehn über den praktischen Brecht

Riese unter Zwergen

B.K. Tragelehn, 1936 in Dresden geboren, arbeitete ab 1955 als Meisterschüler der Deutschen Akademie der Künste Berlin bei Bertolt Brecht. 1961 löste seine Inszenierung von Heiner Müllers "Die Umsiedlerin" einen Skandal aus. Stück und Aufführung galten als "konterrevolutionär", Tragelehn wurde aus der SED ausgeschlossen und zum Braunkohletagebau in die Niederlausitz geschickt. Nach Fürsprache Paul Dessaus durfte er 1964 wieder als Regisseur arbeiten. Ruth Berghaus holte ihn 1972 ans Berliner Ensemble. Ab 1979 arbeitete Tragelehn ausschließlich an westdeutschen Bühnen, 1987 wurde er Schauspieldirektor in Düsseldorf. Tragelehn, der seit Oktober 1989 wieder in Berlin lebt, inszenierte zuletzt Brechts "Leben des Galilei" im Berliner Ensemble.

Herr Tragelehn, hat Sie Brecht zur Zigarre verführt?

Mein Vater rauchte Zigarren, und ich habe sie schon als Kind sehr gerne gerochen. Irgendwann nach Brechts Tod habe ich dann angefangen, selbst Zigarren zu rauchen. Heiner Müller hatte das von mir. Als wir uns 1957 kennenlernten, hat er noch Zigaretten geraucht.

Welche Sorte bevorzugen Sie?

Heute Sumatra. Heiner hat zum Schluß nur noch Havannas geraucht. Die einzig erträglichen DDR-Zigarren waren Brasil aus Lobenstein.

1955 wurden Sie an der Berliner Akademie der Künste Meisterschüler von Brecht. Sie waren damals 19 Jahre alt, hatten kein Abitur, keine abgeschlossene Ausbildung.

Das ging nur bei Brecht: Eigentlich hätte ich das Abitur gebraucht. Doch war ich wegen eines Täuschungsversuches in Chemie ausgeschlossen worden und hätte ein Jahr wiederholen müssen. Dazu hatte ich überhaupt keine Lust.

Ich wollte unbedingt zu Brecht. Ich kannte von ihm so ziemlich alles, was erreichbar war, auch die frühen Stücke.

Sie sind regelmäßig von Dresden zu Vorstellungen nach Berlin gefahren?

Ich nahm im Herbst 1954 an einem Lehrgang des Kulturbundes in Bad Saarow bei Berlin teil. Da habe ich mir Aufführungen im Berliner Ensemble angesehen. Bei einem Gastspiel in Dresden hatte ich bereits "Mutter Courage" in der Inszenierung von Bertolt Brecht und Erich Engel kennengelernt. Ich hatte mich eine Nacht lang angestellt und eine Karte im 2. Rang erworben. Die Aufführung war ein großer Kontrast zu allem, was es sonst gab. Mir ist das noch einmal sehr bewußt geworden, als ich in London im Theater-Museum neben der Covent Garden Opera war. In einer Vitrine lag eine Rezension zum Gastspiel des Berliner Ensembles im Herbst 1956, nach Brechts Tod. Der englische Kritiker beschrieb darin seine Erschütterung, als er in der "Courage"-Vorstellung Schauspielern begegnete, die wie ganz gewöhnliche Menschen aussahen und redeten, Kartoffelgesichter, wie sie einem in der U-Bahn gegenübersitzen. Es war wirklich ein Schock, daß plötzlich diese Realität auf dem Theater existierte.

Wie haben Sie es geschafft, Meisterschüler bei Brecht zu werden?

Die Proben im Berliner Ensemble waren offen. 1954 habe ich sie 14 Tage lang besucht, ebenso die Aufführungen. Ich habe dann mit Hans Bunge, dem Dramaturgen, gesprochen, der ein Gespäch mit Brecht vermittelte.

Brecht hat sich mit mir einen Abend lang unterhalten, hat mich ein bißchen geprüft. Er gab mir einen Stapel Fotos von der Aufführung der "Mutter" und sagte, ich solle die guten heraussuchen. Er verließ den Raum. Als er wieder hereinkam, hatte ich die Fotos sortiert und wollte ihm dies erklären. Worauf er meinte: "Sie müssen nichts begründen, zeigen Sie mir das nur." Danach gab er mir ein paar Ratschläge: "Lernen Sie Hochdeutsch - 'Coriolan' können Sie nicht auf sächsisch inszenieren. Ein kleiner Anflug kann bleiben."

Er war sehr praktisch und erklärte auch gleich, wie man das macht: "Gehen Sie zu einem Schauspieler in Dresden und lassen Sie sich von ihm Hochdeutsch beibringen." Weiter sagte er: "Lernen Sie Englisch. Gehen Sie in eine Bibliothek, holen Sie sich ein Buch über das Elisabethanische Theater und ein Wörterbuch. Wenn Sie das Buch durchgearbeitet haben, können Sie Englisch. Und wenn Sie etwas geschrieben haben, schicken Sie es mir."

1954 gab es eine Auseinandersetzung über seine "Kreidekreis"-Inszenierung. Ich hatte dazu einen Aufsatz geschrieben und ihm geschickt. Brecht hat ihn auf dem Flug nach Moskau im Frühjahr 1955 gelesen. Kurz darauf lud er mich nach Buckow ein. Da hatte er bereits beantragt, daß ich als Akademie-Schüler in der Sektion Darstellende Kunst ab Herbst 1955 nach Berlin kommen könnte. Das bedeutete, daß ich ein Stipendium von der Akademie erhalten und im Berliner Ensemble arbeiten würde.

Wie entwickelte sich die konkrete Arbeit mit Brecht?

Die Probenarbeit mit Brecht war ein sehr starker Eindruck, sie war außerordentlich amüsant und spannend, in einer Weise, wie ich das bei keinem anderen Regisseur erlebt habe.

Die Begeisterung von John Fuegi über Brechts Umgang mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hält sich in Grenzen.

Ich habe nur die Berichte über sein Buch verfolgt und glaube nicht, daß ich es noch lesen werde. Es scheint mir nicht sonderlich interessant zu sein. Mir scheint, daß es auch kaum neue Fakten enthält. Fuegi sieht sie halt mit manischem Haß. Man kann sie auch anders betrachten. Denn es war schon ein großes Glück, mit solchen Leuten wie Brecht arbeiten zu können.

Trotzdem war es sicher auch nicht konfliktfrei.

Natürlich, doch Brecht war geschickt genug, Wutanfälle immer mit einem Witz abzuschließen. Aber daß diese Wutausbrüche kalt gewesen wären, ist eine Legende. Er hat sich schon aufgeregt, gezittert vor Wut! Es hat oft Kräche gegeben, von denen hinterher aber nie wieder die Rede war. Er war nicht nachtragend.

Das Berliner Ensemble galt als ein Ausnahmetheater der DDR.

Es war schon eine Art belagerte Festung. Die schlimmste Zeit war sicher 1952/53. Davon bekam ich etwas mit, als zum Beispiel bestimmte Bücher aus der Bibliothek in Dresden herausgezogen wurden. Ich hatte in der Städtischen Bücherei einen Band "Nie wieder", mit Zeichnungen von Teo Otto, mehrmals ausgeliehen. Plötzlich hieß es, das haben wir nicht. Das Buch war wegen Pazifismus entfernt worden. Das Vorwort hatte Brecht geschrieben. Das Ironische daran ist, daß er den größten Teil dieses Vorwortes im Mai 1955 in seiner Dankrede für den Stalin-Preis benutzte. Das war ja ein Friedenspreis, kein Literaturpreis.

Kam man an Brecht da noch heran?

Brecht war nicht mehr ganz gesund, er wurde natürlich schon abgeschirmt von den Frauen. Selbstverständlich war der Brecht der liebe Gott in dem Verein, das ist klar. Das beruhte freilich auch auf seiner Sachautorität, der man sich fraglos unterworfen hat. Denn in der Sache war jede Frage aufzuwerfen.

Einerseits war Brecht bis zum Schluß ein Mann, von dem eine ungeheure Energie ausging, ein bißchen wie Gulliver unter den Zwergen, der sich vorsichtig bewegen muß, damit er nicht versehentlich jemanden tot tritt. Das ist die eine Seite. Die andere sieht man auf den Fotos von Gerda Goedhart, die Brecht schon aus dem Exil kannte und die ihn in der letzten Zeit fast ausschließlich fotografiert hat. Da zeigt sich eine große Erschöpfung und Müdigkeit, offenbar seit 1952/53, die wohl mit der Enttäuschung über die Entwicklung in der DDR zusammenhängt.

Es gab zwar nach dem 17. Juni 1953, der auch ein Schock war, neue Hoffnung, daß sich die Verhältnisse ändern könnten. Wie 1956, nach den Ereignissen in Polen und Ungarn, als sich auch in der DDR wieder etwas bewegte. Brecht ist gerade rechtzeitig gestorben, ehe er in alle möglichen scheußlichen Sachen hineingezogen werden konnte. Schwer zu sagen, wie das sonst ausgegangen wäre.

Sie haben selbst sehr rasch zu inszenieren begonnen, 1957 "Die Ausnahme und die Regel". Wie konnten Sie sich vom Übervater B.B. befreien?

Ich habe sehr wenig Brecht inszeniert, weil ich seine Arbeit nicht einfach nur kopieren wollte. Außerdem entstand nach Brechts Tod bald ein Gegensatz zu dem, was er gemacht hatte, und eine verwässerte Rezeption dessen schwappte wie eine Welle über Europa. Ein Stil wurde durchgesetzt. Der bestand aus Rupfen, einem halbhohen Vorhang und hellem Licht und erreichte rasch auch die ehemaligen Gegenpositionen, wie beispielsweise das Berliner Maxim-Gorki-Theater. Das stand bis dahin auf der anderen Seite im sogenannten Brecht-Stanislawski-Streit, einem irrwitzigen Ausfluß dieser völlig wahnsinnigen Kulturpolitik der Jahre 1952/53, in der alles und jedes vom sowjetischen Modell übernommen werden sollte ...

... die berüchtigte Formalismus-Debatte, die auf irgendeine Weise alle Künstler der DDR betraf . . .

Dieser Streit war ein Teil davon. Im Theater war Konstantin S. Stanislawski das große Vorbild für Realismus, der dem Formalismus entgegengestellt wurde, also Brecht. Das alles geschah jedoch mit einer außerordentlich unzulänglichen Kenntnis, einer starken Vulgarisierung der Schriften Stanislawskis, von denen die wichtigen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht übersetzt waren. Brecht hatte übrigens einen sehr guten Eindruck von Stanislawski-Aufführungen, die er in Moskau gesehen hatte, und fand sie nicht so weit von dem entfernt, was ihm im Theater vorschwebte.

Wie ging es mit dem Berliner Ensemble nach Brechts Tod weiter?

Die Festungshaltung im Berliner Ensemble führte rasch in die Stagnation. Es gab noch ein paar gute Aufführungen. In den sechziger Jahren hat das Berliner Ensemble aber nur noch eine Premiere pro Jahr gemacht, manchmal bloß einen Brecht-Abend. Die Schauspieler haben nachgespielt, nachgespielt, nachgespielt. 1961 kam es auch zum großen Aderlaß, als viele nach West-Berlin gingen.

Paßte Brecht jemals in die DDR?

Ich würde heute sogar sagen, daß er an der DDR und daran, wie sie ihm damals entgegegenkam, gestorben ist.

Nach Brechts Rückkehr fand 1948 ein Gespräch mit Studenten in Leipzig statt. Da sagte er, was Deutschland jetzt braucht, sind vierzig Jahre Ideologie-Zertrümmerung. Er wollte ein Theater zur wissenschaftlichen Erzeugung von Skandalen. Man kann vielleicht sagen, daß Müller und mir das mit der "Umsiedlerin" gelungen ist, während Brecht in der Entwicklung des Berliner Ensembles auch Einschränkungen hinnehmen mußte. Es gibt in den "Katzgraben"-Notaten den schönen Satz von ihm, daß das Theater wie ein Schwimmer ist, der nur so schnell schwimmen kann, wie die Strömung und seine Kräfte es erlauben. Das formuliert die Restriktion, der er ausgesetzt war, ganz gut.

Wird sich das neu erwachte Interesse an Brecht innovativ auf die Inszenierungspraxis auswirken?

Das hat es bislang immer gegeben, warum also nicht auch in Zukunft? Dadurch kommen andere Aspekte in den Stücken zum Vorschein, oder wieder zum Vorschein. Aber dann wird immer ganz schnell geschrieen, daß das mit Brecht nun nichts mehr zu tun hät-te ... Als Ruth Berghaus von 1971 bis 1977 Intendantin am Berliner Ensemble war, wurde uns ja auch vorgeworfen, daß das mit Brecht nichts zu tun hätte - völliger Unsinn!

Brecht ist Brecht?

Es fällt mir oft schwer zu begreifen, wie andere, die Brecht nicht gekannt haben oder nicht auf Proben waren, ihn aufgrund seiner Schriften oder Inszenierungen als trocken oder doktrinär bezeichnen können. Das ist ein Bild, welches ich nur mit Mühe überhaupt verstehen kann, weil aus der direkten Wahrnehmung der Person ein völlig anderer Eindruck entstanden ist. Ich glaube, das ist immer ein Mißverständnis gewesen. Wenn Brecht so gesehen wurde, wurde er falsch gelesen.

Inzwischen hat ja bereits die Schule ihren verheerenden Zug über den Klassiker angetreten und, wie zu erwarten, wird Brecht den Schülern auf diese Weise verekelt. Aber er ist nicht der erste Klassiker, dem das passiert. Es gibt auch Gegenkräfte. Und ich glaube, man kann immer noch eine ganze Menge von ihm mitnehmen.