Sackgassen&Sonderwerg

Deutschland als Avantgarde

Historische Genese und aktuelle Renaissance des deutschen Sonderwegs.

In zwei Weltkriegen hat Deutschland Europa in Schutt und Asche gelegt und die europäische Judenheit beinahe ausgelöscht. War dieser Amoklauf Resultat eines Sonderwegs, der Deutschland schon seit dem Übergang zur Neuzeit aus der Reihe der entwickelten Nationen ausscheren ließ - oder lediglich den Zufällen des historischen Augenblicks geschuldet? Anders formuliert: Beruht die unzweifelhafte "besondere Agressivität" des deutschen Imperialismus auf politisch-ökonomischen Konstanten, die auch die Kriegsniederlage von 1945 überdauert haben - oder auf Variablen, die zusammen mit dem Dritten Reich untergegangen sind? Um wenn Goldhagen - zu Recht! - "den Vorstellungen und Bildern der Täter entscheidende Bedeutung" beim Massenmord zumißt: Waren diese "Vorstellungen und Bilder" nur Halluzinationen eines "gesellschaftlichen Gesprächs", konnten also durch ein anderes gesellschaftliches Gespräch in Form der alliierten Reeducation nach 1945 beseitigt werden? Oder entspringen diese psychotischen Vorstellungen der politisch-ökonomischen Basis der deutschen Gesellschaft, die - wie wir wissen - nach dem 8. Mai 1945 nicht grundsätzlich umgewälzt worden ist?

Während sich bis 1989 lediglich die Geschichtswissenschaft um die Beantwortung dieser Frage bemühte, da die beiden Deutschländer als Frontstaaten der Paktsysteme nur über eingeschränkte politische Handlungsfreiheit verfügten, beschäftigt sie seit dem Fall der Mauer die europäische Öffentlichkeit. In Paris und Warschau, in London und Moskau fürchtet man die Wiederkehr der Geschichte - zu Recht.

Aufstand gegen den Universalismus

Anders als konstruktivistische Interpretationen des Furor teutonicus implizieren, lassen sich die Spezifika der deutschen Entwicklung durchaus historisch-materialistisch erklären. "Aus Gründen seiner politischen und religiösen Geschichte hat Deutschland kein Verhältnis zu den Jahrhunderten, welche für die Bildung und Festigung der modernen Welt entscheidend waren", resümiert Helmuth Plessner (1). Seine These von der "verspäteten Nation" kontrastiert schroff mit den Allgemeinplätzen der Populärwissenschaft. Das "Heilige Römische Reich deutscher Nation" sei, folgt man den Darstellungen der BRD- wie der DDR-Geschichtsbücher, nämlich sehr früh entstanden, und zwar schon im Jahre 919 durch Kaiser Heinrich I.

Tatsächlich handelt es sich hierbei um eine identitätsstiftende Geschichtslüge: Zwar wurde im Jahre 911 tatsächlich ein Reich gegründet, aber den Zusatz "deutscher Nation" erhielt es erst im 16. Jahrhundert. Und selbst dann hatte dieser administrative Zusatz für die Lebenswirklichkeit und das Selbstverständnis der Menschen dieses Reiches kaum eine Bedeutung: Dessen Bevölkerung war mitnichten ein deutsches "Volk", sondern ein buntes Gemisch unterschiedlicher Sprachen und Kulturen. Das Bezugssystem "Nation" gab es in diesem Riesengebiet nicht: Die herrschende Klasse - der Adel - war supranational organisiert, in den europäischen Adelsdynastien, die Unterklassen - hauptsächlich die Bauern - regional; die sprachliche Verständigung jenseits des nächsten Tales mochte schon schwerfallen, jenseits des nächsten Gebirgszuges war sie unmöglich.

Die Reklamation des "Heiligen Römischen Reiches" - nicht der "deutschen Nation"! - für die Gründung von Kaiser Heinrich I. sollte allerdings schwerwiegende Folgen haben: Der Ehrgeiz, das Erbe des Römischen Imperiums anzutreten, führte zu einer dauernden Abhängigkeit des Kaisers von Rom: nur wenn der Papst die Wahl eines neuen Kaisers bestätigte, konnte er von seinen christlichen Untertanen Anerkennung und Gefolgschaft erwarten. Dieses Abhängigkeitsverhältnis schwächte die Stellung des Kaisers zugunsten der Fürsten, verhinderte so die Herausbildung einer nationbildenden Zentralgewalt (wie in Frankreich und England) - und bot Stoff für die völkische Demagogie von Martin Luther.

Es ist kein Zufall, daß konservative Historiker in der Weimarer Zeit eine Traditionslinie von Luther zu Bismarck zogen und ihren gemeinsamen "Kampf um das evangelische Kaisertum deutscher Nation" (Max Lenz) (2) lobten. Luthers Geschrei gegen Rom und den Papst richtete sich gegen den universalen Charakter, den die christlich-römische Tradition verkörperte, und setzte die "deutschen" Christen just in dem Augenblick in Gegensatz zu ihren "italienischen" Glaubensbrüdern, als sich südlich der Alpen die ersten bürgerlichen Stadtrepubliken zu bilden begannen. Der anti-universale und anti-bürgerliche Charakter des Lutherismus gipfelte notwendig in wütendem Antisemitismus und in einer devoten Verbindung mit den Territorialfürsten gegen die revoltierenden Bauern. Das Luthertum war ebenso Sinnbild wie Katalysator der Rückständigkeit des Reiches gegenüber den sich bildenden modernen Nationen: Während in England, der Schweiz und den Niederlanden eine kräftige Bourgeoisie entstanden war und sich im Calvinismus bzw. Anglikanismus eine geeignete Ideologie zur Bekämpfung der katholischen Adelsherrschaft geschaffen hatte (und die französische Revolution zwar noch auf sich warten ließ, dann aber sogar unter dem Banner des Atheismus siegte), scheiterte in "Deutschland" die frühbürgerliche Revolution (Bauernkriege) nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Schwäche und Zerrissenheit des Bürgertums: Die Hansestädte in Nord- und Ostdeutschland standen in so gut wie keiner Beziehung zu den Interessen der süd- und mitteldeutschen Patrizier und wurden durch die Verlagerung der internationalen Handelswege nach 1492 zugunsten der süd- und westeuropäischen Hafenstädte katastrophal zurückgeworfen.

Aufgrund dieser Schwäche der anti-feudalen Kräfte im Reichsgebiet setzte sich in Mitteleuropa das reaktionäre Luthertum als zweite christliche Strömung durch, was wiederum den Dreißigjährigen Krieg auslöste. Nach jahrhundertelanger Zerrissenheit kam die deutsche Einigung schließlich erst 1871 zustande, und zwar durch das lutherische Preußen, das sich im Krieg gegen das katholische Österreich durchgesetzt hatte und schon kurz nach der Reichsgründung einen "Kulturkampf" (Bismarck) gegen die katholische Kurche und das Zentrum entfesselte. So wurde die im Mittelalter begonnene Tradition des anti-römischen Protestantismus ein weiteres Mal fundiert. Plessner schreibt: "Die für Deutschlands Entwicklung so fragwürdige Obrigkeitsfrömmigkeit des einzelnen und Staatsfremdheit des Ganzen hat in der politischen Indifferenz des Luthertums, in der Verbindung der lutherischen Kirche mit dem Landesherrn (cuius regio eius religio), in der Blockierung jedes nationalen Gedankens durch das katholisch und universal ausgerichtete Kaisertum, insofern also auch sehr wesentlich in der Glaubensspaltung, ihren Ursprung." (3)

Völkischer Nationalismus, kontinentaler Imperialismus

In Ländern wie Deutschland, in denen sich der Kapitalismus und die einheimische Bourgeoisie "verspätet" durchgesetzt haben, bildet sich auch ein besonders gefährlicher Imperialismus heraus, der die Tendenz zum antisemitischen "Rassenkrieg" schon in sich trägt. Hannah Arendt bezeichnet ihn als "kontinentalen" Imperialismus - im Unterschied zum "überseeischen" von England, Frankreich und den USA. "So wie der kontinentale Imperialismus in den Ländern entsteht, die glauben, bei der Neuverteilung der Erde im imperialistischen Zeitalter zu kurz gekommen zu sein, so verbreitet sich der völkische Nationalismus überall da, wo europäischen Völkern eine nationale Emanzipation gar nicht oder nur halb gelungen war." (4) Dieser "zu-spät-gekommene" Imperialismus versucht seinen Startnachteil dadurch wettzumachen, daß er nicht in Übersee, sondern auf dem eigenen Kontinent nach Annexionen schreit, wobei ihm der völkische Nationalismus gute Dienste leistet: Er erlaubt ihm die Berufung auf seine verstreut lebenden "nationalen Minderheiten", die "heim ins Reich" geholt werden müßten. Der Anspruch, die kontinental verstreuten Partikel des "eigenen" Volkes zu vereinigen, evoziert nicht nur Kriegsgefahr, sondern auch Antisemitismus. "Vergegenwärtigt man sich die völkischen Doktrinen und die Tatsache, daß sie nur zu gut auf die Existenzform der in kleinen Volkssplittern durcheinander siedelnden Nationalitäten zugeschnitten war, so fällt auf, daß sie keiner besser entsprachen als der des jüdischen Volkes. Im Sinne der völkischen Theorien mochte es sogar so scheinen, als seien die Juden das einzige vollkommene Modell eines Volkes, dessen geschichtlich bewährte Stammesorganisation die Panbewegungen nur nachzuahmen brauchten. Politisch ist das Mißliche in all solchen Konkurrenzkämpfen zwischen völkischen Außerwähltheitsansprüchen, daß innerhalb des abendländischen Kulturkreises die Juden unfehlbar als diejenigen empfunden werden müssen, deren Anspruch der älteste und legitimste ist. Der Haß der Völkischen auf die Juden entsprang den traurigen Residuen christlicher Frömmigkeit, die sich in die abergläubische Furcht verwandelt hatte, es seien vielleicht eben doch die Juden und nicht das eigene Volk, das Gott auserwählt und für den endgültigen Sieg über alle anderen Völker aufgespart habe." (5)

Der Sonderweg in der Geschichtswissenschaft

Das Auseinanderklaffen zwischen stürmischer ökonomischer Modernisierung auf der einen und der vor-modernen politischen Rückständigkeit auf der anderen Seite, das Deutschland zu Beginn des imperialistischen Zeitalters von den anderen Mächten unterschied, wurde bis in die Weimarer Zeit hinein durchaus als deutscher Sonderweg begriffen - allerdings mit positiver Konnotation! Werner Sombart versinnbildlichte z.B. England und Deutschland im Gegensatzpaar von "Händlern und Helden", der junge Thomas Mann zog die "Ideen von 1914" jenen von 1789 vor und stellte die deutsche "Kultur" der westlich-oberflächlichen "Zivilisation" gegenüber. Ideologisch konzentriert wurden diese Positionen in der verbitterten Stimmung nach dem Ersten Weltkrieg durch die Vertreter der "Konservativen Revolution".

Arthur Moeller van den Bruck, dessen Hauptwerk "Das Dritte Reich" als ideologischer Wegbereiter des Nationalsozialismus gelten kann, richtete seine schärfsten Angriffe nicht gegen den Sozialismus und die Arbeiterbewegung, deren Affinität zur preußisch-deutschen Staatsidee er durchaus zu würdigen wußte, sondern gegen den Liberalismus westlicher Prägung. "Es gab keinen Mißstand, für den der Liberalismus nicht verantwortlich war, keine Gefahr, die er nicht heraufbeschwor. Zwar verschwieg Moeller, was er unter Liberalismus verstand, aber offensichtlich war für ihn der Begriff 'liberal' gleichbedeutend mit unaufrichtig, verkrüppelt, schwach, rückgratlos, hilflos, tolerant, materialistisch, demokratisch und korrupt. Mit vielen seiner Zeitgenossen griff Moeller den Liberalismus nicht als politische oder soziale Philosophie, sondern als Lebensstil und Geisteshaltung an. Sie alle stellten sich gegen die Humanität und Rationalität des Liberalismus, hegten einen Groll gegen das, was sie als die unerträgliche Arroganz des Liberalismus bezeichneten, das Enrichissez-vous von Guizot, das sich in Deutschland ebenso auf Bildung wie auf materiellen Reichtum bezog." (6) In der Geschichtswissenschaft der Weimarer Zeit wurde der "deutsche Nationalcharakter" positiv ontologisiert, der deutsche Sonderweg von Luthers "teutschem" Aufstand gegen Rom bis zu Bismarcks "Verpreußung" Deutschlands gefeiert und das Debakel von 1918 mit dem "Dolchstoß" sozialistisch-internationalistisch-jüdischer Kräfte erklärt. (7) Positionen in der Tradition Max Webers, der die demokratischen Formen der westlichen Staaten als vorteilhafter für eine bürgerlich-kapitalistische Wirtschaft einschätzte, blieben isoliert.

Nach 1945 waren es vor allem Historiker, die von den Nazis in die Emigration getrieben worden waren, die die These vom deutschen Sonderweg aufgriffen - diesmal natürlich mit negativem Vorzeichen: Plessner, Stern, Hannah Arendt, Luk‡cs, von denen der obige Abriß inspiriert ist, darüber hinaus Kohn, Mosse und Holborn. Da die Arbeiten dieser Emigranten in der restaurativen Atmosphäre der Adenauer-Ära leider nicht die gebührende Beachtung gefunden haben, blieb es Fritz Fischer vorbehalten, hierzulande die entscheidenden Debatten zu initiieren. Sein Buch "Der Griff nach der Weltmacht" führte zu wütenden Protesten, sein Vortrag auf dem Deutschen Historikertag 1964 zu tumultartigen Szenen.

Während die konservativen Historiker, im Unterschied zur Weimarer Zeit, unter dem Eindruck der internationalen Ächtung Nazi-Deutschlands nichts mehr von einer deutschen Singularität wissen wollten und vielmehr die Eingebundenheit der BRD in das westliche Bündnis durch historische Studien zu unterfüttern suchten, arbeitete Fischer in seinen Untersuchungen zur Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges die Hauptschuld des Deutschen Reiches faktenreich und provokativ heraus. Infolge dieses Vorstoßes bildete sich Ende der sechziger er Jahre unter Führung des Sozialdemokraten Hans-Ulrich Wehler und unterstützt von Jürgen Habermas eine starke linke Historiographie an den westdeutschen Hochschulen heraus, die während der gesamten siebziger Jahre den konservativen Historikern um Hillgruber, Nipperdey und H.P. Schwarz Paroli bot. Die klare Herausarbeitung eines Zusammenhangs zwischen der anti-westlichen Genese des Bismarckismus und Wilhelminismus einerseits und des Nationalsozialismus und Vernichtungsantisemitismus andererseits war das Credo sowohl der "Bielefelder Richtung" (Jürgen Kocka u.a.), als auch der radikaleren "kritischen Geschichtswissenschaft" (Immanuel Geiss, Dieter Groh).

Die starke Stellung der linken Sonderwegstheoretiker wurde Anfang der achtziger Jahre gebrochen - und zwar nicht von der politischen Rechten, sondern von vermeintlich ebenfalls links stehenden Strömungen. Im Zerfallsprozeß der Apo hatte sich in der westdeutschen ML-Bewegung ein vulgärer Antiimperialismus verbreitet, der von einer Besonderheit des eigenen Imperialismus nichts mehr wissen wollte, sondern in Adaptation chinesischer Theorieversatzstücke die "beiden Supermächte" USA und UdSSR zur Zielscheibe der Kritik machten. Gegen sie müßten sich die von ihnen "unterdrückten Völker", worunter auch das "deutsche Volk" subsumiert wurde, im weltweiten Befreiungskampf zusammenschließen. Das Nivellierungsbedürfnis ging soweit, die Singularität, die man in der deutschen Geschichte und Gegenwart nicht thematisieren wollte, ausgerechnet auf Israel zu projizieren. Ganz im neonazistischen Tenor entdeckte die extreme Linke dort ein "Auschwitz in der Wüste" und eine "Endlösung der Palästinenserfrage".

Zwar waren diese Theorien in ihrer speziellen ML-Version wenigstens im öffentlichen Raum nicht diskussionsfähig, aber sie erreichten Breitenwirkung, als sie Ende der siebziger Jahre mit dem Zerfall der K-Gruppen ohne pseudokommunistische Phraseologie vorgetragen wurden: In der Friedensbewegung und der neuen Partei "Die Grünen" gehörte die Generalklage gegen USA und Sowjetunion, die Deutschland aus purer Bosheit besetzt hielten und nun auch noch seinen Untergang in einem "atomaren Holocaust" beschlossen hätten, zum Standardrepertoire der Geschichtsvergessenheit. War die Westbindung der BRD für die linken Historiker Ausdruck eines notwendigen Bruchs mit dem deutschen Nationalismus, so forderte der Ökopazifismus das genau Gegenteil: die Lockerung oder Lösung dieser Westbindung und - immer vehementer - die Wiedervereinigung.

Revisionismus von links

In der wissenschaftlichen Debatte wurde dieser Nationalismus ebenfalls von links her munitioniert. Bahnbrechend waren hier die Studien der englischen Historiker David Blackbourn und Geoff Ely (8) und die von ihnen beeinflußte Arbeit der westdeutschen Sozialdemokration Helga Grebing (9). Die Vorstellung vom deutschen Sonderweg - so ihre gemeinsame Kritik - setze einen Normalweg der Entwicklung voraus; einen solchen Normalweg aber habe es nicht gegeben, vielmehr ließen sich in der Geschichte jeder Nation Spezifika finden. Grebing nivelliert die Zuspitzungen der deutschen Geschichte zugunsten der "allgemeinen Entwicklungstendenzen des imperialistischen Kapitalismus" (10). Damit waren in marxistischer Verkleidung wichtige Argumentationsstränge vorgegeben, die auch die CDU-nahen Wissenschaftler um Nolte und Hillgruber im Historikerstreit 1985-88 zur Entschuldung der deutschen Nationalgeschichte ins Feld führten.

Da diese unheilvolle Allianz zwischen rechten und pseudolinken Positionen leider immer noch fortbesteht - ein zweites Werk von Geoff Ely erschien in Deutschland erst 1991 (11), und jüngere linke Historiker nehmen ebenso positiv darauf Bezug wie die Nolte-Schülern um Rainer Zitelmann (12) -, soll dem Geschichtsrevisionismus an dieser Stelle zumindest die Marxsche Maske heruntergerissen werden: Es war nämlich niemand anderes als Karl Marx selbst, der die Polemik gegen den deutschen Sonderweg begründete! "Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen", schrieb er im Vorwort "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie". Deswegen kombiniere Deutschland "die zivilisierten Mängel der modernen Staatswelt, deren Vorteile wir nicht besitzen, mit den barbarischen Mängeln des Ancien Regime." Sein Satz, "Deutschland wird sich daher eines Morgens auf dem Niveau des europäischen Verfalls befinden, bevor es jemals auf dem Niveau der europäischen Emanzipation gestanden hat", liest sich wie eine Vorahnung von Weltkrieg und Faschismus. (13) Auch im "Kommunistischen Manifest" greift Marx diese Sichtweise wieder auf, indem er die Haltung kritisiert, "die deutsche Nation als die normale Nation und den deutschen Spießbürger als den Normalmenschen" zu verharmlosen. (14)

Leider hat der "deutsche oder wahre Sozialismus", den Marx in dieser Passage verspottet, in der Folge einen Siegeszug in der deutschen Arbeiterbewegung angetreten und zunächst die "königlich preußische" Sozialdemokratie, später auch die KPD, die mit den Nazis um die Bekämpfung der "Schmach von Versailles" wetteiferte, infiziert. So wurde die von Marx in den Frühschriften entwickelte Deutschland-Kritik in der marxistischen Bewegung nicht mehr weiter beachtet, sieht man von bestimmten Passagen in Georg Luk‡cs "Die Zerstörung der Vernunft" ab. Die oben zum Teil zitierten Publizisten und Wissenschaftler, die nach der Erfahrung des Nationalsozialismus diesen Ansatz neu entdeckten, verbanden in der Regel die notwendige Herausarbeitung des anti-westlichen Sonderweges der deutschen Nation mit einer Apologie der westlichen, also der bürgerlich-kapitalistischen Nationen. Nur so ist wohl auch zu erklären, wieso Wehler, Habermas, Geiss e tutti quanti den von ihnen in der Theorie so tapfer verteidigten Ansatz just in dem Augenblick verrieten, als er praktisch Konsequenzen hätte zeitigen müssen: Die Wiedervereinigung, von ihnen vordem als "nationalstaatliches Abenteuer" und mögliches "Viertes Reich" (Geiss, 1988) abgelehnt, wurde von den linken Historikern schließlich doch toleriert, da der von ihnen idealisierte Westen - d.h. die Nato-Allierten - dem Prozeß ihren Segen gaben (wenigstens oberflächlich betrachtet).

Die verspätete Nation als Avantgarde

Den Versuch, die Wurzeln einer totalitären Entwicklung auch in der bürgerlichen Gesellschaft selbst zu suchen, ohne deswegen die Besonderheiten Deutschlands zu leugnen, unternahmen Max Horkheimer und Theodor Adorno in der "Dialektik der Aufklärung" und anderen Werken. Analysen zur deutschen Geschichte finden sich bei ihnen allerdings nur verstreut und kursorisch. Jürgen Kocka andererseits, der einen mehrjährigen Untersuchungsprozeß mit einer Vielzahl in- und ausländischer Wissenschaftler zum "Bürgertum im 19. Jahrhundert - Deutschland im europäischen Vergleich" (15) initiierte, mangelte es an Kritischer Theorie, um seine systematischen Ergebnisse gegen die herrschende Wirklichkeit zu schärfen. So blieb es einem kaum bekannten Publizisten und einem kleinen Verlag vorbehalten, beides zusammenzubringen: Ulrich Enderwitz und seinem Buch "Volksstaat und Antisemitismus" (16).

Im Unterschied zu den gängigen Sonderwegs-Thesen geht Enderwitz davon aus, daß der moderne Antisemitismus kein Relikt vor-kapitalistischer Zeit ist (ergo eine "normale" kapitalistische Entwicklung wie in den westlichen Staaten das beste Remedium darstelle), sondern Resultat des Übergangs vom Frühkapitalismus zum entwickelten Kapitalismus (und als solcher prinzipiell überall auftreten muß). In allen modernen Gesellschaften habe nämlich die Übernahme der Staatsmacht durch das Besitzbürgertum eine gefährliche Destabilisierung bewirkt, da das immer mehr anschwellende Proletariats bei seinem wirtschaftlichen Überlebenskampf im Bourgeois nicht nur auf den Arbeitgeber, sondern in Personalunion auch auf die Staatsmacht traf. Deshalb sei es notwendig geworden, im Interesse der ungestörten Kapitalakkumulation die Bourgeoisie aus der Staatsmacht abzudrängen und den Staat als über den Klassen stehende Leviathan zu etablieren (was Marx am französischen Beispiel von Napoleon III. als "Bonapartismus" definierte). In dieser Konstellation reaktiviert der Staat den Antisemitismus in neuer Funktion: Er attackiert den Juden als Alter Ego des egoistischen Kapitalisten, der den persönlichen Profit über das langfristige Interesse der Nationalökonomie stellt. So demonstriert der "ideelle Gesamtkapitalist" gegenüber dem Proletariat seine vermeintliche Klassenneutralität, gegenüber der Bourgeoisie seine Potenz als Zuchtmeister von Partikularinteressen.

In Deutschland habe diese generelle Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft deswegen eine besondere Dynamik erhalten, weil der preußische Obrigkeitsstaat nicht eine schon vorhandene Bourgeoisie diszipliniert und in die nationale Pflicht genommen habe, sondern - und hier spielen die anfangs geschilderten Spezifika der deutschen Geschichte durchaus eine Rolle - an Stelle der Bourgeoisie von Anfang an die Durchsetzung und den Aufbau kapitalistischer Strukturen geleitet habe. Die frühbürgerlichen Tugenden des Individualismus, der Toleranz und des Liberalismus, die in Staaten wie England und Frankreich konstitutiv für die Nationbildung waren und ein Gegengewicht gegen die Herausbildung eines gefräßigen Leviathan (und seinen Antisemitismus!) blieben, fehlten also in Deutschland völlig. Schlimmer noch: Da die von Lassalle mehr als von Marx geprägte Arbeiterbewegung auf den Staat fixiert war, wurde auch sie vollständiger als in anderen Ländern in diesen Prozeß einbezogen.

Im Anschluß an Enderwitz muß man die Frage stellen, ob sich die Vorteile der westlichen Gesellschaften gegenüber dem singulären deutschen Modell nicht im Laufe der Zeit verlieren müssen. Zum einen verblaßt die Erinnerung an die revolutionäre Phase der Bourgeoisie mit zunehmender historischer Distanz, zum anderen hat die Rolle des Staates als Subjekt der Ökonomie im Monopolkapitalismus weltweit zugenommen. Die totalitäre Potenz des Keynesianismus war nicht geringer als der faschistischen Planökonomie, sondern wurde lediglich durch das kriegerische Aufeinanderprallen beider Systeme im Zweiten Weltkrieg und die dadurch notwendige antifaschistische Mobilisierung in den westlichen Staaten gedämpft. Der moralische Schock angesichts der Leichenberge von Auschwitz und Bergen-Belsen und die eigenen Verluste der Alliierten haben den Antifaschismus allerdings aus der propagandistischen Unverbindlichkeit hinausgeführt und ihn im kollektiven Gedächtnis der westlichen Staaten verankert, wo er das liberale Erbe der frühbürgerlichen Phase neu fundamentierte. Wie lange diese Immunisierung trägt, ist jedoch fraglich, angesichts des aktuellen Vormarsches rassistischer Parteien in allen westeuropäischen Staaten könnte man schon skeptisch werden. Jedenfalls kam in Nazi-Deutschland, so die von Enderwitz nahegelegte Schlußfolgerung, eine Tendenz zum Durchbruch, die allen kapitalistischen Gesellschaften immanent ist. Deutschland, die verspätete Nation, war zugleich Avantgarde einer allgemeinen Barbarei.

Anmerkungen

(1) Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, Frankfurt/Main 1974, S. 81

(2) zit. n. Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges, München 1980, S. 127

(3) Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, Frankfurt/Main 1974, S. 46

(4) Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Frankfurt/Main

(5) Hannah Arendt, Elemente...

(6) Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern und Stuttgart 1963, S. 239/40

(7) ausführlich in: Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges, München 1980

(8) David Blackbourn/Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1980

(9) Helga Grebing, Der "deutsche Sonderweg in Europa", 1806-1945. Eine Kritik, Stuttgart Berlin Köln Mainz, 1986

(10) Helga Grebing, Der "deutsche Sonderweg ...", S. 137

(11) Geoff Eley, Wilhelminismus, Nationalismus, Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland, Münster 1991

(12) von links z.B. Klaus Schönberger/ Claus Köstler, Der freie Westen ..., Marbach 1992; von rechts Rainer Zitelmann/Karlheinz Weissmann/Michael Grossmann, Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland, Berlin 1993

(13) Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Karl Marx, Die Frühschriften, Stuttgart 1968, S. 207ff

(14) Karl Marx/Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest, in: Karl Marx, Die Frühschriften, Stuttgart 1968, S. 551ff

(15) Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert - Deutschland im europäischen Vergleich, Band 1-3, München 1988

(16) Ulrich Enderwitz, Volksstaat und Antisemitismus. Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung, Freiburg i. B. 1991