23. Kapitel 71

Fortgesetzte Erzählungen

Das Kapitel heißt so, weil es in Kapitel 12, das von Stasi, die 1953 nach Bad Nauheim, wo sie einen Jazzkeller mit vorwiegend amerikanischer Kundschaft eröffnete, verzog, handelte, hieß: "Was aus Truschka wurde, erzähle ich später mal. Vielleicht in Kapitel 71."

Wir tranken Bier im Zillertal in der Münchner Straße, Truschka und ich, weil der AFN gemeldet hatte, daß Elvis Presley manchmal hier die Hüfte schwingen lasse. Truschka war Ickes Cousine, und wir schliefen auch zusammen, aber ihr Steckenpferd waren die GIs, die an den Wochenenden das Frankfurter Bahnhofsviertel bevölkerten.

Bei uns saß ein Salesman namens William W. Wannemaker, den wir Big Bill nannten. "My name ist Three-double-you", sagte er zu den Mädels, "but just call me Big Bill's big balls!"

Es gab etliche Ami-Lokale, auch reine Bimbo-Bars, ferner riesige Schuppen, nicht gerechnet die Clubs mit der Aufschrift for US-personal only, wie den Toppers Club neben dem PX, aber dank Big-Bill's-big-balls, zu denen Truschka ein undeutliches Verhältnis hatte, kamen wir überall rein.

Nicht, daß ich Truschkas Zuhälter war. Es blieb mir nichts weiter übrig, als an meinen Martinis und Highballs zu suckeln, wenn sie sich von rosigen, feisten Sergeants und keilförmigen Negern Komplimente machen und manchmal auch poppen ließ, und für mich blieben immer ein paar Drinks, ein Steak und eine Handvoll Dollars hängen.

Kurz: Eine attraktive Freundin war Gold wert für einen Studenten, der sein Geld mit Jobs verdiente, und so ging's uns nicht übel. Tagsüber studierten wir ein bißchen, Truschka was Politisches bei Adorno und Horkheimer, und ich Jura gleich nebenan, und wenn wir Geld brauchten, jobbten wir oder gingen mal kurz auf den Strich. Ich in Lokalen wie dem Beau Brummel und Truschka eben in der Bar im Frankfurter Hof.

Zu der Zeit, von der ich erzähle, hatte ich einen Job bei Mr. Three-double-you, der als Mister-five-per-cent irgendwelche Konsumartikel in den deutschen Markt pushen wollte.

In seinem Keller hatte er an die hundert Items, die in den States Standard waren, und von denen ich nicht ahnte, daß man sie brauchte, bis ich Big Bill kennenlernte - also Dampfbügeleisen, eine nicht klebende Bratpfanne und einen Druckdämpfer, in dem man Eichhörnchen in fünf Stunden garen konnte, statt in sieben wie in einem herkömmlichen Schmortopf.

Auch den Barbecueset und die elektronischen Lockenwickler mit Thermostat und Ausschaltautomatik lernte ich durch die Three-double-you-sales-company kennen. Die meiste Zeit besuchten wir allerdings die US-Basen bis in die Pfalz runter, da die Einkäufer deutscher Warenhäuser nicht wußten, was der Mensch alles braucht.

Das Zillertal war etwa so groß wie ein Fußballfeld, düster und runtergekommen und ohne jeden Zierat. Bierlachen, wohin man sah. Der Schuppen war fast leer, denn es war noch früh. Ein paar besoffene GIs torkelten umher oder fielen fast von den Stühlen, und die Veronikas, Typ Verkäuferin, Friseuse, Tippse, beileibe keine Nutten, hatten wenig Abwechslung.

"Scheißabend", sagten sie, "schon zehn Uhr und erst einmal geberscht."

Am Nebentisch unterhielten sich zwei über einen, der einen besonderen Schwanz hatte, und zum ersten Mal hörte ich hier auch das Wort

T-shirt. So wie sie es aussprachen, schien es ein Hemd zu sein, das die GIs zum Geschlechtsverkehr anzogen.

Im Windfang verprügelten zwei US-Militärpolizisten einen Neger, der die beiden mit links erledigt hätte, wenn es ratsam gewesen wäre. Sie trugen weiße Handschuhe, weiße, seidig schimmernde Halstücher und engsitzende Hosen mit scharfer Bügelfalte. Ihre schwarzen Springerstiefel strahlten wie Diamanten und ihre Schutzhelme saßen wie angegossen.

Sie lächelten und untermalten ihre Bemühungen mit munteren Rufen. Fast tänzerisch umkreisten sie den Bimbo, und ihre langen Schlagstöcke wirbelten durch die Luft wie in einer Variété-Nummer. Der Schwarze schrie dumpf wie ein Stier und versuchte seinen Kopf mit den Armen zu schützen. Es war gute Arbeit, die sie leisteten, was leider kaum jemand zur Kenntnis nahm.

Man sah, was da geboten wurde, hängte sich aber nicht rein und fragte nicht, warum und wieso. Die Dinge waren einfach so wie sie waren, und das war ein gewisser Vorteil jener Jahre.

Es war überhaupt ein merkwürdiges Jahr, wenn ich mein Tagebuch anschaue. In Beirut landen US-Truppen, um den Aufstand im Irak niederzuschlagen, die ersten Ostermärsche ereignen sich, Fidel Castro entführt den Automobilweltmeister Juan Manuel Fangio, Chruschtschow wird Ministerpräsident, Krise der US-Wirtschaft, Charles de Gaulle kehrt zurück, in China gibts die ersten Volkskommunen, die Nitribitt sucht immer noch ihren Mörder, Feuchtwanger stirbt, Pasternak kriegt den Nobelpreis, darf ihn aber nicht annehmen, der Hula-Hoop-Reifen wird eingeführt, Chruschtschow bietet Friedensvertrag gegen Bündnisfreiheit, und die Amis schaffen nicht mal mehr ein Mäuschen in den Weltraum, während der sowjetische Sputnik kreist und keiner weiß, ob er nicht irgendwelche geheimnisvollen Waffen an Bord hat.

Die seltsamste Meldung aber war im März, daß Elvis nun doch seinen Wehrdienst antreten werde. Das war natürlich eine Niederlage für jeden Musikliebhaber. Ein Elvis ging nicht zum Militär. Er war Teil jener neuen Subkultur, die wir vielleicht nur liebten, weil sie den Alten mißfiel. Mit Bill Haley und Elvis betraten die Halbstarken die Szene, wurde es Usus, gewaltige Arenen, wie den Sportpalast in Berlin, die Merck-Halle in Hamburg, zu zerlegen und sich mit der Polizei zu prügeln.

Kurz: Nicht '68 ist das Schlüsseljahr, mit dem eine neue Ära begann, sondern '58.

Andererseits hatte Elvis' Umfaller auch Vorteile. Wir hatten ihn jetzt praktisch vor der Haustür, denn er lebte mit Vater und Großvater in einer Villa in Bad Nauheim, wo jeden Morgen ein Straßenkreuzer vorfuhr, um ihn nach Friedberg zu chauffieren, und es gehörte zum guten Ton, nach durchsoffenen Nächten morgens um fünf mit den ersten Zug in die Wetterau zu tuckern und die Fahrroute zu säumen, wo Schulkinder, Hausfrauen etcetera auf den King of Rock'n'Roll warteten.

Der King kam, ließ halten, forderte ein Kind zum Einsteigen auf, brachte es persönlich zur Schule und fuhr weiter in seine Kaserne, wo ein Viersternegeneral ihm den Arsch abputzte. Die Frauen fielen in Ohnmacht, und die Männer meckerten über seine Privilegien. Ich weiß nicht, ob es stimmte, aber so stand es anderntags in der Zeitung.

O.k.

Wir saßen also im Zillertal, im Windfang hatte die Putzfrau das Blut vom Boden gewischt, die Rausschmeißer sortierten das Mobiliar und von Zeit zu Zeit schwappte ein Rudel Amis herein. Die Mädels kreischten ein bißchen, die GIs führten ihre Begrüßungsrituale vor, die darin bestanden, daß sie die Arme hoben und sich gegenseitig in die Hände klatschten und urige Laute von sich gaben, und die Bierlachen wurden immer größer.

"Eine komische Art, euer Bier zu trinken, habt ihr Yankees", sagte ich beiläufig, aber Big Bill schlug sich nur zwischen die Schenkel und raunzte:

"These balls are born from dixie!"

Man sah jetzt auch Deutsche, sogar Verbindungsstudenten in Band und Mütze, die einen großen Tisch okkupierten und von den GIs angehimmelt wurden. Fotoapparate blitzten, in Bühnennähe hantierte ein dünnbärtiger Jüngling mit einem Tonbandgerät, Soundchecks, Playbacks trieben den Geräuschpegel explosiv in die Höhe, und der Schuppen füllte sich bedrohlich.

Gegen elf ging die erste Glastür zu Bruch. Biergläser flogen, und die Sanitäter sahen alt aus, wenn sie vorbeikamen. Der King kam dann auch noch. Bodyguards schlugen eine Schneise in die Menge, was man aber nur am Geschrei und Gedränge bemerkte, dann sprang er auf die Bühne, während aus den Lautsprechern eine Art Vorspiel zirpte.

Wenn er sich jetzt die Ausgehuniform vom Leib gerissen und sie angezündet hätte - ach was: Wenn er mit dem gehörigen Röhren und Gicksen und der nötigen Ekstase einen seiner Schmachtfetzen geschmettert hätte, Tutti frutti etwa, das Little Richard ebensogut sang - wäre ich vielleicht damit versöhnt gewesen, daß er klein beigegeben, daß Uncle Sam ihn letztlich doch gekeilt hatte, und das nur, wie die Zeitungen schrieben, "um in der öffentlichen Meinung in den USA einen Umschwung zu seinen Gunsten herbeizuführen".

Aber er gab Mütze und Jacke einem Begleiter und sang Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus. Aus allen Boxen klang die Schmach, die Buxen sangen mit, die GIs grölten, die Mädchen fielen in Ohnmacht, Truschka kriegte dieses innige, idiotische Lächeln, das sie auch auflegte, wenn ein Captain ihr die Hand auf den Po legte und Pat Boone Love Letters schmalzte, aber ich empfand Trauer.

Das ist alles, was ich über das Jahr 1958 so auf Anhieb sagen kann.

Nächste Woche: "Ware Liebe".