26. War wer Homer?

Fortgesetzte Erzählungen

Mager und bleich, Geheimratsecken im glatten Haar, die Overstolzkippe im Mundwinkel, schaute Stroessel zur Uhr in der grauen Fassade. Einschußlöcher bedeckten wie Narben die Wand. Er fummelte ein zerfetztes Papiertaschentuch heraus, schneuzte sich und betrachtete den Rotz, der an seinen nikotinbraunen Griffeln klebte.

Der Krieg war acht Jahre vorbei, aber immer noch ablesbar war die Schrift über dem Portal und erkennbar der Adler, der auf dem Hakenkreuz hockte, wie ein Huhn, das sich mal eben vom Brüten erhebt. Man hatte die Buchstaben und das Emblem runtergeschlagen, doch niemand im sozialdemokratischen Kassel kam auf die Idee, die Schmach endlich zu tilgen.

Hermann-Göring-Schule. Stroessel spuckte die Kippe in den schwarzen Feinsplit. Wie lange noch wollten sie einen dran erinnern, von Montag bis Freitag? Quo-usque tandem? Knopp von oben zählte auf dem Schulhof drei Autos, ein Motorrad, einige Fahrräder, aber kein Tandem. Erinnern, woran?

An den Krieg, Dummi, das mechanische, feige, apathische Sterben. Die unersättliche Todessehnsucht, die Freund und Feind getrieben hatte, fünf Jahre lang, als wäre es unmoralisch oder zumindest unfair gegenüber den schon Gestorbenen, aus diesem Wahnsinn lebend herauszukommen.

Hatte er rebelliert, sich aufgelehnt, die Waffe weggeworfen, die anderen aufgefordert, es ihm nachzumachen?

Nänä. Daneben gehalten, die paar Male, die er zum Abdrücken kam, Schiß gehabt, der einzige zu sein, der sich weigerte, den Irrsinn länger mitzumachen. Gewußt, daß er der einzige sein würde. Ein paar dumme Sprüche geklopft, hat doch alles keinen Zweck mehr, und dann abgewiegelt, vor dem Kriegsgericht, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, und das Maul gehalten, im Zuchthaus, später im Strafbataillon.

Der Adler schien zu grinsen. Fehlte nur, daß er die Pfote hob zum Heitler. Stroessel betrat die Schule. Reinigungsmittel, Bohnerwachs, Herbstfeuchte, junge Leute, die breite Steintreppe rauf. Romanische Fensterbögen, verzierte Kapitelle an den Säulen im Treppenhaus, Vitrinen, Pokale, Urkunden. Vormittags beherbergten diese Hallen eine Berufsschule. Ab siebzehn Uhr das Abendgymnasium für Berufstätige.

Direktor Knopp sah so aus, wie er hieß. Klein und rund. "Ah, Herr Studienrat, nehmen Sie Platz. Was macht die Klasse?" Leises Lachen. "Schlapp, schlapp." Verdrossenes Nicken. "Was lesen Sie grade?" - "Homer." - "Gottchen, ja, der Hexameter ist für Berufstätige vielleicht auch nicht so geeignet. Versuchen Sie's mal mit Liliencron oder dem FC Meyer. Das hat schon hartgesottene Analphabeten erschüttert."

Udo Knopp, ebenfalls Deutschlehrer, war ein großer Vortragskünstler und liebte klangvolle Gedichte, mit denen er auch in der Aula brillierte, zur jährlichen Abiturfeier.

"Klingling, bumbum und tschingdada!"

Der kleine Mann erhob sich auf die Fußspitzen und hüpfte, der Bauch hüpfte, der Fußboden vibrierte, die Worte erklangen wie Musik und dann: Break! Breitbeinig, starr, der Rezitator, den Blick verträumt nach oben gerichtet wie zum Pinkeln:

"Aufsteigt der Strahl und fallend gießt er voll der Marmorschale Rund!"

Stroessel nickte halbherzig. Ihm war Homer lieber. Ein Mann zieht in den Krieg, keiner weiß, warum, angeblich wegen einer Frau, geht auf der Heimreise verschütt, strandet mal hier, mal da, und hat für den Rest seines Lebens zu erzählen. Eine Allerweltsgeschichte, auf Familiennachmittagen und an Wirtshaustischchen damit zu prahlen: Wo wir schon alles hingeschissen haben!

Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus! Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes!

"Aber ich hab' hier ihren Brief, mein Lieber. Ihre Beschwerde über den Kollegen Mallmann. Ist das nötig?"

Stroessel lächelte gequält. Er wollte nicht undankbar sein. Knopp hatte ihn genommen, nachdem die Eltern von Hofacker seine Versetzung durchgesetzt hatten, weil er den Schülern erzählt hatte, welche Häuser früher den Juden gehört hätten, aber die Beschwerde mußte sein. Mallmann war zum Kotzen. Mallmann bedauerte, u.k. gewesen zu sein. "Wo haben Sie gedient, Herr Kollege?" - "Leider nur an der Heimatfront."

Stroessel kruschtelte in der Ledertasche und holte Das Beste aus Reader's Digest hervor, die englische Ausgabe, klappte das Buch auf und ereiferte sich:

"Der von seiner Zentrale in Moskau gesteuerte Weltkommunismus hat sich heute zu einer weit größeren Gefahr für die Menschheit entwickelt, als Nazideutschland es jemals war. Zitat Ende: Das kann er doch nicht ernstlich als Lektüre geben."

Knopp, diplomatisch: "Was für Texte ein Kollege im Englischunterricht lesen läßt, ist seine Sache, sofern sie den didaktischen Zweck erfüllen und nicht gegen das Schulgesetz verstoßen. Nehmen Sie den Brief wieder mit, ich bitte Sie."

"Aber das ist zynische Kriegshetze, Pamphletismus, eine unzumutbare Verharmlosung der Verbrechen der Nazis."

"Mit dem gleichen Recht, lieber Herr Stroessel, könnte Ihr Kollege Mallmann behaupten, Sie mißbrauchten die Weltliteratur, um Ihren Haß auf die Wehrmacht durch unqualifizierte Schmähungen des deutschen Soldatentums abzureagieren!"

Stroessel griff nach dem Brief. "Sind wir schon wieder so weit?" - "Das bißchen Geklapper zur Wiederbewaffnung. Sehen wir uns nachher im Zug?"

Nicken, na, dann sehn wir uns ja, noch 'ne Overstolz und ein dunkler Schmerz im Solarplexus nach den ersten tiefen Zügen.

Leere im Hirn, leichte Gleichgewichtsstörungen.

Knopp sah ihm nach, wie er zu seiner Klasse ging. Querulant.

Stroessel, immer flacher werdend, und als er die Klassentür öffnete, nur noch halbdimensional. Doch, ja. Es gibt Situationen, wo man rechthaberisch ist, auch, wenn man recht hat.

Die Schüler, das Gros um die zwanzig, ein paar schon älter, müde Gestalten, verzeihlich. Die meisten waren seit dem Morgengrauen auf den Beinen und hatten neun Stunden Arbeit hinter sich. Auf dem Bau, in der Fabrik, im Büro. Stroessel versuchte es mit einem Späßchen:

"War wer Homer?"

Er hatte darum gebeten, übers Wochenende einen Aufsatz zu schreiben. Vorgaben: Die Odyssee war wohl nicht von ihm, die Ilias beruhte auf Überlieferungen, und in Hexametern verfaßte jeder zweite Notar in Millet die Bestellung einer Grundschuld. Also: Mußte es überhaupt einen Homer gegeben haben? Sprachen die Gesänge für einen individuellen Dichter?

Die Klasse schwieg. Verzeihlich auch das: Die meisten waren nur hier, um sich mittels Abitur aus der sozialen Scheiße zu erheben. Dazu brauchte man keine Literatur.

Nur einer schnippte. Farbflecken an den Finger, stank nach Terpentin. "Na, Modjewski? Dann lassen Sie mal hören." - "Sage mir, Modder, wo warst du am vorvergangenen Samstag, da du so viel gezecht, daß du hinterher hast dich verlaufen."

Alle lachten, und es wurde dann doch noch eine ganz nette Stunde. Modjewski hatte ein Dorffest mit gargantueskem Gefresse und Gesaufe, Fall in die Jauchegrube, Ehebruch auf dem Heuboden, in Hexameter verpackt. Die im Chaos endende Familienfeier als trojanischer Krieg, der Heimweg als Odyssee, und daheim im Stall hatte inzwischen die Sau geferkelt und begonnen, ihre Brut aufzufressen. "Geh nun zu Bett und ruhe vom artverwandten Geschmatze."

Der Zug nach Hofacker fuhr um 21.30. Herbstmief, Zigarettenqualm. Knopp schlief in der Ecke und prustete leise. Stroessel setzte sich zu Modjewski. "Vielleicht sollten Sie Schriftsteller werden oder so was."

Der junge Mann lachte. Er trug einen großen Tintenfleck auf der linken Tasche der viel zu großen hellen Jacke. Seine blonden Locken tanzten, und er blitzte Stroessel an. "Sie sind ein netter Mensch, aber wenn ich das hier hinter mir habe, studiere ich was Gescheites, kaufe mir einen Anzug, und in zehn Jahren können Sie bei mir als Vorleser anfangen."

Der Zug rumpelte. Jeremias Stroessel erschrak. Homer war keiner mehr.

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