Achtung, Mitgefühl!

Nach 53 Jahren will auch die Regierungskoalition die Beschlüsse der Nazi-Erbgesundheitsgerichte aufheben

"Achtung und Mitgefühl" zollte der Deutsche Bundestag 1988 den rund 350 000 Opfern der nationalsozialistischen Sterilisationspraxis. Die Grünen hatten damals einen Antrag eingebracht, der die rechtliche Ächtung des NS-Erbgesundheitsgesetzes, Grundlage der Zwangssterilisationen ab 1933, vorsah. Soweit wollte der Bundestag nicht gehen und beließ es dabei, diese Maßnahme der NS-Erbpflegepolitik unverbindlich als einen "Ausdruck der inhumanen nationalsozialistischen Auffassung vom 'lebensunwerten Leben'" zu ächten. Weiterhin galten die Opfer der Zwangssterilisation nicht als Verfolgte des NS-Regimes im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes, und damit sparte man sich Renten von monatlich 1 000 Mark pro Person. Statt dessen werden, ein entsprechender Antrag vorausgesetzt, die Betroffenen nach wie vor mit einem Almosen von 100 Mark abgespeist, und selbst das erst seit der Härtefallregelung von 1980.

Nun besteht erstmals die Chance, daß die Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte aufgehoben und Sterilisationsopfer Ansprüche nach dem Bundesentschädigungsgesetz geltend machen können. In den nächsten Wochen will die Koalition einen entsprechenden Regierungsentwurf vorlegen. Das Bundesjustizministerium hat bereits im letzten Jahr einen Text für ein Aufhebungs-Gesetz erarbeitet, aber erst nachdem Grüne und SPD Anfang März eigene Anträge in den Bundestag eingebracht hatten, konnte sich der FDP-Justizminister jetzt in der Koalition mit seinen Vorstellungen durchsetzen.

53 Jahre nach Kriegsende sollen alle noch rechtskräftigen Beschlüsse, die von Erbgesundheitsgerichten erlassen wurden, aufgehoben werden. Diese Erbgesundheitsgerichte waren nach dem Erlaß des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" im Juli 1933 eingerichtet worden, um die Anträge auf Sterilisation, die auch von Amts- und Gerichtsärzten gestellt werden konnten, zu prüfen. Menschen, die erblich blind, taub oder "körperlich mißgebildet" waren oder auch einfach an Alkoholismus litten, konnten auf Gerichtsbeschluß sterilisiert werden. Der persönliche Wille spielte keine Rolle. 96 Prozent aller bis 1945 sterilisierten Personen wurden mit der Diagnose Schwachsinn, Schizophrenie, Epilepsie oder manisch-depressives Irresein unfruchtbar gemacht. Den Tod von 5 000 Frauen und etwa 600 Männern bei den Eingriffen nahmen die Nazis in Kauf und gaben damit einen Vorgeschmack auf das später anlaufende Euthanasie-Programm, der Ermordung von 250 000 Behinderten. Die Methoden bei der Sterilisation waren ungewöhnlich brutal: Leisteten Menschen Widerstand, brachte sie die Polizei auf den Operationstisch, stellten sie nicht freiwillig einen Antrag auf Sterilisierung, wurden sie mit Konzentrationslager bedroht.

Daher unterscheidet der Gesetzentwurf Schmidt-Jortzigs nicht zwischen "selbst" gestellten Anträgen und Anordnungen der Erbgesundheitsgerichte, die gegen den Willen der Betroffenen ergangen sind. Nach Schmidt-Jortzigs Entwurf stellen zwar die Urteile spezifisches NS-Unrecht dar, deren gesetzliche Basis, das Erbgesundheitsgesetz, wird aber nicht, wie das die Grünen in ihrem Gesetzentwurf zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile fordern, "per Gesetzesakt als NS-Unrechtsgesetz von Anfang an" erklärt. Und das, obwohl sich gerade in diesem Gesetz schon im Wortlaut ein grundlegendes Element der NS-Ideologie, die Eugenik, manifestiert. Auch Entschädigungsansprüche über die 1980 beschlossene Härteregelung hinaus sind in Schmidt-Jortzigs Entwurf nicht vorgesehen.

Fast 30 Jahre Bedenkzeit hatte sich die BRD nach dem Schock der militärischen Niederlage gegönnt, um das Erbgesundheitsgesetz - zwar nicht für Unrecht zu erklären, aber durch das 5. Gesetz zur Strafrechtsreform von 1974 bundesweit zumindest außer Kraft zu setzen. Zuvor hatte der Bundestag immer wieder Gründe gefunden, das NS-Gesetz unangetastet zu lassen. Einmal hieß es, die Aufhebung sei so unnötig wie gegenstandslos, weil in vielen Bundesländern bereits kurz nach dem Krieg Verordnungen zur vorläufigen Außerkraftsetzung ergangen waren. Ein anderes Mal sollte, so die Version der Bundesregierung aus dem Jahre 1957, die Aufhebung nicht möglich sein, weil es sich bei dem Sterilisationsgesetz nicht um spezifisches NS-Unrecht gehandelt habe.

In einer kurzschlüssigen Analogie verwies man dabei auf ähnliche Regelungen in quasi demokratisch imprägnierten Staaten wie Dänemark, Schweden oder Teilen der USA. In den Folgejahren wehrte sich der Bundestag erfolgreich gegen die Wiedergutmachung mit dem Hinweis ausgerechnet auf die Expertise eines Werner Villinger, der, Rassenhygieniker der ersten Stunde, das Gesetz auch nach dem Krieg rechtfertigte. Bis 1974 war auf diese Weise die Sterilisation Behinderter in einer juristischen Grauzone weiter praktiziert worden. Insgesamt kamen bis 1992 zu den 350 000 von den Nazis Sterilisierten noch einmal etwa 40 000 hinzu, die die Ergebenheitsadresse der BRD an die Erbgesundheitspolitik der Nazis mit ihrer körperlichen Unversehrtheit bezahlten. Denn bis 1992, zitierte die Frankfurter Rundschau im August letzten Jahres vorsichtige Schätzungen des Bundesjustizministeriums, wurden jährlich etwa 1 000 behinderte Frauen zwangssterilisiert.

Der interfraktionelle Eiertanz um die vollständige Rehabilitierung hat jedenfalls zur Folge gehabt, daß die Betroffenen trotz anderslautender Bekundungen seitens der offiziellen Politik noch immer nicht vom Makel der Minderwertigkeit befreit sind. Die Sorge um die genetische Qualität des Volkes mag das Alltagsdenken heute nicht mehr beherrschen, der abmessende Blick auf die Gezeichneten ist geblieben. "Noch bis in die letzten Jahre", berichtet Saathoff, "bekamen Betroffene, die einen Antrag auf Entschädigung stellten, von den Beamten zu hören: Entschädigung? Für was denn? Ihr seid doch zum Wohl des Volkes sterilisiert worden."