Gnädige Ärzte

Der Nürnberger Ärzteprozeß holte die NS-Euthanasie nur kurz ins öffentliche Bewußtsein - erst jetzt werden die Prozeßakten vollständig aufgearbeitet

"Karl Brandt - schuldig". Ein Mann von unscheinbarer Statur, mit weichen Gesichtszügen, einer markanten, runden Nase und ruhigen, dunklen Augen erhebt sich von der Anklagebank. Es ist der Vormittag des 20. August 1947. Soeben hat, die Wortsilben zerkauend, der Vorsitzende Richter des US-amerikanischen Militärgerichtshofes, Walter Beals, das Todesurteil über Hitlers Leibarzt gesprochen. Zwei Sicherheitsbeamte der Streitkräfte begleiten Prof. Dr. med. Karl Brandt, Generalleutnant der Waffen-SS, aus dem Gerichtssaal des Nürnberger Justizpalastes.

90 000 Ärzte praktizierten in Nazi-Deutschland, 350 waren unmittelbar in Medizinverbrechen involviert, ganze 23 landeten auf der Anklagebank des Nürnberger Ärzteprozesses, der im Dezember 1946 begann. Diese 23 leitenden Persönlichkeiten des nationalsozialistischen deutschen Gesundheitswesens waren nach den Ermittlungen des Chefanklägers Telford Taylor an unterschiedlichen Menschenversuchen und den Euthanasie-Morden beteiligt. Auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit lautete die Anklage. 13 Ärzten konnten verbrecherische Handlungen juristisch einwandfrei nachgewiesen werden, neben Brandt wurden noch sechs Mediziner zum Tode verurteilt.

Die Anklage- und Verteidigungsdokumente sowie die Wortprotokolle der 133 Prozeßtage schichten sich auf zu einem schier unbezwingbaren Papiergebirge von über 30 000 Seiten, das die Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts nun erstmals kartieren will. "Bis zum Sommer 1999", meint Mitherausgeber Karsten Linne optimistisch, "soll die Edition auf dem Schreibtisch des Verlegers liegen." Begleitet wird die Archivarbeit von einer Ringvorlesung zur Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus, die die Hamburger Stiftung zusammen mit der Landesärztekammer und dem Institut für medizinische Soziologie im kommenden Sommersemester durchführt.

Daß sich das ambitionierte Projekt der Forscher um Karsten Linne und Angelika Ebbinghaus ausgerechnet durch die Spendierfreudigkeit der Ärzteschaft trägt, bringt Linne zum Schmunzeln. "Natürlich profitieren wir da sozusagen von den biologischen Gesetzmäßigkeiten. Vor 50 Jahren hätte wahrscheinlich kein deutscher Arzt auch nur eine Mark locker gemacht für die Erforschung von Medizinverbrechen."

Tatsächlich wurde damals das Geld für ganz andere Zwecke investiert. So kaufte die ärztliche Standesvertretung in Westdeutschland die ersten 25 000 Exemplare des Buches "Das Diktat der Menschenverachtung" von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, das 1948 erstmals eine Auswahl von Prozeßdokumenten präsentierte, komplett auf. Allerdings nicht, um die Lektüre ihrer Klientel als Medikament gegen resistente Eugenik- und Euthanasie-Euphorie zu verabreichen, sondern um die erlesenen Stücke im Tresor zu lagern.

50 Jahre später wird die zünftige Selbstkritik offenbar nicht mehr als Nestbeschmutzung empfunden. Und so profitieren vom Aussterben der alten Elite die Medizinhistoriker, die nach der Aufbereitung des umfangreichen Materials beispielsweise die Planung und Ausführung der NS-Euthanasie und die Motive und Kompetenzen der Täter detaillierter untersuchen können. In den Prozeßakten finden sich unter anderem vollständig die Aussagen und das Schlußwort von Karl Brandt, jenes Arztes, dem Hitler die Aufsicht über die Euthanasie-Aktion anvertraute.

Nicht zufällig bildete der Fall eines behinderten Neugeborenen den Auftakt zu der sich mit Fortgang des Krieges ausweitenden Euthanasie-Praxis. Im Herbst 1938 tauchte in der Leipziger Universitäts-Kinderklinik ein Mann namens Knauer, Familienvater und SS-Mann, auf und bat den Direktor und Kinderarzt Werner Catel, er möge sein Kind einschläfern. Karl Brandts Aussage in Nürnberg zufolge "schien es idiotisch", außerdem fehlte ihm ein Bein und ein Teil eines Armes. Catel selbst war unschlüssig. Schließlich war die Euthanasie nach dem gültigen Weimarer Strafrecht verboten. Die Familie Knauer wandte sich darum direkt an Hitler. Dieser suchte nach einer unbürokratischen und zugleich verallgemeinerbaren Lösung des Präzedenzfalles, denn der Erlaß eines Euthanasie-Gesetzes schien nicht ratsam.

Eine Befragung von 200 Eltern geistig behinderter Kinder in Sachsen 1920 hatte ergeben, daß fast 75 Prozent eine informell betriebene Tötung ihrer Kinder akzeptieren würden. Dieses Ergebnis berücksichtigte die Parteispitze in ihren taktischen Erwägungen. So schickte Hitler seinen Leibarzt zunächst nach Leipzig. Brandt untersuchte das Kind, bestätigte die Diagnose der Ärzte und tötete es. Daraufhin wurde der 35jährige von Hitler beauftragt, ein Mordprogramm für körperlich oder geistig behinderte Kinder zu entwickeln. Hitlers Wusch war dem Technizisten Befehl. "Hier handelt es sich um einen der Fälle in der Medizin", brüstete sich der Manager der Mordaktion vor US-amerikanischen Vernehmern und meinte die gutgeölte Mordmaschinerie, "wo ein großer Sprung nach vorn erfolgte."

Zunächst wurde der "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden", schon 1937 gegründet, zu einem professionellen Tötungsunternehmen ausgebaut, das die Erfassung und Sortierung der behinderten Kinder organisierte. Ab 18. August 1939 galt dann die Meldepflicht für "mißgebildete Neugeborene". Meldepflichtige "Defekte" waren "Idiotie, Mongolismus, Mikrozephalie, Hydrozephalus, Lähmungen einschließlich Littlescher Krankheit" und Mißbildungen "aller Art", wie das "Fehlen ganzer Gliedmaßen" oder z.B. Spina bifida. Der "Reichsausschuß" fungierte als Meldestelle, die die Erfassung der überwiegend nicht in Anstaltspflege lebenden Kinder organisierte. Gutachter des "Reichsausschusses", Kinderärzte und Psychiater, entschieden über Leben und Tod der Kinder, indem sie - nach den vorliegenden Daten - diese entweder weiterer Beobachtung für wert hielten und auf dem Erfassungsbogen in dem dafür vorgesehenen Kästchen ein "Minus" eintrugen oder zur Tötung ("Plus") in eine der "Kinderfachabteilungen", die meist an allgemeine Heil- und Pflegeanstalten angeschlossen waren, einweisen ließen.

Mit wachsender Ressourcenknappheit während des Krieges wurde die Altersgrenze für die Euthanasie schrittweise heraufgesetzt. Anfangs töteten die Ärzte "unheilbar kranke" Kinder bis zum Alter von drei Jahren, dann Sechs-, Zwölf- und schließlich Siebzehnjährige. Bis zum Mai 1945 wurden auf diese Weise 6 000 bis 10 000 Kinder erfaßt, in Heime eingewiesen, selektiert und umgebracht. Dazu war man auf die Mitarbeit von Hebammen, Ärzten, Mitarbeitern der staatlichen Gesundheitsämter und nicht zuletzt der Eltern angewiesen - ein eindrucksvoller Beleg für die Verbreitung der eugenischen Ideologie, auf die sich der Staatsutilitarismus der NS-Euthanasie stützen konnte.

Den reibungslosen Einstieg in die "Kindereuthanasie" bewerteten die Nazis zu Recht als geglückten Probelauf für die Erwachsenen-Euthanasie, und so weitete sich das Mordprogramm schnell aus. Die US-amerikanische Anklage im Ärzteprozeß 1946 beschrieb dieses Euthanasieprogramm mit knappen Worten: "Das Programm bestand in der systematischen und geheimen Hinrichtung von Alten, Geistesgestörten, unheilbar Kranken oder mißgebildeten Kindern sowie anderen Personen in Pflegeheimen, Krankenhäusern und Anstalten mit Hilfe von Gas, tödlichen Injektionen und verschiedenen anderen Methoden."

Sechs große Tötungsanstalten, in denen allein bis 1941 über 70 000 Menschen ermordet wurden, standen in Deutschland und Österreich. Ab 1942 fanden die Behindertentötungen dezentral durch Giftspritzen oder gezieltes Verhungernlassen in vielen Heil- und Pflegeanstalten statt. Behinderte Kinder und senile Alte, behinderte Juden und "Mischlingskinder", Psychiatrisierte und Langzeitpatienten wurden bis zur Befreiung durch die alliierten Truppen systematisch in die Tötungsanstalten verschickt. Im bayerischen Kaufbeuren lief die Mordmaschine nach der Befreiung noch drei Wochen weiter - unbemerkt von der US-Army. Allein auf dem Gebiet des "Altreichs" sind auf diese Weise von 1939 bis 1945 etwa 250 000 Behinderte getötet worden.

Die gnädige Generalamnestie, die sich die deutsche Ärzteschaft in der Adenauer-Ära erschwieg und das Desinteresse der Öffentlichkeit führten dazu, daß das medizinische Denken in den Kategorien der "Minderwertigkeit" auch nach dem erzwungenen Euthanasie-Stopp virulent blieb. Werner Catel, jener Leipziger Kinderarzt und Gutachter der Kindereuthanasie, hatte bereits 1964 anläßlich eines Spiegel-Gesprächs wieder die Gelegenheit, mit einem Gruselkabinett von kindlichen "Monstren" und "Idioten mit einem riesigen Wasserkopf" für die Euthanasie zu werben. Karl Brandt bekam diese Gelegenheit nicht mehr. Dafür hatte das amerikanische Militärgericht gesorgt. Es lehnte alle Gnadengesuche ab und bewies obendrein Sinn für feine Ironie: Karl Brandt wurde am 2. Juni 1948 im bayerischen Landsberg am Lech in jenem Gefängnis gehängt, in dem sein Chef und Privatpatient 25 Jahre zuvor Muße zur Schriftstellerei gefunden hatte.

In der nächsten Ausgabe von Jungle World berichten wir über die gescheiterten Versuche, in der Bundesrepublik die an der NS-Euthanasie Beteiligten juristisch zu verfolgen.