27. Was bisher geschah

Fortgesetzte Erzählungen

Etzel von Horwitz, der seit 1931 in Halle an der Saale Agrarökonomie studiert, ist zwar bei der Saxonia aktiv, schlägt sich auch standesgemäß mit blanker Waffe, erweist sich nebenher jedoch als kleiner Liederjahn. Heitere Abende bei Madame Kiki und durchgezockte Nächte im schwarzen Korsar.

Einer, der ihn zum Glückspiel verleitet, ist ein gewisser Gil von Pufendorf (verarmter Kleinadel aus Xanten). Pufi ist Etzels Virgil im Venusberg des anhaltinischen Nachtlebens, ein gutaussehender Weiberheld, der auch Rat weiß, als Etzel ihm anvertraut, daß er eines Tages ein Rittergut erben werde.

Der Lebemann von Welt stellt dem Liederjahn vom Land einen stud.iur vom Niederrhein vor, den er aus Schulzeiten kennt, aus gutem Stall und der ganze Stolz seiner Ahnen.

Felix Reißmüller, so heißt der Goldesel, leidet darunter, daß er Paps vieles Geld nicht richtig verprassen kann. Er hat Manieren, ist gebildet, nicht unansehnlich, kleidet sich mit Geschmack, verfügt über die erforderliche Blasiertheit und das für einen Corpsstudenten unabdingbare Desinteresse an jeder Art von Politik, hat bisher jedoch nicht den richtigen Anschluß gefunden.

Nach zwei Semestern hat der Goldesel eine Menge Schuldscheine mit Etzels Unterschrift in der Kommode. Dafür ist er dessen Leibfuchs, verkehrt mit angehenden Krautjunkern und Zuckerrübenfabrikanten, lernt ihren albernen Comment auswendig (jeden Freitag vor der kleinen Wochenkneipe ist Fuchsenstunde) und das dazugehörende Liedgut, "Hie Saaleck, dort die Rudelburg und drunten tief im Tale ...", und darf sich, wenn er Glück hat, von einem echten Prinzen einen Schmiß durch die Backe ziehen lassen.

Auch Kukulau würde zu seinen Erinnerungen gehören, wenn er Pfingsten 1933 erlebt hätte.

Im Sommer 1932 werden Felix und Gil nach Hofacker eingeladen und reiten mit Etzel über die Felder. Oft dabei ist die kleine Baronesse Claire, die sich in den netten Jurastudenten verknallt, der so schön Rilke und Hölderlin rezitieren kann:

"Der Gott der Juden waltet noch über dir und mir. Herr, der Winter war sehr groß!"

In Max Klebes Dachstube hing ein Foto aus jener Zeit. Claire, Etzel, Gil und Felix hoch zu Roß parken vor dem Hotel Deutscher Kaiser und lassen sich ein Bier reichen. "Bleibe deiner Heimat treu, trinke Kropf Martini-Bräu". Frau Dippel hat ein Wickelkind im Arm. "Vermutlich der kleine Mozart", hat Klebe auf der Rückseite vermerkt, aber fragen Sie mich nicht, woher er wußte, daß die zwei Unbekannten auf dem Bild, das angeblich in Dippels Wirtshaus hing, bevor Klebe es dort entdeckte, Gil und Felix sind. Mehr, als daß der Liederjahn manchmal Freunde aus der Stadt zu Besuch hatte, konnte von den Alten keiner bestätigen, auch der alte Dippel nicht, der in den sechziger Jahren verstarb.

Darüber vergeht der 30. Januar 1933, und nun ist Schluß mit lustig. Felix Reißmüller wird enttarnt, demaskiert. Er ist ein mieser kleiner Betrüger und ein Schädling des Volkes.

Sein Vater ist tatsächlich stinkreich, hat sein Vermögen jedoch nicht standesgemäß durch die Ausbeutung von Tagelöhnern, sondern mit dem Einsammeln von Altpapier und Lumpen verdient, und ist, schlimmer noch, nach nazistischer Weltanschauung Jude. Assimiliert und getauft zwar, auch die Frau und der liebe Felix, aber allesamt Juden.

Das geht natürlich zu weit. Von solchen Elementen muß man sich hart abgrenzen. Nutzt aber nicht viel. Reißmüller ist zäher als man denkt. Irgendwann im Frühjahr 1933 steht er in Hofacker vor der Tür. Pufi hat er vorsichtshalber mitgebracht. Etzel reagiert besonnen und hört sich seine Vorschläge an. Felix will mit Claire ins Ausland, vielleicht nach Genf, dort heiraten und fertig studieren, und Etzel soll beim Alten die Erlaubnis dafür erwirken. Claire traut sich nicht, einfach abzuhaun. Das ist in solchen Kreisen nicht üblich.

Als Etzel bockt, droht Felix, dem Alten von Horwitz, Baron Immo, der mit dem Grützbeutel am Bauch, die Schuldscheine zu zeigen. Außerdem will er ausposaunen, Etzel habe von seinem mosaischen Geburtsfehler gewußt, als er sich bei der Saxonia für ihn verbürgt habe.

Etzel ist alarmiert. Eine miese Erpressung. Höchst schädlich für die berufliche Laufbahn, und der Alte ist völlig humorlos in solchen Dingen. Dieser saufreche Jude. "Kramuschke, gibt's noch Bier?"

Am nächsten Morgen erscheint Reißmüller nicht zum Frühstück, sein Zimmer ist leer, kein Gepäck, gar nichts, und Herr von Pufendorf lasse ausrichten, meint das Mädchen, er habe leider schon abreisen müssen.

Im Spätsommer findet Kramuschke, Chauffeur und Faktotum, in einer Feldscheune am Rande des Gutshofs eine Leiche. Sie hängt am Balken und ist von Wespen zerfressen. "Bis zur Unkenntlichkeit", heißt es in den Akten. Todesermittlungsverfahren ohne Ergebnis eingestellt. Der Tote war vermutlich ein Landstreicher oder Anstreicher, der Selbstmord begangen hat, denn in Hofacker wird niemand vermißt.

Ein Jahr später wird doch jemand vermißt, in Gral-Müritz, einem kleinen Ostseebad, in dessen Nähe heute so reizvolle Plattenghettos liegen wie in Rostock-Lichtenhagen und Lütten-Klein. Familie von Horwitz weilt dort in der Sommerfrische.

Nach einer Woche wird die Vermißte angeschwemmt. Es ist Claire, vermutlich beim Baden ertrunken.

Und nochmal fünfzehn Jahre später geht ein Mann in amerikanischer Uniform über den Gutshof, behauptet, er sei Colonel Ed Sommer, in Rückerstattungssachen tätig, lächelt, als Horwitz ihn sieht und setzt sich oben auf den Burgberg, wo Liebespaare die Hecken bevölkern und Jugendliche für die Olympiade trainieren.

Kramuschke, der wie zufällig daherkommt, erkennt ihn aber wieder. Es ist Gil. Sie plaudern über die alten Zeiten, und Pufi zeigt Kramuschke schon mal die Werkzeuge. Reißmüllers Bierzipfel, Claires Postkarte, den Ausriß aus der Hallischen Zeitung, das Geburtsregister von Xanten, einen Schuldschein, das Friedhofsregister von Hofacker.

Das müßte eigentlich ausreichen für ein neues Todesermittlungsverfahren: War der von Wespen zerfressene Tote vielleicht kein Landstreicher?

Horwitz hatte wirklich gute Aussichten, 1949 in den ersten Bundestag zu kommen und wurde ja auch gewählt. Das Handbuch des Parlaments weiß nichts davon, was seine Mitglieder in den Jahren 1933 bis 1945 politisch gemacht haben. Wenn nur nicht diese alten Fragen wären.

Was ist aus Reißmüller geworden? Was könnte der Erpresser und Glücksspieler von Pufendorf im April 1933 in Hofacker gesehen haben, und warum hat er sich vor seiner überstürzten Abreise in Reißmüllers Zimmer geschlichen und die erwähnten Beweisstücke mitgehen lassen?

Und knapp sechzig Jahre nach seinem Verschwinden fliegt ein Stein durch die Luft, wo doch bisher die Luft recht sauber war, und tötet den Mann, der das alles rausgekriegt hat: Max Klebe.

Muß ich mir nun einen Sturzhelm aufsetzen, wenn ich demnächst vielleicht mal nach Hofacker fahre, um meine alte Jugendfreundin Ida zu besuchen und zur Enthüllung einer Gedenktafel für ihren Mann eine kleine Rede zu halten?

Aber muß der jetzige Baron von Horwitz überhaupt noch fürchten, daß sich jemand für die alten Stories interessiert?

Erfahren Sie im zweiten Teil dieses spannenden Heimatromans, wie es Etzel von Horwitz und seinem willfährigen Gehilfen Albert Kramuschke, genannt Quasimodo, gelang, sich der irdischen Gerechtigkeit zu entziehen.

Nächste Woche: "Friede ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln"